Gisela M. Freyler

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Impressum:

© 2014 Verlag Kern

Autorin: Gisela M. Freyler

© Inhaltliche Rechte bei der Autorin

Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

Titelfoto: © Pojoslaw | Dreamstime.com

Lektorat: Manfred Enderle

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783957160164

ISBN E-Book: 9783957160638

www.verlag-kern.de

Widmung

Meinen beiden Söhnen gewidmet, die, wie ich, durch meinen seelischen Ausnahmezustand viel erleiden mussten, ich ihnen nie die Mutter sein konnte, die ich hätte sein müssen oder können, wäre ich seelisch gesund gewesen.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Gefühlschaos

Ebenfalls im Verlag-Kern erschienen

Ich bin 4 Jahre alt und fühle großen Frieden in meinem kleinen Körper und der noch jungen Seele. Das Vertrauen zu meiner Umwelt ist noch riesengroß. Ich fühle mich geborgen. Alles ist in bester Ordnung, nichts kann mir passieren.

Es gibt Mittagessen und wie so oft will ich auch an diesem Tag nicht den Teller leer essen, weil ich mich satt fühle. Dann höre ich die warme Stimme meines Vaters und spüre seine zärtliche Hand auf meinem Bauch. „Der Bauch ist aber noch nicht voll, da passt noch viel, viel mehr hinein“, höre ich ihn sagen. Ich überwinde mich und nehme noch zwei oder drei Bissen, ich will ja ein braves Mädchen sein. Es fällt mir auch nicht schwer, denn ich habe großes Vertrauen zu meinen Eltern. Ich habe sie sehr lieb.

Ich wohne mit meinen Eltern und meinem ein Jahr älteren Bruder in einer kleinen, bescheidenen, aber für mich behaglichen Dachgeschosswohnung im Haus meines Großvaters. Meine Großmutter starb, als ich 9 Monate alt war, deshalb habe ich keine Erinnerung an sie.

Es ist ein Anwesen mit zwei nebeneinander stehenden Häusern. In dem älteren davon, dem Elternhaus meiner Mutter, wohnen wir. Unter uns wohnt mein Onkel Franz, der Bruder meiner Mutter, mit seiner Familie. Seine Frau ist Kriegswitwe und brachte drei Kinder mit in die Ehe, die alle im Teenageralter sind. Später bekommen sie noch zwei gemeinsame Kinder. Nur, zu diesem Zeitpunkt bin ich noch viel zu klein, um davon etwas mitzubekommen.

Eines Morgens tollte ich mit meinem Vater ganz ausgelassen im Bett herum. Ich genoss es und war kaum zu bremsen. Ich liebte meinen Papa über alles auf der Welt und fühlte mich bei ihm wunderbar geborgen. Meine Seele machte große Sprünge, so sehr genoss ich es.

Dann kam der Moment, in dem ich in seiner Nachtkommode wunderschöne, bunte Lutschbonbons entdeckte, von denen ich unbedingt eines naschen wollte. „Nein, das kannst du nicht essen, das sind Tabletten und die darf man nur zu sich nehmen, wenn man krank ist.“ Ich ließ ihm keine Ruhe mehr, nervte ihn so lange, bis ich eines davon abbekam. Dabei ermahnte er mich: „Aber wirklich nur die eine.“

Sie war süß und herrlich rot, und schon war ich fürs Erste glücklich. Wir tollten weiter im Bett herum. Dabei verstand ich es immer und immer wieder, mir noch eine und noch eine dieser bunten Dragees zu erhaschen, bis sie alle weg waren. Dann endlich war ich zufrieden. Es gelang mir stets, meinen Papa immer wieder aufs Neue auszutricksen.

Die Wirkung der Tabletten ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Nach einer gewissen Zeit wurde mir immer übler. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Die Lebhaftigkeit, mit der ich bisher im Bett herumtollte, ließ mehr und mehr nach.

Mein Vater verstand die Welt nicht mehr. Er war außer sich vor Sorge. Eine solche Wirkung, von nur einer Tablette, konnte er sich nicht vorstellen. Er war ratlos und voller Schuldgefühle. Meine Mutter, die in der Küche arbeitete, kam ebenfalls aufgeregt und sorgenvoll dazu.

Mir wurde immer übler und dieser üble Zustand hielt so lange an, bis endlich die Erlösung kam. Ich musste mich erbrechen und staunte über so viel Inhalt in meinem Bauch. Eine riesengroße rote Masse, die sich auf der weißen Bettdecke immer weiter ausbreitete.

Während mein Vater noch immer ratlos darüber war, dass eine einzige Tablette eine solche Wirkung haben kann, bemerkte er schließlich, dass ich sie alle aufgegessen hatte. Dann folgte die erste Schelte in meiner bis dahin problemlosen Kindheit durch meine Eltern.

Langsam und schleichend kam die Zeit, für uns Kinder nichtsahnend, dass es zwischen unseren Eltern kriselte. Immer öfters stritten sie sich. Welche Bedeutung und welche Konsequenzen das einmal für uns Kinder hat, konnten wir natürlich nicht erahnen. Für mich sollte es sogar noch schlimmer kommen.

Neben uns, im zweiten Haus, wohnte mein Großvater mit seiner zweiten Frau, die ebenfalls Kriegswitwe war. Im Obergeschoss wohnte die Schwester von Opa, die im Bett lag und krank und schon sehr schwach war. Stets lag sie im Bett, wenn ich sie mit meiner Mutter besuchte. Dabei fand sie mich immer sehr niedlich und beschenkte mich mit Spielsachen.

Die Fenster unserer Wohnungen lagen sich direkt gegenüber. Dabei freute sie sich immer, wenn sie mich durchs Fenster erblickte und mir die Spielsachen, die sie mir schenkte, so viel Freude machten.

Leider wurde ihr Gesundheitszustand immer schlechter. Trotzdem hörte ich den Großvater in ihrem Zimmer wiederholt herumschreien. Ich verstand nicht, warum er so gar kein Mitleid mit ihr hatte? Das machte mir Angst. Opa hörte sich immer sehr laut und böse an. Ich gab mir Mühe, nicht hinzuhören.

Eines Tages sagte meine Mutter: „Die Tante ist gestorben und es ist kein Wunder, weil Opa bisher keine Gelegenheit ausließ, seiner Schwester das Leben schwer zu machen. Jetzt ist sie endlich erlöst.“

Ich war ungefähr dreieinhalb oder vier Jahre alt, lag im Bett und wurde wach, als ich meine Mutter in der Küche herumhantieren hörte. Neugierig stand ich auf, um in der Küche nachzusehen. Schlaftrunken, wie in Trance, lief ich zu ihr hin, um zu sehen, was sie so spät in der Nacht noch machte.

Dabei beobachtete ich, wie sie eine Kanne mit heißem Wasser befüllte. In dem Augenblick, als sie sich umdrehte, nahm ich die heiße Kanne und zog sie an mich heran, um daraus zu trinken. Obwohl ich gerade mal bis zur Tischkante reichte, gelang mir dies anscheinend problemlos.

