Michaela Abresch

Meermädchen und Sternensegler

Geschichten zwischen Traum und Wirklichkeit

Dunstig und kühl waberte der Morgen über dem Ozean, wie immer bevor es Tag wurde. Der Alte wendete das Boot. El Loco, den Verrückten, nannten ihn die Leute aus dem Dorf. Den richtigen Namen des wortkargen Alten, der im Leuchtturm auf der felsigen Anhöhe hauste, kannte niemand. Er wusste ihn ja selbst kaum noch. Irgendwann vor langer Zeit war er bedeutungslos geworden. Wozu brauchte er einen Namen? Wozu brauchten Dinge einen Namen? Sie existierten, dienten dem täglichen Gebrauch, das genügte. Namen waren so überflüssig wie ein Leck in den Planken.

Der Motor am Heck gab ein eigenwilliges Rasseln von sich, als leide er an der Schwindsucht, ein Zustand, der den alten Mann schon lange nicht mehr beunruhigte. Das Boot war in die Jahre gekommen und der Motor bereits zweimal repariert worden. Sollte er weiter derart röcheln, würde er irgendwann und unvermutet seinen Dienst aufgeben. So war es ihm in der Werkstatt im Dorf gesagt worden und man hatte ihm geraten, schnellstmöglich einen neuen einbauen zu lassen. Ein neuer Motor aber kostete Geld. Geld, das er nicht besaß. Seit der letzten Reparatur war nun fast ein Jahr ins Land gegangen und der Motor tat entgegen aller Prophezeiungen seine Arbeit immer noch.

So fuhr der Alte sorglos mit seinem schwindsüchtigen Boot hinaus, Tag für Tag, um sein hundertmal geflicktes Netz auszuwerfen. Er tat es einzig der Sardinen und der Stockfische wegen, doch pflückte er oftmals auch anderes aus den grob geknüpften Maschen. Seetang, Wellhornschnecken, Treibholz, Fetzen von Plastiktüten, rostige Blechdosen, zerrissene Seile oder wie bei diesem Fang … ein Meermädchen.

Es war kaum größer als eine Sprotte, weshalb der Alte sein eigentümliches Fundstück zunächst nicht bemerkte. Zappelnd wand es sich, nachdem es mitsamt dem Netz über die Bordwand ins Innere des Fischkutters gehievt worden war, in einem Haufen silbriger Sardinenleiber, und schrie um sein Leben. Obschon es sich darüber im Klaren war, dass niemand – außer den Sardinen vielleicht – sein Flehen vernehmen konnte, hörte es nicht auf damit. Meermädchenstimmen sind nur für die wenigsten menschlichen Ohren wahrnehmbar und dieses hier fluchte und zeterte und kreischte, dass es einem alten Seebären zur Ehre gereicht hätte.

Dem Alten indes schien es, als vernehme er außer dem vertrauten Geräusch der sich am Bug brechenden Wellen noch etwas anderes, den Klang fremder Laute, die ihn, hätte er es nicht besser gewusst, an eine menschliche Stimme erinnerten. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und beugte seine arthritischen Knie herunter auf die meerwassergetränkten Bootsplanken, wo er sogleich mit dem Sortieren von Unbrauchbarem und Nützlichem begann. Dabei merkte er nicht, dass er das zweifingerkleine Meermädchen – im festen Glauben, es sei eine Sardine – achtlos mit den anderen in den neben sich stehenden Eimer warf. Glücklicherweise kam es zuoberst zu liegen, wodurch es der Gefahr entging, von den Fischleibern erdrückt zu werden. Zu schwach, um weiter zu schreien, verstummte es und sparte die verbliebene Energie für die Notatmung auf.

Kurze Zeit darauf erreichte der Kutter die sandige, etwa vier Bootslängen messende Bucht unterhalb der Klippe. Der Alte sprang heraus, vertäute den Kahn und breitete das Netz auf den Felsen zum Trocknen aus. Dann schleppte er den Eimer mit seinem Fang hangaufwärts zu dem kleineren der beiden Leuchttürme, der sein Zuhause war. Lange Zeit war der Turm den Seefahrern von unschätzbarem Nutzen gewesen. Seit man aber den neuen in unmittelbarer Nähe errichtet hatte, mehr als dreimal so hoch und weiß und schlank emporragend, stand der alte Turm leer und niemand kümmerte sich darum, als El Loco eines Tages dort Quartier bezog. Die Leute aus dem Dorf hielten den knurrigen, ungepflegten Kauz für einen Sonderling, der keinen Wert auf die Gesellschaft anderer Menschen legte, weshalb man ihm seine selbst gewählte Ruhe ließ. Ein unnützer Alter in einem unnützen Turm.

