Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Zitat

Prolog

Wenn Kinder sexualisiert werden

Ein Dutzend Opferkinder

Impulse

Wahnsinn und Genie

Von Zuchtmeister und Deckhengsten

Falscher Schein

Keine Sicherheit

Und weg mit mir

Wieder da

Gott und sein Personal

Stiefväter kommen gerne nachts

Das 5. Gebot

Gebet oder Wahn?

Teuflische Botschaften

Papa und seine hungrigen Freunde

Mondmännchen

Die heilige Mutter

Mein Mann, seine Freundin und ich

Teufelskreis Sex

Dämonen einer Wahnsinnigen

Der Maßstab für Normalität

Die Frau mit Schwanz

Papas Haut

Blutende Narben

Ein Wall aus Fett

Täter-Opfer-System

Trauerfraß

Das schwarze Loch

Die Hure Bärbel

Versaute Nichte

Anderer Leute Leid

Der Eindringling

… um zu stehlen und zu schlachten

Mannsbilder

Heimatlos

Wenn die Seele schwindelt

Gedanken ertränken

Überlebenskontrolle

Fantasievater

Aasgeier-Gefühle

Schick den bösen Hund hinaus

Fremdschämen

Ekelkarl

Das erotische Kind

Hilfe von außen

Vergänglichkeit

Verbogene Triebe

Der kleine, geile Wildfang

Schandmaul

Wilhelms Tabu

Daniels Tabu

Ich – das Täterschwein

Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet

Das Nichts

Einfach entspannt sein

Immer wieder Georg

Der Friede ist gestorben

Energetische Felder

Seit Ewigkeiten in dir

Andere Kinder

Gelungene Entfernung

Verfluchte Erregung

Der wilde Pferdemann

Erwischt

70 x 70

Rosis Wut

In den besten Familien

Hirnüberflutung

Bitte nur ein Traum

Legionen im Haus

Ein bisschen Normalität

Lust und Liebe 1

Lust und Liebe 2

Doc’s Tabu

Gender-Wahnsinn

Meine Kinder, meine Sonne

Ein glücklicher Tag

Kopf-Herz-Verbindung

Poltergeister

Schuldig!

Peinlichkeiten

Blender und Blinde

Meinungsbildung

Lücken und Löcher

Sinn und Konsequenz

Herzschmerz ade

Die Liebe

Zeitreise

Aufgetaucht

Vertrauensfrage

Ja ich will!

Aus Scheiße wird Dünger

Von der Magie

Epilog

Hilfestellen

Nachwort

Toleranz ja, aber für alle!

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© by Verlag Kern, Bayreuth

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Februar 2015

Autorin: Claudia Adlers

Titelbild: © evgenyatamanenko | fotolia.com

Layout/​Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Manfred Enderle

Sprache: deutsch, broschiert

ISBN: 9783957161-062

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN E-Book: 9783957161-468

www.verlag-kern.de

Claudia Adlers

SEX mit 6

Ein Roman | Eine Wahrheit | Eine Hoffnung

Unser Verlangen nach Lust verknüpft uns mit der Gegenwart.

Die Sorge um unser Heil macht uns von der Zukunft abhängig.

Charles Baudelaire (1821  1867)

französischer Dichter und Ästhetiker

Prolog

„Erwachet!“, würde ich rufen, wäre ich Zeuge Jehovas. Einen „Dschihad“ vielleicht leben, wäre ich Moslem. Doch da ich einfach ein an Gott glaubender Mensch bin, und das ohne Machtansprüche für meine Kirche oder Religion, frage ich lediglich: „Ist dir bewusst, was auf unsere Kinder zukommt, wenn wir im missbrauchten Namen der Toleranz die Sexualisierung von Sechsjährigen oder noch jüngeren Menschen durch Schule, Medien und Staatsgewalt hinnehmen?

Dies ist meine Geschichte.

Und auch: Dies könnte die Geschichte vieler deutscher Kinder werden, wenn wir nicht aufstehen und für die nachfolgenden Generationen ein Leben in Sicherheit, Würde und Freiheit bahnen.

Mann hat mich begehrt. Frau hat mich beneidet. Warum ich es getan habe? Weil ich es konnte. Weil meine erste Lernaufgabe „Erotik“ war. Viele Jahre war ich ganz simpel ausgedrückt auf der Jagd. Das Spiel der Signale beherrsche ich meisterhaft. Nach dem immer gleichen Schema habe ich reihenweise Männer erobert. Denn nur darum ging es. Jagen, kämpfen, erobern, beherrschen und gleich darauf ausspucken und nachtreten. Hat man die Beute erlegt und sich einmal vollgefressen, ist man an dem Rest freilich nicht mehr interessiert. Das Aas können die Anderen haben. So wandelt sich der Segen dieser vielbeneideten Erotik in den Fluch, von sich selbst angewidert zu sein.