Später wusste ich nur noch, dass es sehr heiß war, als ich die Kanne wieder zurückstellte. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.

Viel später erfuhr ich dann, welch ein Drama sich in der folgenden Nacht für meine Eltern noch abspielte und der Notarzt kommen musste. Ich drohte zu ersticken.

Noch immer war ich ahnungslos und wähnte mich in grenzenloser Obhut durch meine Eltern, obwohl sie sich immer öfters und lauter stritten. Auch kam es vor, dass unser Vater über Nacht wegblieb und unsere Mutter ihm deshalb große Vorwürfe machte.

Einmal bekam ich mit, wie sie seine Kleider in einem Schrank, der im Flur stand, versteckte, während er sich fürs Ausgehen zurechtmachte. Dem folgte dann ein gewaltiges Donnerwetter. Papa tobte, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Jedenfalls hatte ich kein gutes Gefühl dabei, als sie sich so anschrien. Noch heute erinnere ich mich an die hellgrauen Schuhe und den grauen Anzug. Allmählich kehrte für die nächsten Tage wieder etwas Ruhe ein.

Ich bekam eine Puppe geschenkt und war überglücklich. Ich bettelte bei meiner Mutter, dass sie mir für die Puppe ein schönes Kleidchen stricken soll, damit sie sich nicht mehr so nackt und kalt anfühlte. Mit diesem Wunsch lag ich ihr so lange in den Ohren, bis sie mir versprach, diesen Wunsch zu erfüllen. Erst dann konnte ich anstandslos und zufrieden in mein Bett gehen.

Am nächsten Morgen traute ich meinen Augen kaum. Welch große Überraschung. Meine Puppe saß vollkommen angekleidet auf dem Sofa. Hatte meine Mama noch am Abend damit angefangen zu stricken?! Sogar eine Mütze und Söckchen hatte sie gestrickt. Ich war überglücklich und liebte meine Mama in diesem Augenblick über alles.

Es kam die Zeit, in der ich in den Kindergarten musste und sehr unglücklich darüber war. Auf gar keinen Fall wollte ich mich von meiner Mutter trennen und sträubte mich vehement dagegen. Leider konnte mich nichts und niemand davor bewahren. Meine Mutter fuhr mich täglich mit dem Fahrrad zum Kindergarten und solange wir unterwegs waren machte ich ein Theater. Erst als sie mich wieder abholte, beruhigte ich mich.

Nach einigen Tagen gewöhnte ich mich daran. Bisher wurde ich ja immer wieder abgeholt. Das hatte mich beruhigt und mit der Zeit gefiel es mir sogar im Kindergarten. Es machte mir Freude, im Sand und mit den anderen Kindern zu spielen. Was mir keinen Spaß machte, war der Mittagsschlaf, den wir täglich machen mussten.

Wir Kinder saßen bei unserer Mutter auf dem Fahrrad. Sie fuhr mit uns zu einer Versammlung der Zeugen Jehovas, ihrer selbst gewählten Religion, die ihr sehr wichtig war. Mehr als wir Kinder zu dieser Zeit ahnen konnten.

Zum Beispiel hinterließ sie unserem Vater eine schriftliche Nachricht, wo sie mit uns Kindern ist, wenn er von seiner Arbeit nach Hause kam. Irgendwo auf der Strecke fuhr er uns auf seinem Motorrad einmal nach. Nach einem heftigen Wortwechsel fuhr er schließlich wieder zurück und wir unserem Ziel entgegen.

Dann kam die Zeit, in der wir unsere Mutter nur noch heulend herumlaufen sahen. Sie war kaum ansprechbar, irgendwie abwesend. Die Situation fühlte sich bedrohlich für mich an. Ich war vollkommen irritiert. Niemand erklärte uns irgendetwas.

Mit der Zeit bekamen wir Kinder dann mit, dass Papa uns verlassen hat, dass er nicht mehr bei uns wohnt. Ich fühlte mich ebenfalls sehr traurig. Alles war auf einmal nicht mehr so, wie es einmal war – meine kleine, heile Welt ist zusammengebrochen. Eine bedrückende Stimmung machte sich breit.

Ich fühlte mich ebenso verlassen, mich, sein Mädchen, das er immer sehr verniedlichte. Sein kleines Hexchen, „mein kleines Hühnchen“, wie er mich immer nannte. Seine Liebe und Zärtlichkeit schien riesengroß, und dafür liebte ich ihn sehr.

Nun vermisste ich meinen Vater mit jedem Tag mehr, hoffte und wartete Tag für Tag, dass er doch wiederkommen soll, oder wenigstens einmal nach mir schaut und uns besucht. Meine Sehnsucht nach ihm wuchs mit jedem Tag. Ich fühlte mich einfach abgelehnt.

Alles, was ich während dieser Zeit wahrnahm, war meine weinende Mutter. Ich hatte großes Mitleid mit ihr und fühlte mich ihr sehr verbunden. Obwohl es mir nicht besser ging, versuchte ich sie zu trösten. Sie war kaum ansprechbar, für nichts mehr zugänglich. Alles, was ich von ihr zu hören bekam, war, dass er uns verlassen hat. Hilflos stand ich neben ihr, inmitten dieser bedrückenden Enge, die mir große Angst machte.

Eines Tages hieß es, der Papa kommt uns besuchen. Wir Kinder waren voller Freude und voller Erwartung und konnten es kaum erwarten. Die Enttäuschung war groß, denn leider kam er nicht. Auch nicht an einem der nächsten Tage. Mein Bruder und ich waren sehr traurig und enttäuscht.

Dann eines Tages hieß es wieder, dass der Papa kommt. Wir waren uns sicher, dass er dieses Mal kommt und liefen ihm voller Vorfreude entgegen. Wir waren ungefähr einen Kilometer vom Dorf entfernt, als wir von Gundi (Friedas Tochter) wieder zurückgeholt wurden. Von unserem Vater war weit und breit nichts zu sehen. Enttäuscht gingen wir wieder zurück.

Während uns Gundi auf das Fahrrad setzte, rannte uns aus der Ferne ein fremder Mann entgegen und winkte uns, dass wir stehen bleiben sollen. Ich bekam große Angst vor dem fremden Mann und war froh, als Gundi mit uns endlich zurückfuhr. Noch heute erinnere mich angstvoll daran.

Als uns die Sehnsucht nach ihm zu einem späteren Zeitpunkt erneut packte, entschlossen wir uns, ihn zu besuchen. Mein Bruder kannte den Weg. Es war eisig kalt und wir machten uns zu Fuß auf den Weg in das 6 Kilometer entfernte Nachbardorf. Als wir endlich, nach langer Zeit, vor dem Haus standen, in dem er wohnte, waren wir total durchgefroren. Er traute seinen Augen kaum, als wir vor der Tür standen. In der Wohnung wärmte er uns auf und rieb uns die Füße warm. Er war total besorgt. Auch machte er uns klar, dass wir das nie wieder tun sollten. Es wäre zu gefährlich.

Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde Angst zu meinem ständigen Begleiter. Ich begann jegliches Vertrauen zu verlieren, obwohl ich zu dieser Zeit noch recht wenig negative Erfahrungen machen musste. Bis auf die Trennung der Eltern. Noch hatte ich ja meine geliebte Mama. Das war die Hauptsache.

Schmerzvoll musste ich mehr und mehr erkennen, dass ich meinem geliebten Vater angeblich nichts mehr bedeutete. Ich war ihm total gleichgültig geworden. Er hat nicht nur meine Mutter verlassen, sondern auch uns Kinder, mich, sein kleines Hühnchen.

Bis heute kann ich es nicht vergessen, dass wir mit seinem Weggehen nicht mehr für ihn existierten. Niemals erkundigte er sich nach uns, wie es uns geht, was wir machen usw. Wir bekamen keine Geschenke, weder zum Geburtstag, noch zu einem anderen Anlass. Nicht einmal eine Karte. Nichts. So, als gäbe es uns überhaupt nicht, er hat uns einfach aus seinem Leben gestrichen.

Er hatte während der Ehe mit meiner Mutter eine andere Frau kennengelernt, derentwegen er sich dann hatte scheiden lassen. Sie war viele Jahre jünger als er und kam aus der Großstadt Cottbus (in der früheren DDR). Sie hieß Marianne. Für sie gab er seine Familie, die ihn so sehr liebte, einfach so mir nichts dir nichts auf. Er hat uns ganz einfach aus seinem Leben ausgeschlossen. Mein Vater schien total verrückt nach ihr zu sein. Jedenfalls kam er nicht mehr von ihr los. Kurz nach der Scheidung hat er diese Marianne geheiratet und wenig später bekamen sie schon ihr erstes Kind.

Der Alltag ohne meinen geliebten Vater nahm seinen verhängnisvollen Lauf. Ich gewöhnte mich irgendwie daran. Meine Mutter musste zwangsläufig wieder in der Fabrik arbeiten und huldigte immer noch eifrig den Zeugen Jehovas. Alljährlich gab es einen Kongress, dem jeder gute Zeuge Jehovas beizuwohnen hatte.

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich nach Nürnberg mit durfte und ungefähr fünf Jahre alt war. Für meinen Bruder und mich war es ein wahres Abenteuer. Wir wohnten in einem riesigen Zelt, in dem noch viele andere Gläubige mit ihren Familien untergebracht waren. Alles war neu für mich, alle trüben Gedanken an meinen geliebten Vater, den ich nach wie vor schmerzlich vermisste, waren zumindest in dieser kurzen Zeit weg.

So viele Menschen hatte ich bis zu dieser Zeit noch nicht gesehen. Es war gigantisch, alles war unendlich groß und weit, meine Neugierde war kaum zu bremsen.

Wir begegneten Frieda, die ebenfalls eine Gläubige der Zeugen Jehovas war, inmitten einer Traube von Menschen. Ich drehte mich nur kurz um, wandte meine Blicke in eine andere Richtung und musste entsetzt feststellen, dass ich jetzt alleine da stand. Meine Mutter, mein Bruder und ich, wir hatten uns in dem Gewimmel von Menschen aus den Augen verloren. Ich war verzweifelt, weinte bitterlich und rief nach meiner Mama. Ich hatte entsetzliche Angst, dass ich nun auch meine Mutter für immer verloren hatte.

Nach kurzer Zeit wurde ich von einer freundlichen Dame angesprochen. Sie wollte wissen, wem ich gehöre und wie ich heiße. Ich heulte unaufhörlich und rief nach meiner Mutter. Die Frau nahm mich dann in ein anderes, ebenfalls großes Zelt mit. Ich war verzweifelt und hatte das sichere Gefühl, dass ich meine Mutter und meinen Bruder nie mehr wiedersehen würde.

Die Frau fragte mich immer wieder allerlei Dinge – nach meinem Namen, wie meine Mutter heißt, woher wir kommen und wo wir momentan wohnten. Nach langem Hin und Her fragte sie mich schließlich nach der Nummer unseres Zeltes, die ich ihr schließlich beantworten konnte. „Es sind zwei Vierer.“

Welche Erleichterung. Sie überbrachte mich meiner Mutter. Ich war überglücklich und vermied es, mich aus Ihrem Umfeld jemals wieder weiter zu entfernen. Zu tief saß bei mir diese Erinnerung und dem damit verbundenen Schrecken.

Mittlerweile war ich sechs Jahre alt und sollte eingeschult werden. Ich war sehr wissbegierig und freute mich auf die Schule wie die meisten Kinder, wollte alles lernen und auch bald können. Eifrig habe ich die Uhr lesen gelernt, war mächtig stolz auf meine kleinen Erfolge.

Leider kam es anders. Meine Mutter eröffnete mir, dass ich für ein Jahr von zu Hause weg musste. Ich würde stattdessen bei einer mir unbekannten Pflegefamilie wohnen, die sich meiner annimmt und in einem Nachbarort wohnt.

Meine Mutter musste in einer Fabrik arbeiten, hatte niemanden, der auf uns Kinder aufgepasst hätte. Mein Bruder sollte demnach tagsüber zu unseren Großeltern (väterlicherseits) und nach Feierabend würde sie ihn wieder abholen.

Ich war verzweifelt und weinte bitterlich. Es war mir nicht möglich, das alles zu begreifen und ich hoffte, dass es noch etwas gibt, das mir dieses Schicksal ersparen möge.

Ich wurde immer stiller, zog mich mehr und mehr in meine eigene kleine Welt zurück. Alle Fröhlichkeit wich von mir, ich hatte keinen Grund mehr zum Lachen.

Dann kam der Tag, an dem ich meinen Vater wiedersehen sollte. Eine Cousine heiratete und hatte mich und meinen Bruder dazu eingeladen. Dabei sollte ich meinen Vater nach längerer Zeit endlich wiedersehen.

Er war mir sehr fremd geworden und alleine war er auch nicht. Seine kleine Tochter, die er mit der neuen Frau hatte, war auch dabei. Ich hatte das Gefühl, dass er ein fremder Mann ist, er machte keinerlei Anstalten, von einer herzlichen Begrüßung ganz zu schweigen. War das einmal mein lieber Papa, der mich immer liebevoll streichelte und mit mir herumtollte? Zu gerne hätte ich mich in seine Arme geworfen. Stattdessen musste ich mit ansehen, wie sich sein neues Töchterchen immer wieder an ihn schmiegte und seinen Schutz suchte und er es liebevoll immer wieder umarmte.