Der Moment, in dem der Fischer vom Leuchtturm das Meermädchen inmitten der inzwischen reglosen Sardinen entdeckte, war einer derjenigen, die man nie vergisst, weil sie einem noch nach vielen Jahren in solcher Klarheit in Erinnerung sind, dass man glaubt, das Geschehen läge erst einen Tag zurück und nicht ein halbes Leben lang.

Zunächst bemerkte er verwundert, dass ein letztes Fischlein sich mit aller Kraft, wie es ihm schien, noch immer regte. Doch als er seinen Kopf herunter zum Eimer beugte, seine Marinero-Kappe mit zwei Fingern aus der Stirn schob und die Augen unter den buschigen Brauen zusammenkniff, um das unbeugsame Tierchen genauer zu inspizieren, entfuhr ihm ein Ausruf des Staunens. Für einen kurzen Moment erschrak er über seine eigene Stimme, die ihm manchmal fremd war, weil er sie nur selten gebrauchte.

Das Meermädchen zuckte, als sich zwei Finger um seine Taille schlossen, etwas zu grob, aber woher sollte ein Mensch wie dieser hier wissen, wie man ein Meermädchen anfasst, ohne ihm Druckstellen zuzufügen? Mit der freien Hand kehrte der Alte ein paar Weißbrotkrümel und ein Stück Käserinde von der Tischplatte und setzte seinen sonderbaren Fang in der Nähe einer Kaffeepfütze ab. Ohne das winzige Lebewesen aus den Augen zu lassen, griff er nach dem unter dem Tisch stehenden Holzhocker und ließ sich darauf nieder. Er legte beide Hände übereinander auf die Tischplatte und bettete sein Kinn darauf. Auf einer Augenhöhe mit dem kleinen Wesen betrachtete er es eingehend.

Es handelte sich auf keinen Fall um eine Sardine, denn es besaß einen menschenähnlichen Oberkörper, ein ausgesprochen reizendes, wenngleich äußerst blasses Gesichtchen und Haare weiß wie die Meeresgischt, die den kleinen Körper wie ein natürlicher Schutz verbargen. Der Unterkörper wiederum wollte eher zu einer Sardine passen. Er bestand aus blausilbrig glänzenden Schuppen, die in einer akkurat geformten Fischflosse endeten.

Er schnalzte mit der Zunge. Was zum Seeteufel hatte sich da in sein Netz verirrt?

„Was bist du?“, brummelte er, hob den Kopf, rieb sich die Augen und beugte sich erneut herunter.

Vielerorts hörte man von den Jungfrauen aus dem Meer, Märchenerzähler besaßen einen unerschöpflichen Fundus an Geschichten über diese Wesen, doch er selbst hatte den Wahrheitsgehalt solcher Erzählungen seit jeher angezweifelt. Wie also war es zu erklären, dass ein leibhaftiges Meermädchen hier auf seiner Tischplatte lag?

Gerade drehte es sich auf den Bauch und legte sein Gesicht auf die unter dem Kopf verschränkten Arme. Es hielt seine Augen geschlossen. Der winzige Oberkörper hob und senkte sich langsam. Langsamer als noch vor wenigen Augenblicken. Es würde doch nicht hier auf seinem Küchentisch verenden?

„Wasser.“

Eine Feststellung. Nein, ein Geistesblitz! Er sprang auf. Der Hocker scharrte über den Holzfußboden. Im Schrank fand der Alte einen Suppenteller mit angeschlagenen Kanten und einem Sprung in der Glasur. Er trug ihn zum Tisch, goss das vom Morgen übrig gebliebene und inzwischen kalt gewordene Wasser aus dem Kessel hinein und setzte das Meermädchen auf den Tellerrand. Er sah, wie es bei der unvermuteten Berührung erschrocken die Lider hob und ihm aus großen meerblauen Augen mitten ins Gesicht blickte. Wie lange war es her, dass etwas das Herz des alten Mannes zum Hüpfen gebracht hatte? Ein Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel, verschwand jedoch im gleichen Augenblick, da er es bemerkte. Das Meermädchen tauchte bis zum Grund in der Tellermitte, stieß wieder empor, bog und streckte seinen zierlichen Körper und platschte mit der Flosse ins Wasser, sodass feine Tröpfchen aufspritzten.