Wenn Kinder sexualisiert werden

Sex mit einem empfindsamen, unverdorbenen Kind – warum eigentlich nicht? Das niedliche, von den eigenen Eltern vernachlässigte Mädchen oder der zarte Junge, der ohne Vater aufwachsen muss, der von gewalttätigen Eltern ohne die nötige Zuwendung und Fürsorge dahinvegetiert – warum darf man diesen kleinen Menschen nicht mit einer reifen, beglückenden Liebe überschütten? Warum sollte man nicht die Rolle des Unterstützers, Mentors und älteren Gefährten übernehmen? Wie sollte man psychischen Schaden zufügen, nur weil man dem Kind einen sanften, vertrauensvollen Übergang in die harte Erwachsenenrealität ermöglicht? Schänden Pädophile die lieben Kleinen aus niedrigen erotischen Beweggründen oder brauchen wir sie nicht sogar heutzutage, wo die Familien immer mehr auseinanderbrechen, Große kinderlos bleiben und Kleine elternlos werden? Können wir uns nicht gegenseitig ergänzen? Dass der herzensgütige Kinderlose ein beziehungsloses Kind an seine Brust drückt, das vater- oder mutterlose Kind freien Willens einen anderen Weltenbürger zum Elter adoptiert? Ist es nicht so, dass Missbrauch erst da beginnt, wo ein schwächerer Mensch überrumpelt oder gar bezwungen wird? Wenn das Kind den erfahrenen Helfer zum Leben, oft sogar zum Überleben, bitter nötig hat, also braucht – ist es dann wirklich Missbrauch, auf dieses Signal zu antworten?

Noch hört man solch kranke Fragen nur im Geheimen oder kann sie in einschlägigen „Kinderfreund-Internetforen“ dutzendweise lesen. Sollte sich Gender Mainstreaming allerdings etablieren, könnte dieses Gedankengut eines Tages zur Normalität gehören. Weil alles möglich sein soll. Weil wir ja tolerant sein müssen, um nicht als religiöse Fanatiker oder naive Gutmenschen abgestempelt zu werden.

Es ist an der Zeit, anstatt stumpf-dumme Toleranzparolen zu schwingen, den Genderwahn-Blökern Paroli zu bieten. Wie ein Mensch, gleich welchen Geschlechtes, die sexuelle Prägung im frühen Kindesalter erlebt, wie dies formt und nachhaltig zerstörerisch wirken kann – davon handelt dieser Roman.

Dipl.-Psychologin Gabriele Kahn schreibt in ihrem Buch „Das innere-Kinder-Retten“, einem sexuellen Trauma gehe immer eine mangelhafte Bindung voraus, denn Täter suchen sich Kinder, die sich nach Geborgenheit sehnen. Diese Schutzlosigkeit, welche durch die unsichere Bindung hervorgeht, wird missbraucht. (Anhang 1)

Dies bedeutet im Umkehrschluss, könnte man jetzt behaupten, dass man bindungssichere Kinder sehr wohl ohne Schaden an die frühe Auseinandersetzung mit Sexualität und Erotik im kognitiven wie auch handlungsaktiven Rahmen gewöhnen dürfe.

Doch wer mag erkennen und eine Auslese vornehmen, welche Kindergarten- oder Grundschulkinder dann für den Bildungsplan 2015 infrage kommen?

Oder werden Deutschlands Erziehungsstätten frei nach dem Motto „Schwund ist immer!“ vorgehen?

Ein Dutzend Opferkinder

Endlich warm im Pfälzer Bergland. Liege auf der frisch gemähten Wiese am Ellerbach. Über mir tobt sich ein starker Frühsommerwind in den alten Pappelbäumen aus. Wenn ich die Augen schließe, kann ich die Meeresbrandung rauschen hören und es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich tausend Kilometer vom nächsten großen Wasser entfernt lebe. Traum und Realität, wer darf mir sagen, was Realität ist? Joschis sandfarbenes Hundefell liegt wachend neben mir. Mein Schatten, einer der sichtbaren. Seine klugen Augen suchen die weitläufige Pferdekoppel, den angrenzenden Feldweg, den Dorfbach und die übrige Umgebung ab. Für mich, seinen geliebten Menschen. Der Gute. Wäre er doch nur immer schon da gewesen und hätte auf mich aufpassen können. Eine blaue Luftmatratze, dahintreibend im Baggerweiher meiner Kinderheimat, taucht blitzartig vor meinem inneren Auge auf. Darunter eine Hand. Eine mich streichelnde Männerhand. Sie fasst in mein Bikinihöschen, steckt den Finger tief in mich hinein. Ich bin acht Jahre alt. Schmächtig und zu klein für mein Alter. Fühle mich hilflos und der Erwachsenen-Willkür schutzlos ausgesetzt. Ich habe Angst. Und halte still. Wie immer.