Der Tag, dem ich angstvoll entgegenfieberte, kam. Meine Mutter brachte mich jetzt zu meinen Pflegeeltern, die ich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal sah. Ich fühlte mich sehr fremd, mir war klamm ums Herz, als würde mir jemand meinen Bauch einschnüren. Ich fühlte mich hilflos und ohnmächtig, verlassen von allen und allem, was mir bisher vertraut war. Ich war traurig und böse zugleich.

Als meine Mutter schließlich ohne mich wieder ging, versprach sie mir, dass sie so schnell und so oft es ihr möglich war, mich besuchen kommt. Mir erschien die Zeit jedenfalls immer endlos lange.

Die fremde Tante und der fremde Onkel waren nett und die Tante brachte mich später schließlich in mein Bett. Das Bett stand nicht in einem Zimmer, sondern im offenen Flur des oberen Stockwerks. Kraft- und mutlos, tieftraurig, stieg ich das hohe Bett hinauf, in dem ich nun für längere Zeit schlafen sollte. Ich sehnte mich nach meinem Zuhause, meiner Mutter, meinem Bruder, nach meinem Vater, den ich ab jetzt noch schmerzlicher vermisste und ich weinte mich in einen erlösenden Schlaf.

Obwohl sich meine Pflegeeltern stets bemühten und nett zu mir waren, zu Hause fühlte ich mich nicht eine Stunde. Alles war und blieb mir fremd. Ich hatte schreckliches Heimweh. Sehnsüchtig dachte ich an meine Familie und hoffte an jedem Wochenende, dass mich hoffentlich meine Mama besuchen kommt. Mir kam die Zeit endlos vor und ich wartete enttäuscht von Woche zu Woche. Ich hatte entsetzliche Angst, dass mich meine Mutter vergisst und sich eines Tages auch nicht mehr meldet.

In meinem grenzenlosen Kummer machte ich Nacht für Nacht ins Bett. Ich wurde zur Bettnässerin. Ich schämte mich vor der Tante ganz schrecklich, fand keine Erklärung dafür, konnte mich auch nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ins Bett gemacht hatte.

Die Tante hat mich zwar nie dafür bestraft, jedoch immer vor sich hin geschimpft und vorwurfsvolle Andeutungen gemacht. Es machte mir mehr und mehr Schuldgefühle und ich wäre am liebsten jeden Morgen vor Scham im Boden versunken.

Als es nach mehreren Tagen noch kein Ende nehmen wollte, hatte sie mir schließlich eine Gummieinlage ins Bett getan. Obwohl ich zu dieser Zeit noch so klein war, fühlte ich mich sehr gedemütigt. Meine Scham war grenzenlos.

Nach schier endloser Zeit kündigte meine Mutter endlich ihren Besuch an. Ich freute mich riesig und konnte es kaum erwarten, meine Mama wiederzusehen.

Bereits Stunden vorher, saß ich ordentlich zurecht gemacht auf der Außentreppe, um sehnsuchtsvoll darauf zu warten – dass sie endlich durch das Tor hereinkommt. Ich lauschte nach jedem Geräusch vor dem Hoftor und wurde von Minute zu Minute mutloser. Meine Angst, dass sie nicht kommt, wurde immer größer.

Dann endlich kam sie durch das Tor. „Mama! Mama“, ich rannte ihr schreiend entgegen, meine Freude war grenzenlos, ich war überglücklich. Ich klammerte mich an sie und wollte sie nie mehr loslassen.

Sie hatte mir kleine Geschenke mitgebracht, über die ich mich riesig freute, sie bedeuteten etwas ganz Besonderes für mich. Darunter waren auch rote Lackschuhe, die mir besonders gut gefielen. Die stellte ich stets auf meinen Nachttisch, damit sie mich immer an sie erinnern sollten. Voller Stolz trug ich sie nur an den Sonntagen oder zu einem wirklich besonderen Anlass, damit sie ja geschont blieben.

Peinlich folgte ich der Unterredung zwischen ihr und der Tante. Unter anderem, dass ich jede Nacht ins Bett mache. Meine Mutter hatte keine Erklärung dafür. Meine Scham – auch meiner Mutter gegenüber – war grenzenlos und ich wünschte mir, dass dieses peinliche Missgeschick bald vorbei sein würde.

Zu den Pflegeeltern gehörte noch eine Tochter (Monika), die im Teenageralter war, bereits nicht mehr zur Schule ging und im Nachbarort in einem Geschäftshaushalt als Hausmädchen Dienst tat. Sie hatte bei den Dienstherren ein Zimmer und kam nur ab und zu nach Hause.

Diese Tochter war für meine damaligen Begriffe schon recht erwachsen und hatte mit mir nicht viel am Hut.

Monika hatte ein schönes Zimmer für sich alleine. Auf ihrem Bett hatte sie alle ihre Puppen und Teddys, die sie besaß, ausgebreitet. Darunter war auch ein alter, bereits sehr vergriffener, aber weicher Teddybär, der es mir besonders angetan hatte.

Monika erlaubte mir, mit diesem Teddy zu spielen. Ich habe ihn mir zu meinem engsten Freund gemacht. Mit dem weichen, anschmiegsamen Teddy im Arm fühlte ich mich nicht mehr so einsam und konnte jetzt ein wenig getröstet sein.

Die Tante und der Onkel waren außer Haus, um Besorgungen zu machen. An diesem Tag war ich mit Monika alleine zu Hause. Sie spielte mit mir, wir alberten durch das ganze Haus, rauf und runter. Ich war sehr ausgelassen und konnte so für kurze Zeit mein trauriges Los vergessen. Auch freute ich mich, dass Monika das erste Mal mit mir spielte.

Übermütig rannte sie in das Obergeschoss, ich hinterher, bis sie im Schlafzimmer ihrer Eltern verschwand und die Tür hinter sich verschloss. Wartend stand ich davor und hämmerte gegen die Tür, aus der sie einfach nicht mehr herauskommen wollte, was mir große Angst machte. Die plötzliche Stille in dem großen, fremden Haus konnte ich kaum ertragen.

Während ich wie wild an die Tür klopfte, damit sie doch endlich wieder herauskommt, ging die Tür endlich auf. Oh Schreck, ich starrte entsetzt in eine mir fremde Fratze. Monika stand als Nikolaus verkleidet vor mir und sprach mich mit tiefer, lauter Stimme an.

Geschockt rannte ich die Treppe hinunter in den Hof, als ob der Teufel hinter mir her wäre und schrie entsetzlich. Diesen Schock und die dabei tief empfundene Angst konnte ich lange nicht vergessen; sie sitzt mir noch heute im Nacken.

Obwohl ich bis zu diesem Tag noch nie mit einem Nikolaus Bekanntschaft gemacht hatte, bei den Zeugen Jehovas gibt es so etwas nicht, wusste ich vom Hörensagen doch, was er zu bedeuten hatte. Aus Erzählungen ist mir der Nikolaus als ein Angst machendes, unberechenbares und strafendes Ungeheuer bekannt. Ich hatte entsetzliche Angst vor ihm.