Hingerissen von ihren Bewegungen versank der Alte in einer Erinnerung, die lange zurücklag.

Ein kleiner Junge, acht oder neun Jahre alt, die schwarzen Haare nassglänzend im Sonnenlicht, ungestüm und lachend in der Brandung des Atlantiks umhertollend – ein erstklassiger Schwimmer, damals schon. Mannshoch waren ihm die Wellen erschienen und der wunderbarste Spielplatz gewesen, den er sich hatte wünschen können. Es war die kindliche Unbekümmertheit, deren Verlust ihm in diesem Augenblick schmerzlich bewusst wurde und die er verloren hatte, irgendwann, vielleicht als er erwachsen geworden war, Pflichten erfüllen und Verantwortung übernehmen und den kleinen Jungen an einem Ort zurücklassen musste, zu dem er nie wieder zurückkehren konnte. Vielleicht hatte er damals aufgehört, die Dinge beim Namen zu nennen.

Als der Alte merkte, dass die Erinnerungen über ihm zusammenzuschlagen drohten, schüttelte er sie ab. Darin war er geübt. Er sah das kleine Wesen an den Tellerrand schwimmen und sich mit einer Bewegung voller Anmut auf demselben niederlassen. Wieder blickte es zu dem Alten auf, Wassertröpfchen glänzten wie winzige Perlen in den langen Wimpern.

„Danke! Du hast mir das Leben gerettet!“

Der Alte brummelte vor sich hin. Für gewöhnlich dankte ihm niemand. Wofür auch? Er gab niemandem einen Grund, ihm zu danken.

„Kannst du mich hören?“, fragte es, als er es schweigend anstarrte.

Er nickte.

„Wirklich?“ Ein zauberhaftes Lächeln zog über das Meermädchengesicht und wärmte damit das Herz des Alten.

Wieder nickte er.

„Normalerweise versteht ihr Menschen uns nicht“, fügte es hinzu. „Anscheinend bist du nicht wie die anderen.“

Mit dem Zeigefinger kratzte er sich hinter dem Ohr. Das hier überstieg sein Denkvermögen. Hatte er nicht noch etwas Hochprozentiges irgendwo im Küchenschrank? Vielleicht war es ratsam, einen Schluck zu nehmen.

„Sprich doch bitte mit mir!“, hörte er das flehende Stimmchen.

„Ja, ja“, brummte er, stand auf, schlurfte zum Schrank und öffnete nacheinander alle Türen, bis er zwischen einer Tüte Reis und einer angebrochenen Dose Pulverkaffee fand, wonach er suchte. Er drehte den Deckel ab und roch am Flaschenhals, bevor er ansetzte und einen ordentlichen Schluck nahm. Warm und wohlig rann ihm der Kräuterschnaps die Kehle herunter. Ein guter Einfall. Nun war er bereit, sich auf ein Gespräch mit dem Ding in seinem Suppenteller einzulassen.

Er räusperte sich.

„Bist nichts zum Essen“, stellte er fest. Derart viele Worte an einem Tag hatten die Lippen des alten Fischers seit Jahren nicht mehr verlassen, wie er mit Verwunderung feststellte.

Das Meermädchen glitt lachend zurück ins Wasser, paddelte quer durch den Suppenteller und setzte sich auf den gegenüberliegenden Tellerrand.

Nachdenklich wog der Alte den Kopf hin und her. Das hier war zweifellos etwas Lebendiges, etwas Menschliches, teilweise jedenfalls. Ein rascher Blick streifte die Schwanzflosse, die auf grazile Weise die angeschlagene Kante des Tellers verdeckte.

Die Kleine begann, mit beiden Händen ihre Haare zu einem dicken Zopf zusammenzudrehen und das Wasser herauszukneten. Dabei rannen kleine Tropfen über ihr Gesicht, die sie nicht zu stören schienen. Sie sah bezaubernd aus. Dann lachte sie. Hell, klar, silbrig wie die Schuppen ihrer Schwanzflosse.