Ich versuche wegzusehen. Wandere weiter in meinen Gedanken und spüre, dass sie mir wieder einmal entgleiten, mir nicht mehr gehorchen. Tief atmend strecke ich mich auf der satten, warmen Wiese aus und zähle die Gänseblümchen, die sich dem sanften Himmelslicht entgegenstrecken. Die Morgensonne scheint warm auf mein Gesicht. In meinem Jogginganzug fühle ich mich sicher. Alles gut verpackt. Praktisch, asexuell, sportlich. Ich versuche, meine Umgebung wahrzunehmen, um nicht wieder abzudriften. Ich spüre, wie sich das vom harten Winter noch stoppelige Gras bemüht, sich wieder aufzurichten. Und dann kann ich es nicht mehr aufhalten. Die Halme verwandeln sich in kleine Kinderhände. Sie kribbeln an meinem Rücken, meinen Schultern und meinen Haaren. Ein Händchen ruft mir zu: „Schreibe für mich! Ich bin doch noch so klein und kann nicht selber schreiben. Erzähle ihnen deine Geschichte, es ist auch meine!“

Und ich sehe die nächsten Finger an der Hand der dicken Elke, die seit über zehn Jahren in der Anstalt lebt. Sie flüstert mir zu: „Ich konnte es nie jemandem erzählen, habe mich doch selber so schmutzig gemacht. Sag es ihnen. Für mich.“ Die nächste Hand gehört meiner nervösen Freundin Miriam, die mir mal so nebenbei beim Umgraben unseres gemeinsamen Gemüsegartens erzählt hatte, wie Vater und Onkel gemeinsam an ihr gelutscht hatten. „So lange her, wen würde das heute noch interessieren?“, hatte sie mich damals barsch gefragt. Oder Maria, die vierfache junge Mutter, geschieden und noch immer etwas hilflos in der Welt umherziehend, die vom Arbeiter des Vaters zärtlich verführt wurde. Weil sie schon zwölf und keine Gewalt im Spiel war, hatte sie es nie jemandem erzählt. „Ich wusste, sie würden mir die Schuld geben … “, hatte sie mir unter Tränen bei einer langen Autofahrt Richtung psychosomatischer Klinik gestanden.

Das Leiden von Esther ging mir besonders nahe. Sechzig Jahre alt ist sie inzwischen. Gehorsam und willenlos ihrem charismatischen Ehemann ergeben, lebt sie ein langweiliges, angepasstes Leben. Über Jahre vom Stiefvater beschlafen, schüttete sie eines Tages der Mutter ihr Herz aus. Die Mutter reagierte mit Unglaube und Härte. Esther wurde aus dem Haus geworfen und leidet noch heute, Jahrzehnte danach, an Angstzuständen, schweren Migräneanfällen und heftigen Rheumaschüben. Heute kenne ich über ein Dutzend Frauen und Männer mit ähnlichen Geschichten. Fast alle schweigen, meist aus Scham vor der eigenen Entweihung. Leider sogar aus Furcht, als Lügner und Geschichtenerzähler dazustehen. Deshalb schreibe ich, auch für sie.

Impulse

Als ich mich entschieden hatte, diese Geschichte zu schreiben, sobald ich nach Hause kommen würde, verschwanden die Hände wieder im Boden und das Gras war wieder einfach Gras, frisch und stoppelig wie zuvor. Zuhause angekommen, schmiere ich mir ein Nutellabrot zur Linderung meiner aufgewühlten Gefühle. Ich lecke das Messer ab und spüre einen ruckartigen Impuls, mir das Messer in die Kehle zu rammen. „Warum nicht zustechen?“, denkt sich ein Gedanke in meinen Kopf hinein. „Weil ich leben will!“, antworte ich dem inneren Fragesteller und lege das Messer langsam auf die Spüle.