Dieser Schock saß sehr tief. Und zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, was meine kleine, geschundene Seele noch alles aushalten sollte.

Es brauchte viele Tage, bis ich mich von diesem Schreck endlich wieder erholt hatte und ich blieb auf der Hut, damit Monika mir nicht noch einmal so etwas Schreckliches antat. Mein Misstrauen ihr gegenüber war erwacht. Nie wieder habe ich mich ihr unbeschwert anvertrauen können. Dieses Erlebnis konnte ich niemals vergessen.

Das Jahr bei den Pflegeeltern verging nur sehr langsam. Während der Onkel zur Arbeit ging, nahm mich die Tante mit auf das Feld oder in den Garten. Mir war immer sehr langweilig. Immerzu dachte ich an zu Hause, an meine Familie und vor allem daran, wann mich meine Mutter endlich wieder nach Hause holte.

Die Tante war eine nette, aber auch eine kalte Frau. Für Gefühle war nicht viel Platz. Eines Tages brachte sie Tauben mit nach Hause. Noch nie hatte ich eine Taube aus dieser kurzen Entfernung gesehen und ich betrachtete sie erstaunt. Warum sie diese Tauben mitgebracht habe, wollte ich wissen. „Die gibt’s zum Mittagessen“, sagte sie. Ich war der Meinung, dass sie mich veräppeln will.

Sie nahm eine Taube in ihre Hände und schneller als ich wegschauen konnte, hatte sie der Taube den Hals auch schon umgedreht und den Kopf weggerissen. Den übrigen Tauben erging es ebenso. Ich fühlte mich angewidert und rannte entsetzt ins Haus. Es war einfach unfassbar, dass man so etwas überhaupt tun konnte. Noch dazu die Tante, die ich bis dahin trotz allem mochte. Ich war aufs Neue geschockt und konnte von da an die Tante nur noch mit anderen Augen ansehen. Sie wurde mir immer fremder.

Ein weiteres Erlebnis mit der Tante, das ich ebenfalls nicht vergessen sollte, folgte: Aus Unachtsamkeit streifte ich einen Strauch Brennnesseln. Die Schmerzen brachten mich zum Weinen. Meine Arme brannten höllisch und die Tante befahl mir mit strengem Ton, endlich still zu sein. Als ich mich jedoch nicht beruhigen wollte, verlor sie ihre Beherrschung und warf mich kurzerhand in das Brennnesselfeld. Nun meinte sie: „Jetzt hast du Grund zum Weinen.“

Ich zog mich innerlich mehr und mehr von ihr zurück und wandte mich jetzt lieber mehr dem Onkel zu. Er war ein etwas wortkarger, aber ein sehr freundlicher Mann. Auf mich machte er einen gütigen Eindruck. Ich mochte ihn von Anfang an eigentlich mehr als die Tante, hatte andererseits jedoch Respekt vor ihm – nur schade, dass er so wenig zu Hause war. Wenn er da war, war er entweder im Haus oder im Garten beschäftigt.

In seiner Freizeit hielt er sich auch gerne in der Wirtschaft auf. Da mein Bett im Flur, direkt vor dem Schlafzimmer stand, blieb es mir nicht verborgen, wenn er nachts betrunken die Treppe hochstolperte und dann von der Tante schimpfend in Empfang genommen wurde.

Während des kalten Winters wurde ich im Schlafzimmer, hinter dem Kleiderschrank, einer kleinen Nische unter der Dachschräge, einquartiert. Es war sehr dunkel und die Luft war recht stickig.

Wiederholt hörte ich nachts immer wieder die Tante schimpfen: „Du Trunkenbold, musst Du immer so viel saufen. Du bist schon wieder besoffen“ usw. Oftmals hat sich der Onkel erbrochen. Während die Tante dann alles wieder sauber machte, schimpfte sie endlos vor sich hin. Akustisch bekam ich alles mit. Aber all die fremden, unbekannten Geräusche machten mir Angst hinter dem Schrank und brachten meine Gefühle ganz durcheinander. Angstvoll hielt ich durch.

Ostern stand vor der Tür. Der Onkel ging in den Stall und holte einen Stallhasen aus seinem Stall und setzte ihn auf den Boden. Ich bückte mich und streichelte sein weiches Fell. „Was machst Du mit dem Stock, warum hast Du den Hasen aus dem Stall genommen?“

„Der wird jetzt geschlachtet.“

Ich konnte es nicht glauben und rannte so schnell ich konnte hinaus. Mein Protest half dem Hasen leider nichts. Kaum draußen, hörte ich auch schon diesen dumpfen Schlag. Erneut musste ich feststellen, dass die Erwachsenen immer so schreckliche Dinge tun.

Von da an sah ich auch den Onkel mit anderen Augen an und wandte mich innerlich ebenfalls von ihm ab.

Nach schier endloser Zeit kam endlich der Tag, an dem mich meine Mutter wieder nach Hause holte. Ich sehnte diesen Tag so sehr herbei, war wieder zufrieden und überglücklich, endlich hatte ich meine Mama wieder.

Zu Hause mache ich nicht mehr ins Bett. Ich fühlte mich zunehmend wieder wohler und erleichtert. Jetzt sollte ich endlich in die Schule dürfen. Ich war stolz, voller Eifer, ich konnte es kaum erwarten.

Durch unsere Religionszugehörigkeit bei den Zeugen Jehovas gab es bei uns weder Weihnachten noch ein Weihnachtsgeschenk. Auch Geburtstage wurden nicht gefeiert. Umso mehr freute ich mich mit meinem Bruder, dass wir von der Firma, in der meine Mutter arbeitete, zu einer Nikolausfeier eingeladen wurden. Ich konnte mir so gar keinen Reim darauf machen, was uns da erwarten sollte, ich war sehr aufgeregt. Wieder war alles so fremd.

Unsere Mutter nahm uns immer zu den Treffen der Zeugen Jehovas, der sogenannten Versammlung, mit. Es war jeder Gläubige dieser Gemeinschaft mehr oder weniger verpflichtet, daran teilzunehmen. Hinter uns saß ein netter, freundlicher Mann. Wann immer ich mich umdrehte, machte er Faxen und Grimassen. Ich fand ihn sehr lustig und drehte mich immer wieder nach ihm um. Meiner Mutter flüsterte ich leise ins Ohr, um sie darauf aufmerksam zu machen, worauf sie sich ebenfalls umdrehte und dabei freundlich zurücklachte. Sie ermahnte mich, nach vorne zu sehen und nicht immer zurückzuschauen, sondern zuzuhören, was der Mann am Pult sprach.

Eines Tages bekamen wir Besuch. Es war der nette freundliche Mann (Franz) aus der hinteren Reihe. Er war in Begleitung einer mir ebenfalls fremden Frau, seiner Schwester (Hanne). Beide waren sehr freundlich, es wurde ein lustiger Tag. Als sie sich später wieder verabschiedeten, meinten sie freundlich, dass sie uns bald wieder besuchen wollten.