„Nein“, rief sie ihm zu. „Ich gehöre nicht zu den Meerestieren, wenn du das meinst. Kein Fisch. Keine Muschel. Keine Krabbe. Keine Garnele.“

„Sondern?“

„Ein Meermädchen bin ich!“, rief sie ausgelassen, lachte wieder und sah dabei so hinreißend aus, dass der Alte das Bedürfnis nach einem weiteren Schluck Kräuterschnaps verspürte.

„Ein Meermädchen …“, sagte er verwundert, die Flasche an die Lippen setzend.

„Und wer bist du?“, fragte sie.

Ein Hustenanfall schüttelte den Alten und zwang ihn dazu, die Flasche abzusetzen. Sie kippte, als er sie auf dem Tisch abstellte. Erst im letzten Moment konnte er sie vor dem Umfallen bewahren. Bei allen Schutzengeln der Seefahrer! Wollte sie etwa seinen Namen wissen? Er hustete, bellte und räusperte sich in einem fort, so lange, bis ihm eine ausweichende Antwort einfiel.

„Ein alter Mann“, erwiderte er etwas undeutlich und hoffte, sie würde sich damit zufrieden geben.

Das tat sie jedoch nicht. „Und besitzt der alte Mann einen Namen?“

Er seufzte. „Einen Namen …“, wiederholte er und bemerkte, dass durch ihre Frage ein winziger Riss in seinem über Jahre errichteten Schutzwall aufbrach, lautlos und ohne, dass er es verhindern konnte. Alles in ihm sträubte sich. Er wollte nicht mit einem Meermädchen über Namen sprechen, schon gar nicht über seinen eigenen. Für einen kurzen Moment zog er es in Betracht, den Inhalt des Suppentellers einfach vor die Tür zu schütten. Doch ein Blick in das herzförmige Gesichtchen hielt ihn davon ab.

Mit einem weiteren tiefen Seufzer zog er sich den Hocker heran und setzte sich.

„Einen Namen …“, wiederholte er ein zweites Mal, atmete tief, spürte den Schmerz. „Doch, hatte ich. Aber keiner benutzt ihn mehr.“

„Einen Namen zu haben und ihn nicht zu verwenden klingt eigenartig. Dinge und Lebewesen brauchen einen Namen.“ Nachdenklich blickte sie zu dem Alten auf.

„Wozu soll das gut sein?“ Die Dinge in seinem Leben brauchten keinen Namen. Sie waren da, das musste reichen.

„Fühlst du dich nicht unvollständig ohne Namen?“

„Unvollständig?“ Der Alte runzelte die Stirn. Was stellte sie für seltsame Fragen? Fühlte er sich unvollständig? Fühlte er sich überhaupt irgendwie? Solcherlei Gedanken hatten im Kopf eines alten, verschrobenen Fischers keinen Platz. Er sah zu, dass er jeden Tag einen Fisch in den Bauch bekam und die Stunden hinter sich brachte. Wie er sich dabei fühlte, spielte keine Rolle.

„Weiß nicht …“ Er wandte sich ab. Das Gespräch wurde ihm zu anstrengend. Er fragte sich, warum die Schriftsteller in ihren Geschichten über die Jungfrauen aus dem Meer deren Hartnäckigkeit verschwiegen. Vielleicht hatten sie alle noch nie ein solches Exemplar auf dem Küchentisch sitzen gehabt wie er.

„Gibt es etwas, auf das du nicht verzichten kannst?“, fragte das Meermädchen in diesem Moment und fuhr sich dabei mit den nassen Händen über die Schwanzflosse.

„Mein Boot.“ Er hatte nicht überlegen müssen.

„Gut! Wie heißt dein Boot?“

„Es hat keinen Namen.“

„Boote haben immer Namen! Das weiß ich sehr genau. Also, denk nach, wie heißt deins?“

Der Alte überlegte. Er entsann sich einer Zeit, längst vergangen, da noch leuchtend rote Farbe und ein breiter grüner Streifen das Äußere des Bootsrumpfes geziert hatten. In jener Zeit hatte tatsächlich ein Name auf der vorderen Steuerbordseite gestanden. Mit den Jahren hatten Salz, Sonne und Feuchtigkeit ihn verschwinden lassen. Der Alte hatte nie eine Veranlassung gesehen, ihn aufzufrischen und so war der Name irgendwann verblasst, nicht nur auf dem Bootsrumpf sondern auch in seinem Gedächtnis.