Wie viele dieser Impulse habe ich schon überlebt? An wie vielen Bäumen bin ich schon weitergefahren, obwohl ich doch in sie hineindonnern wollte? Wie viele Pillen fanden ihren Weg in den Ausguss, nachdem ich sie wochenlang gehortet hatte? Wie oft legte ich mit letzter Anstrengung die Rasierklingen wieder weg, nachdem ich sie manchmal kleine Ewigkeiten lang sanft an meinen Handgelenken entlangstreifen ließ? Wie viele Berge hatte ich gefunden in all den Jahren, die für den letzten Sprung geeignet schienen? Alle nur erdenklichen Todesarten durchspielte ich unzählige Male im Geist. Vor Schmerz fürchtete ich mich nicht sehr, zu bekannt war er mir. Aber Blut ekelte mich nach wie vor. Und wenn ich daran dachte, ein unschuldiger Wanderer oder gar ein kleines Kind würde am Fuß des Berges meine aufgeplatzte hässliche Leiche finden, nahm ich wieder Abstand von meinen Plänen. Tabletten fand ich tussihaft, ein bisschen wie ein Held wollte ich schon sterben. Doch Helden töten nicht. Nie. Nicht sich selbst. Helden leben. Überleben. Geben Leben weiter. Diese Gedanken verhinderten immer meinen Freitod. Bis zu dem Tag, als das Denken in mir ausklang.

Wahnsinn und Genie

Heute Morgen habe ich ferngesehen. Frühstücksfernsehen. Die gewöhnliche Tagesgestaltung der Arbeitslosen und wenig beschäftigten Selbstständigen. Es lief eine Dokumentation über Menschen, die durch Hirnverletzungen bzw. Koma geisteskrank geworden sind und überwiegend im Heim leben. Unter diesen Leuten sind regelrechte Genies. Einer kann sich an das Wetter jedes einzelnen Tages der letzten dreißig Jahre erinnern. Eine Frau hört Mozart, wenn sie auf der Couch liegt. Mozart spielt allerdings in ihren Gedanken, niemand hört die Musik außer ihr. Dieses Interview erinnerte mich an die Zeit, in der ich fantastische Konzerte in meinem Kopf hören konnte.

Damals nahm ich Geigen, Flöten, Zupf- und Blasinstrumente jeglicher Art in vollkommener Harmonie wahr. Nicht nur Lieder, ganze Konzerte waren es oft. Irgendwann war es weg. Schade eigentlich. Manchmal vermisse ich es. Inzwischen ist mir klar, dass ich diese Erfahrung nicht willentlich in mir erschaffen kann.

Der Bericht erzählte auch von einem alten Mann, der durch einen zehnminütigen Herzstillstand jegliches Zeitgefühl verloren hat. Er weiß weder wer er ist, noch was vor wenigen Minuten stattfand. Seine Frau kümmert sich rührend um ihn. Sie gibt Überblick in ein Leben mit einem Partner, für den jede Stunde ein neues Leben beginnt. Ein Jahr später allerdings hat sie dann doch aufgegeben. Auch er lebt inzwischen in einem Heim. Eine Frau hat mich besonders berührt, beeindruckt. Sie erzählt, dass sie die Reduktion auf die wenigen Dinge, die sie momentan tun und begreifen kann, als absoluten Reichtum ansieht.

Bei diesem Interview stellte ich mir die Frage, wie viel unsere Historie und das Zurückrufen selbiger unser Menschsein beschwert. All diese Erdenbürger hatten eines gemeinsam, wie ich meine: einen anderen Bezug zur Realität. Viele Fragen stellten sich mir. Was ist Realität? Was ist Wahrheit? Was ist normal und welchen Wert hat irgendeine menschliche Norm? Welche Gültigkeit?

Warum möchte ich sterben und hungere gleichzeitig nach dem Leben? Warum möchte ich mich erinnern, all die schrecklichen Bilder, die mich nachts heimsuchen, verstehen und in Zusammenhang bringen können? Und doch gleichzeitig am liebsten alles, alles wieder neu vergessen? Das, was noch verschüttet ist, sicherheitshalber noch tiefer vergraben? Gehöre ich auch zu den Leuten in dieser Anstalt? Gehöre ich eingesperrt? Schade ich meinem Umfeld, der Gesellschaft? Macht dieses ICH überhaupt Sinn?

Dann diese ständige Anspannung, die Überflutung von Bildern, Gedanken und vor allem die Geschwindigkeit, in der sie sich abspielen. Jede einzelne Körperzelle scheint unter Strom zu stehen und dieses Gefühl macht mich so aggressiv, dass ich wie ein tollwütiger Hund um mich beißen möchte.