Nach den zwei oder drei Besuchen mit seiner Schwester kam dieser Franz immer öfters und stets alleine. Wir gewöhnten uns immer mehr an ihn, wir freuten uns sogar darauf, wenn er wieder kam. Er unterhielt sich freundlich mit unserer Mutter, die es immer sehr genoss. Auch zeigte er großes Interesse an uns Kindern. Wir durften ihm beide auf dem Schoß sitzen. Wir mochten ihn sehr.

Es dauerte nicht lange und dieser nette Franz wurde uns als unser zukünftiger Papa vorgestellt, der bald unsere Mama heiraten will, um danach für immer bei uns zu bleiben.

Wir Kinder waren vor Freude total aus dem Häuschen. Wir waren über den zukünftigen Familienzuwachs ebenso glücklich wie unsere Mutter. Franz war immer so nett zu uns, auch sehr lustig konnte er sein. Wir Kinder waren mit ihm mehr als einverstanden, zu gerne hatten wir wieder einen Papa.

Auch für unsere Mutter freuten wir uns, die wir seit geraumer Zeit wieder mehr lachen sahen. Überhaupt wurde sie in der letzten Zeit wieder wesentlich fröhlicher und ausgeglichener. Wir Kinder freuten uns für sie. Und – wir bekamen endlich wieder einen Vater.

Mein Bruder auf der einen, ich auf der anderen Schoßhälfte, so wurde Franz von uns Kindern oft belagert. Er verstand es, uns für sich zu gewinnen. Wir konnten kaum erwarten, Papa zu ihm sagen zu dürften, was er und Mama natürlich mit großer Freude registrierten.

Noch bevor sie heirateten, bekam meine Mutter fürchterliche Ohrenschmerzen. Sie hatte eine hochgradige Mittelohrentzündung und musste schnellstmöglich im Krankenhaus operiert werden.

Einmal durften wir dabei sein, als er unsere Mutter im Krankenhaus besuchte. Franz nahm uns auf seinem Motorrad mit, indem er uns vor sich auf dem Tank platzierte. Wir fanden das sehr abenteuerlich.

Ein paar Tage später durfte Mama wieder nach Hause, während Franz solange bei uns Kindern war.

Franz, unser neuer Papa, gehörte nun zu uns. Hier und da machte er sich nützlich. Unter anderem lackierte er unseren Küchenschrank mit neuer Farbe. Überhaupt war er immer öfters zu Hause, während meine Mutter noch bei der Arbeit war. So auch an jenem Tag, der mir bis heute in schlimmer Erinnerung blieb.

Gundi, Friedas Tochter, stand mit einer gleichaltrigen Freundin (Linde) vor dem Hoftor, beide waren ungefähr 16 Jahre alt und sehr albern. Sie machten Sprüche, während ich zwischen den beiden herumtobte. Möglicherweise fühlten sie sich durch mich gestört und überlegten nun, wie sie mich endlich loswerden könnten.

Franz lehnte sich aus dem Fenster und fragte die beiden, was denn so lustig sei. Sie erzählten ihm eine Lüge, die ich ihnen angeblich erzählt haben soll. „Mama hat einen Franzosen zum Freund, den sie demnächst heiraten wollte. Er ist oben und streicht den Küchenschrank an.“

Ich horchte erschrocken und schrie vor Empörung gleich los, dass ich das niemals gesagt hätte. Franz glaubte mir nicht, er kam aus der Wohnung gestürmt und schaute mich mit zornigem Gesicht an, packte mich fest am Arm und zerrte mich die Treppe hinauf in die Wohnung. Unter Drohung, mich ordentlich zu verprügeln, warf er mich auf das Bett. Ich bekam schreckliche Angst vor ihm. Hier bleibst du, bis die Mama kommt, dir will ich‘s zeigen, so ein dummes Zeug herumzuerzählen. Ich verstand nichts mehr und weinte bitterlich.

Die Zeit schien endlos, bis meine Mutter endlich von der Arbeit nach Hause kam. Franz berichtete sogleich von diesem bösen Kind, bekräftigte somit seine Strafe für mich. Auch meiner Mutter versicherte ich erneut, dass ich das niemals gesagt habe und hoffte, sie möge mir doch glauben.

Ihre Antwort war nur, dass sie sich das kaum vorstellen könne. Franz erwiderte ungeduldig, dass er dies schon glauben würde, woher sonst, sollten diese Mädchen so etwas sagen.

Für alle war dieses Thema wohl bald wieder erledigt. Aber auf meiner Seele hinterließ dieser Vorfall einen sehr dunklen Fleck. Es bedrückte mich schon aus dem Grunde, weil ich vor Franz das erste Mal große Angst bekam, ich ihn das erste Mal so böse und gemein erlebt habe und er den anderen mehr glaubte als mir.

Seit dieser Geschichte wurde ich ihm gegenüber etwas misstrauischer, ich musste auf der Hut sein.

Endlich in der Schule. Unser Schulweg, den ich alleine gehen musste, war sehr weit. Ich ging gerne zur Schule und war eine gute Schülerin. Eines Tages, auf dem Nachhauseweg, machte ich dann meine erste Erfahrung in Form eines sexuellen Übergriffs.

Während ich in Gedanken an all den Häusern vorbeischlenderte, sah ich vor der Eingangstür zu einem Männerfriseursalon eine Briefsendung liegen, die ich mit einer kurzen Handbewegung unter der Tür durchschieben wollte.

Dabei ging die Tür auf und eine männliche Hand zog mich blitzschnell hinein. Der Mann setzte mich auf seinen Schoß und fing auch gleich damit an, mir in die Hose zu fassen. Mit all meiner Kraft versuchte ich, mich aus der Umklammerung zu winden, ich weinte und bettelte, dass er mich doch gehen lassen soll.

Nachdem ich mich weiterhin energisch wehrte und laut zeterte, ließ er schließlich von mir ab. Sofort rannte ich davon. Wieder zu Hause, traute ich mich nicht, meiner Mutter von diesem Zwischenfall zu erzählen. Von diesem Tag an machte ich um dieses Haus einen riesigen Bogen.

Kaum in der Schule eingelebt, zogen wir von meiner Heimatgemeinde weg. Wir zogen zu seinen Eltern, die sich mit uns ihre Wohnung teilen wollten. Zwei kleine Zimmer zählten jetzt zu unserem Zuhause. Die Küche sollte gemeinsam genutzt werden. Den wahren Grund, warum wir zu seinen Eltern zogen, weiß ich bis heute nicht. Wichtig war vielleicht für meine Mutter, dass wir tagsüber versorgt sein sollten, damit sie beruhigt arbeiten gehen konnte?