Er seufzte schwer. „Hab ihn vergessen.“

Klang es nur gleichgültig oder lag auch eine Spur Bedauern in seinen Worten? Sein Herz schlug hart gegen den Brustkorb, als seien Steine in Bewegung gekommen, die nun, einer nach dem anderen, mit jedem Pochen des Herzens, einen Abhang herunterrollten. Wie war es möglich, dass das kleine Wesen in seinem Suppenteller all dies in ihm auslösen konnte?

„Du hast ihn vergessen …?“ Fassungslos blickte das Meermädchen zu ihm herauf. „Du besitzt ein Boot, sagst, dass du nicht darauf verzichten kannst, und dennoch ist es dir so unwichtig, dass du seinen Namen vergessen hast? Willst du dich später nicht daran erinnern?“

„Erinnern? Später?“

Warum sollte er sich an seinen Kutter erinnern wollen? Worin lag der Sinn, an später zu denken?

Das Meermädchen schüttelte den Kopf, Wassertröpfchen spritzten aus seinem Haar.

„Ihr Landbewohner seid so einfältig! Denkst du nie darüber nach, dass vielleicht irgendwann einmal eine Zeit kommen könnte, in der du von deinen Erinnerungen leben musst? Und weißt du denn nicht, dass du dich dann an all das, was jemals in deinem Leben einen Namen hatte, weil es wichtig für dich war, zuerst erinnern wirst?“

Der Alte schwieg. Die Flasche hatte er zur Hälfte geleert. Kopf und Magen begannen zu rebellieren. Er hatte in der Frühe nur einen Becher Kaffee getrunken, der Kräuterschnaps rumorte in seinem Bauch und trieb ihm die Schläfrigkeit in die Augen. Er blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Kopfschüttelnd glitt das Meermädchen ins Wasser. „Es sollte kein namenloses Boot geben“, sinnierte es. Es sprach wie zu sich selbst, doch laut genug, dass der Alte es verstehen konnte. „Boote ohne Namen können verschwinden, ohne eine Erinnerung zu hinterlassen. Du solltest ihm einen Namen geben.“

„Unsinn!“, fauchte der Alte. Wozu brauchte sein Boot einen Namen, wenn nicht einmal er selbst einen brauchte? Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und bettete den Kopf darauf. Die Lider wurden schwer. Übelkeit stieg in ihm auf. Beim nächsten Mal würde er frühstücken, bevor er dem Kräuterschnaps zusprach.

Nie hatte er davon gehört, dass Meermädchen imstande waren, Gedanken zu lesen, und doch schien es so zu sein, denn im gleichen Moment hörte er sie fragen: „Wie nannten dich die Leute, als du noch einen Namen hattest?“

Teufel nochmal! Als hätte eine Feuerqualle seine Haut berührt, sprang er auf, stieß dabei den Hocker um, der krachend zu Boden fiel, und taumelte mit schwankenden Schritten zum Fenster. Er blickte hinaus. Weit draußen erhoben sich die Wellenkämme. Er sah, wie sie heran rollten und sich an der Klippe brachen.

„Enrique.“ Sein Name. Fremd und doch vertraut, wie ein lange nicht benutzter Gegenstand. Verloren. Vergangen.

„Also doch!“, rief das Meermädchen.

Er drehte sich zu ihr herum und bemerkte das Strahlen in ihren Augen. Ihm wurde warm, wärmer als nach dem Kräuterschnaps. Es gefiel ihm. Sie sollte weiter strahlen. Er hatte vergessen, wie gut es tat, von jemandem angelächelt zu werden. Ob auch sie einen Namen hatte? Unvermittelt hatte sich die Frage eingeschlichen, er erschrak, aber es war zu spät, die Worte herunterzuschlucken. Sie purzelten schneller über seine Lippen, als er sie aufhalten konnte.