Corinna Scherwath schreibt dazu in ihrem Buch „Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung“ folgendes: „Übererregung, aggressive Ausbrüche, erhöhte Wachsamkeit (Hypervigilanz) und Stressüberflutung sind als Folgen von Traumata anzusehen.“ (Anhang 2)

Von Zuchtmeister und Deckhengsten

Meine schlanke, anmutige und charismatische Mutter hatte mit sieben Kindern ihre erste Scheidung hinter sich. Man konnte ihr die vielen Geburten nicht ansehen und auch ihr unbequemer Lebenslauf hatte ihrer Ausstrahlung nicht geschadet. Mit vierzehn Jahren hatte sie ihre Lehrzeit begonnen und drei Jahre später arbeitete sie als Schreibhilfe in einer großen Fabrik. Außer einem kleinen Taschengeld musste jede Mark zuhause abgegeben werden. Oma Leni hatte nach ihrer Heirat mit meinem Opa nie mehr gearbeitet. Das wäre für ihn eine Schande gewesen. Er wiederum ein Lebemann, der Abend für Abend in zwielichtigen Lokalen Rosen verkaufte und den Gästen ihre Zukunft aus den Händen las. Ein Charmeur, witzig und weltgewandt nach außen. Das Innen musste meine Oma und ihre vier Kinder ertragen.

Denn zuhause war er ein strenger, kontrollierender Zuchtmeister. Das Klopapier musste von Oma nummeriert werden und jeder noch so kleine Schiss musste in die eigens dafür aufgestellte Klokasse nach Klopapiermenge bezahlt werden. Die drei Jungs parierten prima.

Der eine Junge wurde nie ein richtiger Junge, heiratete später zwar, war aber einfach in der falschen Zeit geboren. Heute wäre er wohl ein ganz normaler Schwuler. Der andere sagte mir hasserfüllt an Omas Grab: „Endlich ist sie verreckt, die alte Hexe!“ Der dritte blieb bei ihr in der immer gleichen, düsteren Altstadtwohnung. Bis zu ihrem Tod. Dort hatte er vor sich hin vegetiert, ohne Frau, ohne Freundin, ohne irgendwas, außer seiner Fabrikarbeit, in seinem Kinderzimmer, das er dann mit siebenundsechzig Jahren verließ, um direkt ins betreute Wohnen überzugleiten.

Somit war meine Mutter die eindeutige Gewinnerin dieses Trauerspieles. An ihrem achtzehnten Geburtstag flüchtete sie mit einem dahergelaufenen Kerl in die damalige DDR; denn dort war man im Gegensatz zur Bundesrepublik in diesem Alter schon voll mündig. Sie heiratete, um von Vater und Mutter endlich wegzukommen und flüchtete wieder zurück. Schon witzig irgendwie. Selbst die große, deutsche Todesmauer war in unserer Familie nur eine kleine Nebensache. Wegen so was machte man sich doch keinen Kopf!

Kurz: Ehemann Theo zeugte dann Jahr für Jahr ein Kind, man zog alle halbe Jahre in andere Städte. Immer dann, wenn die Mietschulden so hoch wurden, dass die Gläubiger gefährlich aufdringlich wurden. Die Flucht hörte also einfach nicht auf.

Immer flüchten bedeutet dennoch eine stabile Normalität bei uns. Zu denken, Normalität hätte etwas mit gesunden Maßstäben zu tun, halte ich für den weit verbreitetsten Schwachsinn von Gutmenschen oder Leuten, die in liebevoller, sicherer Umgebung aufwachsen durften. Bei mir gilt: Alles, was man immer tut oder immer wieder, ist normal.

Nach dem siebten Kind hatte Mutti keine Lust mehr zu flüchten. Gerade wohnten sie einmal wieder in ihrer Heimatstadt und es war schon abzusehen, dass es nur kurze Zeit gut gehen würde, bis der Ehemann das Leben neu zerstören würde. Sie fasste sich ein Herz und machte den Gang aufs Sozialamt. Dort verkündete sie ihren Entschluss, sich vom Ehemann zu trennen, beantragte Sozialhilfe, eine neue Sozialwohnung und am gleichen Tag auch noch bei einem Rechtsanwalt die Scheidung. Was meine Mutter anpackt, hat immer Hand und Fuß …

Mutti war so ein Vorbild des sich Befreiens für meine Oma. Noch im selben Jahr beantragte diese die Scheidung von ihrem ewig untreuen und oft inhaftierten Ehemannes. Eine Doppelscheidung sozusagen. Unsere Art der Familientradition. Ebenso traditionell war es bei uns, dass der nächste Mann immer schon im Spiel war, bevor der alte entsorgt wurde.

Mein Vater war gerade einundzwanzig, als Mutti ihn kennenlernte. Auch er war ein gutaussehender Mensch. Hager, mit kantigen Gesichtszügen, einer gepflegten Langhaarfrisur und für einen einfachen Arbeiter mit außergewöhnlichem Sinn für modische Kleidung.