Die Eltern von Franz waren sehr strenge Leute, die an allem etwas auszusetzen hatten und alles besser wussten. Nichts konnte man ihnen recht machen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, meine Mutter fühlte sich da sehr unfrei. Hatte sie vorher ihre eigene Wohnung, so musste sie sich jetzt in der Küche seiner Mutter unterordnen, es herrschte für alle ein sehr strenges Regiment.

Obwohl ich noch sehr klein war, spürte ich instinktiv, dass hier etwas nicht stimmte und dass meine Mutter sehr unglücklich war.

Es wurde nur noch gekocht, was die Herrschaften wollten und alles schmeckte scheußlich. Auf unsere gute badische Hausmannskost folgte nun ein ostpreußischer, süßsaurer Fraß, den ich kaum riechen konnte. Regelmäßig musste ich mir das Essen hinunterwürgen. Etwas nicht essen wollen, gab es hier nicht.

Am Tisch durfte nicht geredet werden, alle mussten mucksmäuschenstill sein. Der Einzige der reden durfte, war sein Vater. Der redete ohne Unterlass und wusste alles besser.

Einmal gab es eine Diskussion am Tisch, Franz erlaubte sich, ihm etwas zu erwidern und schon bekam er blitzschnell den Löffelrücken auf den Mund geschlagen, damit er seinen Mund halten möge. Er reagierte nicht darauf, schaute sich nur ganz verschämt um.

Es war ihm sichtlich peinlich und er hoffte, dass es hoffentlich niemand gesehen hatte. Danach war wieder eisige Stille.

Erstaunlicherweise lebte ich mich in der neuen Schule gut ein. Mein neuer Lehrer unterstützte mich sehr dabei, indem er mich immer wieder für meine guten Leistungen lobte. Überhaupt bekamen wir Kinder für jede gute Leistung eine Belobigung, indem uns der Lehrer auf den Rand der Wandtafel setzte. Mehr und mehr angespornt hat er mich des Öfteren darauf platziert. Voller Stolz lief ich dann immer nach Hause, um meiner Mutter davon zu berichten. Sie war sehr stolz auf mich und mein Zeugnis fiel demnach überdurchschnittlich gut aus.

Eines Morgens, wir hatten Ferien und meine Mutter musste wohl arbeiten. Ich stand auf und suchte sie. Im Schlafzimmer lag Franz allein im Bett. Ich zitterte vor Kälte. Komm zu mir ins Bett, da ist es schön warm. Ich schlüpfte unter die Bettdecke und spürte die wohlige Wärme.

Nach einer Weile spürte ich seine Hand auf meinem Bauch. Ich hielt inne, was ist das? Es war ein fremdes und unangenehmes Gefühl. Beängstigend, von Franz so berührt zu werden. „Fühlst Du meine Hand, die ist schön warm, ich streichle dich jetzt, damit es dir warm wird. Du wirst sehen, das gefällt dir bestimmt.“ Er streichelte mich überall.

Steif lag ich da, unfähig mich zu rühren oder gar aufzustehen. Meine Mutter war ja nicht da. Am liebsten wäre ich davongerannt, aber wohin und zu wem? Ich hatte Angst, ein unheimliches Gefühl breitete sich in mir aus. Ich war irritiert und geschockt, hätte das fremde unangenehme Gefühl am liebsten abgeschüttelt.

So jung und ahnungslos ich auch war, instinktiv fühlte ich, dass hier etwas geschah, was nicht geschehen sollte. „Hör zu, auf gar keinen Fall darfst du der Mama davon etwas erzählen, sonst ist sie sehr, sehr böse auf dich, gibt dich wieder her oder verlässt uns alle und kommt nie mehr zurück. Das muss unbedingt unser Geheimnis bleiben, hörst du.“

Dieses Geheimnis bedrückte mich und ich trug es Tag für Tag mit mir herum. Selbstverständlich habe ich meiner Mutter nichts davon erzählt. Ich hatte Angst, dass alles, was Franz sagte, wahr werden würde und dass meine Mutter böse auf mich ist und mich eventuell wieder zu fremden Leuten wegschickt.

Ab diesem Zeitpunkt machte ich täglich wieder ins Bett. Ich schämte mich wieder vor mir selber und vor meiner Mutter. Überhaupt war ich ziemlich durcheinander. Mir war das sehr unangenehm. Und natürlich wunderte sich meine Mutter auch dieses Mal, warum das Kind nun schon wieder ins Bett macht, nachdem es doch jetzt eine ganze Weile wieder trocken war. Niemand fand eine Erklärung dafür, nicht einmal der Hausarzt. Es wird wohl eine Erkältung sein, eine schwache Blase oder gar eine andere körperliche Schwäche, da ich für mein Alter doch recht zart, dünn und klein war.

Jetzt hatte ich zwei schlimme Geheimnisse, die mich sehr belasteten. Es machte mir immer größere Mühe, dem Schulunterricht zu folgen. So leicht mir früher die Aufgaben fielen, so schwer empfand ich sie nun. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr ordnen und abschalten. Alle meine Gedanken umkreisten meine beiden Geheimnisse, das unangenehme Gefühl der Berührungen und mein erneut nasses Bett jeden Morgen.

Ich konnte nichts anderes mehr denken und es kam, wie es kommen musste. Ich wurde in der Schule immer schlechter, rutschte regelrecht ab und keiner wusste warum. Meine Leistungen sanken auf die schlechtesten Noten.

Ich fühlte mich isoliert, mir war nicht mehr wohl in meiner Haut. Ich hatte niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können, schon gar nicht meiner Mutter.

So gut ich konnte, machte ich um Franz einen großen Bogen, hielt mich immer an meine Mutter, sofern sie anwesend war. Leider gelang es mir nicht immer. Wann immer sich ihm eine günstige Gelegenheit bot, griff er zu und nutzte die für ihn günstige Gelegenheit aus.

Seine Übergriffe hörten nicht mehr auf. Sie nahmen immer mehr zu, auch die Art und Weise, wie er sich mir sexuell näherte und sich an mir verging. Er fühlte sich immer sicherer und wurde dabei immer dreister.

Etwa zur selben Zeit haben meine Mutter und Franz nun geheiratet. Sie machte einen überglücklichen Eindruck. Sie hatte endlich wieder einen Mann, war wieder verheiratet. Sie hatte wieder ihre Familie, fühlte sich in der Gesellschaft wieder angekommen.

Die Scheidung von meinem Vater empfand sie als einen großen Makel. Sie hatte große Schuldgefühle, die Scheidung als ihre persönliche Schuld angesehen. Überhaupt hat sie die Scheidung von meinem Vater nie wirklich verwunden und verschmerzen können. Mein Vater war anscheinend ihre erste große und einzige Liebe.

Mein schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber wurde immer größer. Sie war nach wie vor vollkommen ahnungslos. Die Drohungen von Franz machten mir immer noch große Angst, es war mir unmöglich, mich meiner Mutter mitzuteilen. Überhaupt würde sie mir kein Wort davon glauben. Das wiederum, machte mir noch mehr Angst.