„Und du?“

Er räusperte sich, sah sie voller Erwartung an, hoffte, sie würde ihn und seine Einsilbigkeit verstehen. In seinem Kopf drehte sich der Schwindel. Beide Hände gegen die Schläfen gepresst, trat er zurück an den Tisch, suchte an ihm Halt und starrte das Meermädchen an. Sie war das entzückendste Geschöpf, das es je in seinem Leben gegeben hatte.

„Ich?“ Sie lachte und schlug vergnügt mit beiden Händen ins Wasser, sodass es Kreise um sie herum zog und eine kleine Fontäne aufspritzte, bis hinauf in sein stoppelbärtiges Gesicht. „Ich kam zwischen den Seesternen zur Welt, deshalb nennt man mich Estrellita.“

Und sie schwamm und tauchte ins Wasser ein und wieder auf und räkelte sich auf dem Grund des Suppentellers, hüllte ihren Körper in die Flut ihres gischtfarbenen Haares und wann immer sie an die Oberfläche stieß, rief sie ihren und Enriques Namen.

„Estrellita“, murmelte er. Ein hübscher Name, er passte zu ihr. Er beobachtete sie, wiederholte ihren Namen, zweimal, dreimal. Estrellita, das Meermädchen. Ihr Name machte sie vollständig. Er verstand, was sie vorhin gemeint hatte.

„Enrique“, erwiderte sie. Lachte ihn an, winkte ihm zu, wärmte sein Herz.

Später, nachdem er ins Bett gefallen und auf der Stelle eingeschlafen war, besuchte sie ihn im Traum. Sie ritten auf den Wellen und sie nahm ihn mit zum Riff. Unter Wasser konnte er atmen wie sie und er berauschte sich an den Farben und an der Lebendigkeit seiner kleinen Gefährtin, die den Weg kannte und ihm vorausschwamm.

Am nächsten Tag erwachte er mit einem Kopf, in dem es schlimmer dröhnte als im Bauch eines Dampfers. Seine Zunge klebte pelzig und trocken am Gaumen. Er blinzelte ins Licht. Wie in einem Nebel verflüchtigte sich sein Traum. War am Ende alles nur eine Einbildung gewesen, eine aus der Einsamkeit geborene Illusion? Der Gedanke gefiel ihm nicht.

Er schwang die Füße aus dem Bett und schlurfte, eine Hand an die Stirn gepresst, in die Küche. Der erste Blick in den Suppenteller verriet ihm, dass etwas nicht stimmte. Die Haut des Meermädchens hatte sich grau verfärbt, den Silberschuppen fehlte jeglicher Glanz. Müde ruhte der kleine Körper auf dem Grund des Tellers und erst als der Alte einen Finger ins Wasser eintauchte, öffnete das Meermädchen die Augen. Mit letzter Kraft stieß es sich ab und kam an die Oberfläche.

„Was ist mit dir?“, fragte der Alte. Die Worte kratzten in seinem Hals, er brachte sie kaum heraus. Stumpf blickten die meerblauen Augen zu ihm auf.

„Das Wasser …“, hauchte sie so leise, dass der Alte sie beinahe nicht verstanden hätte.

Eine steile Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen.

Das Meermädchen hob die schmalen Schultern.

„Es fühlt sich anders an … auf meiner Haut.“ Stockend und mit flatterndem Augenaufschlag brachte sie die Worte heraus.

Der Alte mochte ein Außenseiter sein, ein wortkarger Tölpel, dessen liebste Gefährtin die Einsamkeit geworden war, aber folgerichtig denken konnte er allemal. Dass er darauf nicht tags zuvor schon gekommen war! Er hatte Estrellita zwar Wasser gegeben, aber ganz sicher unterschied es sich in seiner Zusammensetzung erheblich von ihrer natürlichen Umgebung im Ozean.

Er drehte sich um, ging zum Schrank. Seinen Brummschädel versuchte er zu ignorieren. Irgendwo musste doch die Dose mit dem Salz … wo hatte er sie nur …? Da! Rasch schraubte er den Deckel ab, warf einen ratlosen Blick hinein. Sie war zur Hälfte gefüllt, doch wie viel war nötig? Ein Löffel voll, zwei? Zuviel würde dem Meermädchen womöglich schaden.

„Will dich nicht versalzen“, brummte er und zerrieb fürs Erste eine Prise zwischen den Fingern.