Sie, die immerhin zehn Jahre ältere Frau, mag ihm ein Zuhause in Aussicht gestellt haben. Eine Heimat für den von seinen eigenen Eltern vernachlässigten Jungen. Als er gerade geboren worden war, mussten seine Eltern aus Ostpreußen fliehen, ihr Hab und Gut zurücklassen und mit ihm und seinen beiden größeren Schwestern ein neues Leben in einer der vielen grauen Industriestädte von Rheinland Pfalz beginnen. Sein Vater – der von mir nie anders als Großvater genannt werden durfte – hatte außer der Arbeit in der Landwirtschaft nichts gelernt. Er wusste nicht, wie er seine Familie in der Stadt, fernab von Feldern und Äckern, versorgen sollte. So verdingte er sich als Helfer im Schaustellergewerbe und zog von da an in Deutschland auf Jahrmärkten umher. Seinen Verdienst schickte er zumindest teilweise in unregelmäßigen Abständen seiner Frau zu.

Zerknitterte Geldscheine, lose in schmutzige Briefkuverts gepackt. Die schon damals üblichen Wege wie einfache Banküberweisungen kannte er nicht. Nach wenigen Jahren verstarb meine Großmutter und Ella, eine Halbzigeunerin, wurde die neue Stiefmutter meines Vaters. Ich habe sie als ungeschickte Lügnerin, dumm und hochgradig primitiv in Erinnerung.

Sie war nicht wirklich bösartig, auch wenn sie ihre Kinder immer wieder angeschrien und geschlagen hatte. Dies war wohl mehr ihrer Unfähigkeit zuzuschreiben, mit drei fremden und später noch zwei eigenen Kindern in einem schmutzigen Vorstadtloch hausen zu müssen. Immerzu versteckte sie das wenige Geld, das ihr Ehemann ihr geschickt hatte in immer neuen Verstecken. Meist waren es Schubladen, deren Schlüssel sie in ihrer unglaublich vollen Kittelschürzentasche umhertrug.

Alle ihre Kinder suchten und fanden die täglich neuen Verstecke, um das wenige Geld zu klauen und auf den Kopf zu hauen. Das war einfach normal.

In dieser Familie also wuchs mein Vater in sehr ärmlichen, dunklen Verhältnissen auf. Eine muffige, immer dreckige und unaufgeräumte 3-Zimmer-Wohnung ohne jegliche Privatsphäre für die einzelnen Familienmitglieder. Irgendwann lernte er dann Mutti kennen. Zuerst lernte Mutti allerdings „Großvater“ kennen. Sie erzählte mir einmal, wie er und seine Zigeunerfrau in den gleichen Block gezogen waren. Bei gemeinsamen Bekannten wären sie sich dann nähergekommen. Wie nah? Wie genau? War er tatsächlich mein Großvater, immerhin gerade elf Jahre älter als meine Mutter, oder … warum nur tauchen immer wieder diese fiesen Fragen in mir auf? Es ist an der Zeit, die Antworten zu suchen. Auch ich habe ein Recht darauf, endlich zu erfahren, ob ich seine Tochter oder Enkeltochter und meines offiziellen Vaters Tochter oder Schwester bin. Ob das wohl überhaupt jemand weiß?

Ich habe meinen Vater nie gefragt, wie er auf die doch recht ungewöhnliche Art der Beziehung zu meiner Mutter gekommen war. Die Frau zehn Jahre älter, sieben fremde Kinder im Haus. Ob es das bezaubernde Gesicht meiner Mutter war oder ihr schwebender jugendlicher Gang – den sie sich bis heute ins hohe Alter erhalten hat – oder vielleicht auch ihre große Stärke zur Ordnung und unnachgiebigen Disziplin? Wie oft habe ich ihn von dieser Zeit schwärmen hören: „Bei deiner Mutter konnte ich im Dunkeln in den Schrank fassen und ich wusste immer genau, wo welche Kleidungsstücke liegen würden. Niemals musste ich ein ungebügeltes Hemd tragen und niemals gab es eine schmutzige Tischdecke“.