Tag und Nacht begleitete mich dieses bedrückende, unangenehme Gefühl, das mich total einnebelte, ich wusste nicht, wie ich es endlich wieder los werden könnte.

Jede sich ihm bietende Gelegenheit nutzte er für sich aus. Einmal gingen wir mit seiner Schwester, die zu Besuch war, spazieren. Er packte mich und setzte mich auf seine Schulter. Ungeniert und ohne Bedenken, dass es entdeckt werden könnte, fasste er unter mein Kleid in meine Hose und machte an mir herum.

Ich wollte wieder herunter, was er selbstverständlich verhinderte. Ich rutschte auf seiner Schulter hin und her, um mich seinem Griff zu entziehen. Ich schämte mich, hatte Angst, dass es jemand bemerken könnte. Leider gelang es mir nicht. Er war stärker und hatte mich voll im Griff.

Während ich in der zweiten Klasse war, zogen wir wieder zurück in unsere Heimatgemeinde, dem kleinen Weindorf Bahlingen am Kaiserstuhl. Ich musste mich wieder umgewöhnen, denn vieles war mir bereits etwas fremd geworden.

Wir zogen in einen Neubau, dessen Wohnung noch nicht ganz fertig war. So auch unsere Küche. Das Haus gehörte einer Frau, die ebenfalls bei den Zeugen Jehovas war. Mit ihr und ihren zwei erwachsenen Söhnen teilten wir die Küche, in der wir dann alle zu Mittag aßen. Jeder kochte für sich. Ich erinnere mich, dass sie jeden Tag nur Nudelsuppe mit viel Maggi und geriebener Muskatnuss kochte – etwas anderes gab es nie, solange wir da wohnten.

In diesem Haus gab es noch eine sehr alte, bettlägerige Oma. Ihr Zimmer war stockdunkel, ich glaube, es hatte nicht einmal ein Fenster. Des Öfteren hörte ich, wie sie von der Frau beschimpft und geschlagen wurde. Einmal durfte ich kurz in das Zimmer, um sie mir anzusehen, um guten Tag zu sagen. Mir wurde unheimlich in diesem Raum, deshalb verließ ich ihn gleich wieder.

Dann herrschte eines Tages hektischer Betrieb in diesem Haus, die alte Frau war gestorben. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei, möge sie von diesem unwürdigen Dasein endlich erlöst sein. Ich hatte stets Mitleid mit ihr.

Zu unserer Wohnung gehörten ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Ein Kinderzimmer gab es in dieser Wohnung nicht. Deshalb teilte ich mit meinem Bruder die Wohnzimmercouch, deren Armlehnen man herunterklappen konnte. Auf der einen Seite lag ich, auf der anderen Seite mein Bruder. Das Sofa war ungemütlich und nicht das, was sich ein Kind normalerweise als Bett wünscht. Aber so hatte ich wenigstens meine Ruhe vor Franz, da er so nicht an mein Bett kommen konnte.

Meine Mutter und Franz gehörten nach wie vor und mit voller Überzeugung der Sekte „Zeugen Jehovas“ an. Es war an einem Sonntag, wir Kinder sollten zu Hause bleiben und darauf warten, bis sie wieder zurückkamen. Es würde nicht lange dauern. Meine Mutter und Franz mussten sich einem Komitee stellen, da man sich daran störte, dass Franz rauchte. Angeblich hätte man ihn auch schon auf einem Tanzball gesehen. Beides wurde nicht geduldet und man versuchte eindringlich, auf die beiden dahingehend einzuwirken, dass sie sich zukünftig wieder ohne Fehl und Tadel verhalten sollten, sich intensiver ihrer Religion widmeten. Man wollte sie wieder auf den richtigen Weg bringen. Dieses Szenario zog sich für mich gefühlsmäßig stundenlang hin.

Während wir Kinder alleine zu Hause waren, zog ein heftiges Gewitter auf. Ich wurde vor lauter Angst regelrecht hysterisch, rannte immer wieder zum Fenster und schrie nach meiner Mutter. Als sie nach langer Zeit endlich kamen, war ich völlig erschöpft und fertig.

Wir Kinder waren momentan sehr übermütig und heckten immer wieder irgendwelche Streiche aus. Gegenüber unserer Wohnung war ein riesiger Garten, es war Erdbeerzeit. Zu verlockend leuchteten die reifen Erdbeeren. Wir konnten nicht widerstehen, sind immer wieder in Nachbars Garten eingestiegen, um eifrig Erdbeeren zu pflücken. Immer mit der Angst im Nacken, dass man uns eventuell erwischen könnte, was uns aber nicht davon abhielt.

Dann einige Tage später und wieder alleine zu Hause, kletterten wir auf den angrenzenden Schuppen, der zu unserem Haus gehörte. Wir spähten in Nachbars Hof auf der gegenüberliegenden Seite. Hier war angeblich ebenfalls niemand zu Hause, was meinem Bruder die verrückte Idee einbrachte, Kartoffeln in das dort offene Fenster zu werfen.

Immer wieder holte ich Nachschub im Hof. Die ganze Schürze voll Kartoffeln, alle wurden so lange verpulvert, bis es klirr machte und die Fensterscheibe zu Bruch ging. Nun bekamen wir doch ein schlechtes Gewissen und schlichen uns klammheimlich und mit hängenden Köpfen vom Dach, in der Hoffnung, dass hoffentlich alles gut gehen möge.

Zu späterer Stunde hörten wir dann schrille Schreie vor dem Haus. Jemand rief nach unserer Mutter. Aufgebracht stand die Nachbarin im Hof und berichtete von dem Vorfall. Da es meiner Mutter immer außerordentlich wichtig war, dass ihre Kinder ja keine Dummheiten machten oder auf irgendeine andere Art negativ auffielen, war das für sie eine schlimme Sache. Sie war total außer sich, schrie und tobte.

Wir wurden immer stiller, schauten uns ängstlich an und ahnten schon, was auf uns zukommen würde. Dann bekamen wir von Franz eine Tracht Prügel, die wir nie vergessen sollten. Meinen Bruder sollte es allerdings noch schlimmer treffen.

Für Franz waren die Prügel alleine nicht genug, deshalb sperrte er meinen Bruder als weitere Strafe in den Schweinestall. Er weinte jämmerlich, weil er fürchterliche Angst hatte, denn gleich nebenan waren mehrere Schweine untergebracht. Ich litt sehr mit ihm und bettelte unaufhörlich, dass er ihn doch wieder herauslassen möge.

Eine endlos lange Zeit musste mein Bruder dann in dem Schweinestall ausharren. Dann endlich durfte ich ihm die Türe öffnen. Diesen Tag sollten wir so schnell nicht vergessen.

Von nun an wollten wir immer artig sein, das nahmen wir uns jetzt fest vor.