„Mehr?“, fragte er mit sorgenvollem Blick auf das unverändert schläfrige Meermädchen.

„Ja, Meer“, flüsterte sie. „Bring mich zurück ins Meer.“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, schnürte ihm das Herz zu. Er begriff nicht, woher dieses Gefühl rührte, aber es war stark genug, den Teller sogleich mit einer unbeholfenen Geste in beide Hände zu nehmen und ins Freie zu tragen.

Es musste später Nachmittag sein, die Sonne stand knapp über der schmalen Linie am Horizont, die den Himmel vom Ozean trennte. Enrique folgte dem Pfad hangabwärts. Als er das Ufer erreichte, war das Wasser bis auf eine winzige Lache aus dem Suppenteller geschwappt. In ihr kauerte, zusammengekrümmt und mit bleichem Gesicht, das Meermädchen.

Der Alte stellte den Teller in den Sand, kniete sich nieder und schöpfte mit der hohlen Hand Meerwasser hinein. Dabei ließ er Estrellita nicht aus den Augen, gewahrte ihre geschlossenen Lider, die zitternden Lippen, die schwachen Bewegungen ihrer Arme. Ein Stich durchzog seine Brust. Was konnte er nur tun, um sie zu retten?

Doch bevor sich die Sorge um das Leben des Meermädchens tiefer in sein Herz grub, beobachtete er, wie mit einem Mal die Müdigkeit aus dem Meermädchen wich und die Silberschuppen wie durch einen Zauber ihren Glanz zurückerlangten. Hörbar atmete er auf.

„Besser?“, fragte er, ohne sich seine Erleichterung eingestehen zu wollen.

Estrellita nickte. Dann glitt sie auf den Tellerrand, wo sie sich mit den Armen abstützte und aufreckte. Enrique bemerkte ihren Blick, der still übers Meer wanderte und in dem sich Heimweh und Sehnsucht vereinten. Für einen kurzen Moment tauchten die Farben des Riffs aus seinem Traum vor ihm auf, Korallen, Schwärme von bunten Fischen, leuchtende Muscheln auf dem sandigen Grund, und er wusste, dass das Meermädchen ein Teil dieser Welt war. Sie gehörte nicht in einen Suppenteller auf den schäbigen Küchentisch eines alten Fischers.

„Kannst nicht hierbleiben.“ Er sagte es leise, weil er wusste, dass es gesagt werden musste, aber nicht wollte, dass sie es hörte.

Sie sah zu ihm auf. „Sie rufen nach mir“, wisperte sie, jedes Wort erfüllt von Heimweh.

Er wartete nicht. In seinen Händen trug er sie ins Wasser. Er spürte ihr Zittern wie ein zartes Vibrieren, das bis in sein Herz strömte. Die nächste Welle nahm sie mit. Er hörte, wie sie ein letztes Mal seinen Namen rief, bevor sie kopfüber abtauchte.

Er blieb am Ufer stehen, bis die Sonne untergegangen war und die Lichtsignale des Leuchtturms die Dämmerung durchbrachen.

Zurück auf der Anhöhe stapfte er in den Bretterschuppen hinter dem Turm. Zwischen Gerümpel und einem rostigen Fahrrad fand er einen Eimer mit Farbe und einen verklebten Pinsel, den er mit Terpentin auswusch. Kurze Zeit später kniete er neben seinem Boot, das in der Bucht auf dem Trockenen lag.

Wie hatte er nur all die Zeit mit einem namenlosen Kutter hinausfahren können? Er gab sich Mühe, schrieb die Buchstaben sorgfältig und mit Bedacht, und war fertig, bevor die Nacht hereinbrach. Seine Arbeit betrachtend trat er einen Schritt zur Seite. Der Abendwind wärmte sein faltiges Gesicht, trocknete den Namen auf der Steuerbordseite und das mit wenigen Strichen gezeichnete Meermädchen daneben.

Er hob den Kopf, lauschte. Die Wellen schlugen an den Fels, umarmten die Klippe, so wie immer. Doch mischte sich nicht noch ein anderes Geräusch darunter, ein sanftes Flüstern, das die vom Meer heranstreichende Brise ihm zutrug?

Enrique …

Ein Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel, er schloss die Augen. Wie gut es tat, wieder einen Namen zu haben!