Es geht mich ja auch nichts an, anscheinend liebten sie sich und Papa wünschte sich nach so vielen angenommenen Kindern noch ein eigenes. Diese Version gefällt mir am besten. Sie klingt so nach heiler Familie, zumindest nach einem heilen Anfang. Es sind ja auch nur Wortfetzen und Fragmente meiner gewohnten Routinenachforschungen, die mich glauben lassen, dass selbst diese heile Familiengründung gefaket war. Wenn der knochenharte Ostpreuße meine Mutter geschwängert hatte, und dummerweise ja verheiratet war, wäre die heilige Mutter plötzlich zur Hure geworden. In diesen Zeiten war das nicht gerade lustig. Da wäre der Sohn des Alten ein gangbarer Ausweg gewesen. Gerade war er frisch aus dem Knast entlassen worden, seine bis dahin dritte Einfuhr, da lief Mutti ihm vor die Füße. Er, jung, ungebildet, mittellos, ohne feste Bleibe. Aussicht: zur Zigeunerstiefmutter und dem Schlägervater zurück in den engen Vorortmief oder die attraktive ältere Dame mit einer riesigen Kinderschar. Doch geschieden und in ordentlichen Verhältnissen lebend. In dieser Version wurde ich also tatsächlich geplant. Zumindest von ihm. Leider nicht gut genug, denn aus mir wurde nur ein Mädchen. Am Tag meiner Geburt soff mein Vater bis zum Gehtnichtmehr. Aus Enttäuschung, dass er keinen Jungen hingekriegt hatte. Seine wunderbaren, braunen Haare rasierte er sich ab. Ein Mahnmal seiner Schande. Ein Mädchenmacher war er.

Falscher Schein

Diese Geschichte erzählte Mutti mir mehr als einmal. Sie hat wohl nie begriffen, wie sehr mich diese Sache verletzt hat, immer wieder. Hätte sie mir irgendwann einmal durch eine Geste oder Worte mitgeteilt, dass wenigstens für sie ein Mädchen in Ordnung gewesen war, wäre der Schmerz nicht ganz so groß gewesen. Doch so war es halt nicht. Ich war falsch. Von Anfang an. Keiner wollte mich haben, so wie ich war. Falsches Geschlecht, dumm gelaufen. Wie lange habe ich mich dafür schuldig gefühlt.

Fotos aus den Tagen meiner Kindheit vermitteln ein Geborgensein innerhalb einer großen Familie. Immerzu schien da eine Hand zu sein, die mich auf dem Arm hielt, ein Lächeln, das in meine Richtung gewandt war. Ich trug stets die saubere, anständige Kleidung meiner größeren Geschwister. Fast immer selbst gestrickt von unermüdlichen Mutterhänden. Ein anderes, schon sehr abgegriffenes Foto fällt mir in die Hände: Vater-Mutter-Kind-Bild. Ein einziges, wertvolles. Der Vater sichtlich angespannt, die Mutter künstlich lächelnd, starr. Die Tochter strahlt, inmitten der beiden Meistgeliebten. Andere Fotografien zeigen mich mit meinem geliebten schwarzen Mischlingshündchen Wotan auf dem Arm, der Tannenbaum im Hintergrund. Weihnachten in einer heilen Familie. Wie der Schein doch trügen kann.

Denn meine zugegeben spärlichen Erinnerungen sind ziemlich anders. Der Hund kam ins Haus, gehätschelt und geliebt von der ganzen Familie. Mit meinem kleinen Kinderherzen vergötterte ich ihn, streichelte ihn den ganzen Tag und durfte auch schon mal mit ihm Gassi gehen. Doch nach wenigen Wochen schon brachte Rosi, meine Schwester, ihn wieder weg. Es war Abend, alles ging schnell und ohne Erklärung. Rosi steckte sich Wotan unter den Arm, verließ die Wohnung und weg war er. Mutti erzählte mir Jahre später, der Hund hätte meinen Vater genervt, weil er immer so schnell gefressen hätte. Kein Anstand, kein genießen können, ein Schlinger. Für den Hund war es sicher besser so, denn mehr als einmal bekam er Schläge für sein ja eigentlich vollkommen natürliches Fressverhalten. Den Umgang mit Tieren konnte man in dieser Familie nicht lernen.

Auch Mäuse hatten wir Kinder mal für kurze Zeit. Der erste Nachwuchs wurde von meinem Vater gleich mittels Toilettenspülung entsorgt. Daraus wurde tatsächlich auch kein Geheimnis gemacht, im Gegenteil: Wir mussten zuschauen, wie die kleinen Mäusebabys im Wasserstrudel jämmerlich ersoffen. Ohne Worte verstand ich diesen lebensverachteten Akt als stumme Warnung, nie etwas gegen den Willen meiner Eltern zu unternehmen. Die Konsequenz würde Tod bedeuten.

Keine Sicherheit

Erzählungen meiner älteren Geschwister zufolge waren diese Jahre, die Zeit mit meinem Vater, keine guten. Alkohol war die einzig kontinuierliche Kraft in diesen Tagen. Papa arbeitete auf dem Bau und brachte seinen Lohn in die umliegenden Kneipen. Wahrscheinlich hat er auch etliche Huren damit beglückt. Eine davon wurde in meinem sechsten Lebensjahr zu seiner festen Freundin auserkoren. Anneliese hieß sie. Sie schaffte in einer Bar an und hörte damit auch nicht auf, als sie mit meinem Vater zusammenzog. Duldete er es, versuchte er, sie davon abzuhalten oder wurde er vielleicht sogar ihr Zuhälter?

Doch erst lagen noch einige Jahre mit ihm vor uns. Jahre der schwelenden Gewalt. Jahre der Angst, wenn Papa nicht gleich nach Feierabend nach Hause kam. Denn dann war klar, dass er nicht nüchtern heimkommen würde. Diese Erinnerungen werden mir von meiner Mutter immer abgesprochen: „Du warst ja noch viel zu jung, um dich daran erinnern zu können.“

Sei es drum. Ich erinnere mich an schwere Aschenbecher, die als Wurfgeschosse eingesetzt wurden. Ich erinnere mich an ein Messer, das die Luft durchschnitt und direkt hinter mir in meinem Bettchen in die Matratze eindrang. Ich erinnere mich an Schreien, an Panik. Ich erinnere mich, als Jürgen, der einzige Bruder, meinen Vater mit dem Messer bedrohte, am ganzen Leib zitternd. Voller Furcht vor dem Gewaltigen und doch bereit, mit seinem Leben das meiner Mutter zu verteidigen. Einmal mehr hatte Papa auf sie eingeschlagen und schien nicht mehr aufhören zu wollen. Wie alt mag Jürgen da gewesen sein? Acht, vielleicht neun Jahre alt? Zu keiner Zeit habe ich die ewige Anspannung, das unheilvolle Warten auf Papas Heimkommen vergessen. Dieses Gefühl: Es gibt keine Sicherheit. Niemals, nirgendwo, nicht für mich.

Und weg mit mir

Es ist vorbei. Wie oft habe ich davon geträumt, dieses beschissene Leben endlich wegzuwerfen. Genauso oft war mir klar, dass ich meine Kleinen nicht alleine lassen darf. Doch ich lasse sie ja nicht alleine zurück. Sie haben einen Vater. Und zwar einen wirklich liebevollen. Georg wird sie zu sich holen, sie werden wieder nach Hause ziehen können. Ein Zuhause hatten sie bei mir nie. Wie auch? Ohne inneres Zuhause kann man keinem Anderen ein Heim geben.

Meine Kleinen sollen ein Heim haben. Wenn ich erst mal aus dem Weg bin. Ich war doch immer nur im Weg. Allen. Mein Leben war einfach ein Fehlgriff Gottes. Den es eh nicht gibt. Denn was sollte das wohl für einer sein? Warum sollte Gott solch beknackte Menschen wie mich denn erschaffen, wenn er allmächtig ist? Als Mädchen geboren, obwohl ein Junge bestellt war. Und dann dieses verkorkste Umhertaumeln, das sich mein Leben nennt.

Suff, Partys, Haschisch und immer neue Kerle. Mehr Jugend war nicht drin. Und immer wieder diese grauenvollen Träume von noch mehr Männerhänden an meinem Körper. Von unzähligen Schwänzen in allen Körperöffnungen. Ich will nicht mehr. Nicht mehr sehen. Nicht mehr hören. Nicht mehr fühlen.

Zwei Röhrchen Valium und anderes feines Zeugs. Das haut sicher einen Elefanten um. Meine Dosis. Elefant im Porzellanladen, grins! Wenn ich schon verrecke, dann aber bitte mit einem breiten Grinsen und einem letzten „Lecktmich-alle-am-Arsch-Gefühl!“

Das waren meine letzten Gedanken vor zwei Tagen. Die Kids waren bei Mutti. Eine teure Flasche Roten hatte ich mir zum Abschied gegönnt. Wasser und Brot hatte ich mein Leben lang als Grundgefühl. Sterben wollte ich anders.

Die einzigen zwei Grünpflanzen, die in meinem Dunstkreis nicht elendig verreckt waren, bekamen noch einmal eine Tasse Wasser. Um Mutti und vor allem Karina und Johanna die Peinlichkeit des Chaotenhaushaltes zu ersparen, hatte ich drei Stunden lang Betten gemacht, die Küche auf Hochglanz poliert und sogar das Klo geputzt. Auch meine zwei geliebten Kuscheldecken lagen sauber gefaltet auf der Couch. Diesen Anblick gab es selten hier. Wie viele Menschen wohl noch in ihren letzten Atemzügen an ihr Ansehen denken? Und, wie schräg, dass mir gerade dieses „Was-sollen-denn-die-Leute-denken“ immer schon am Arsch vorbeigegangen war. Hatte mir wohl auch in dieser Hinsicht was vorgemacht …