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Inhalt

Für C., die schönste und größte Herausforderung,
der ich mich ein Leben lang stellen möchte

Prolog

An einem trüben Tag im November 2013 kehrt die Stasi in mein Leben zurück. Ich bin auf dem Weg nach Greifswald. Während ich im Auto sitze, merke ich, wie sehr ich mich auf den Abend freue. Die Stadt und die nahe gelegene Ostsee sind für mich Heimat, und Besuche dort bedeuten immer eine Reise zu langjährigen Freunden. Schon als Jugendliche bin ich, so oft es ging, ans Wasser gefahren. Von der Mole aus habe ich dann im Greifswalder Hafen auf den Bodden geschaut. Es war ein Gefühl absoluter Freiheit, das ich sonst so oft vermisst habe.

Ein Freund von mir feiert seinen runden Geburtstag. Wir kennen uns aus meinen Jahren in der PDS. Als ich in der Gaststätte ankomme, in der gefeiert wird, bin ich eine der Ersten. Die Frau des Geburtstagskindes begrüßt mich und geht mit mir die Tische mit der Sitzordnung ab. Sie hat mich an einen Tisch mit gemeinsamen Freunden gesetzt. Es trifft mich wie ein Schlag, als ich die Kärtchen auf dem Nachbartisch entdecke: »Jörg S.« steht auf einem, auf dem daneben der Name seiner Frau. Einen Moment lang kann ich nicht atmen. Sofort habe ich ein Bild im Kopf: Jörg, der immer eine schwarze Umhängetasche mit sich trug. Der Mann, dem ich als Jugendliche von meinen Sorgen erzählte. Der Mann, der laut meiner Akte einer meiner »Führungsoffiziere« war. Das letzte Mal hatte ich ihn im Bundestag getroffen, als ich als Abgeordnete eine Jugendgruppe aus Greifswald empfing. Er war als einer der Betreuer dabei, worüber ich vorher nicht informiert gewesen war.

Ich wusste, dass mein Gastgeber ihn schon länger kennt, weil beide in der Linkspartei aktiv waren. Aber mir war nicht klar, dass der Kontakt so eng ist. Ich habe an jenem Abend nicht mit Jörg S. gerechnet.

Von den anderen Gästen weiß niemand, welche »Beziehung« ich zu S. hatte, auch der Gastgeber nicht. Ich beschließe, mir die Feier nicht vermiesen zu lassen. Die nächsten Stunden bin ich in Gespräche mit alten Freunden und Bekannten verwickelt. Ich sitze mit dem Rücken zum Raum, sehe nicht, wer kommt. Aber Jörg geht mir nicht aus dem Kopf. Irgendwann drehe ich mich um und blicke ihm direkt ins Gesicht. Er nickt mir zu.

Es ist schon spät am Abend, als mich eine Freundin an ihren Tisch holt, an dem auch er mit seiner Frau sitzt. Ich kann nicht ablehnen, ohne aufzufallen. Aber die Nähe zu ihm ist mir unangenehm. Er selbst scheint das nicht zu bemerken. Schnell entsteht eine politische Diskussion in der Runde. Die Freundin will von mir wissen, ob ich es richtig finde, dass die SPD jetzt nach der Bundestagswahl eine Große Koalition mit der Union erwägt.

Fast noch schlimmer als die Nähe zu S. finde ich, dass seine Frau, die neben ihm sitzt, durch mich hindurchschaut. Ich weiß, dass sie mir übel nimmt, dass ich 2003 aus der PDS ausgetreten und später in die SPD eingetreten bin. Sie hält das für »Verrat«. Aber eigentlich denken beide so.

Es ist eine surreale Situation. Da sitze ich also in einem Restaurant und diskutiere mit einem ehemaligen Führungsoffizier über die politische Zukunft anstatt über die Vergangenheit. Währenddessen schweigt mich seine Frau betont wegen meiner politischen Gegenwart an. Ich werde das Gefühl nicht los, dass beide meine Mitgliedschaft in der SPD schlimmer finden als das, was er früher mit Jugendlichen gemacht hat. Am liebsten würde ich beide anbrüllen: Habt ihr, die ihr selbst Eltern seid, zu Hause jemals darüber gesprochen, dass Jörg einst Kinder für eine Diktatur instrumentalisiert hat? Dass er manche von ihnen dazu gebracht hat, Freunde, Verwandte und Mitschüler zu verraten?

Jörg merkt nichts von meinem inneren Kampf. Er strahlt auf mich eine große Gelassenheit aus, die mich deprimiert. Irgendwann halte ich die Situation nicht mehr aus und gehe vor die Tür. Er kommt mir nach. Ich ertrage seine Ruhe nicht. »Wie geht’s dir?«, fragt er in kumpelhaftem Ton. Ganz so, als wäre es das Normalste der Welt, hier mit mir zu stehen und zu reden.

Mir gehe es prima, antworte ich abfällig. »Wenn man davon absieht, dass mal wieder die Stasi-Geschichte recherchiert wird.« Ich hatte kurz zuvor von einer Freundin erfahren, dass ein großes Magazin sich für meine Vergangenheit interessiert.

»Wieso? Wir haben doch alles vernichtet«, erwidert S. seelenruhig.

Ich werde immer wütender: »Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ihr mich benutzt habt.«

Er will etwas antworten, aber seine Frau ruft ihn. Sie will gehen. »Wir können ja mal telefonieren«, sagt er zu mir. »Ich habe ja noch deine Handynummer.« Dann verschwindet er in der Dunkelheit.

Ich bleibe zurück, vollkommen aufgewühlt. Der Abend ist für mich gelaufen. Ich fühle mich, als ob es Jörg gelungen wäre, die Vertrautheit von früher herzustellen. Die Stasi und ich auf der einen Seite – und der Rest der Welt auf der anderen. Aber ich bin nicht auf der Seite der Stasi, bin es nie gewesen. Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass die Stasi ewig Macht über mich haben wird, wenn ich weiter schweige. Der Moment, in dem ich mich entschließe, dieses Buch zu schreiben. Ich musste dafür weit in die Vergangenheit zurück, Verdrängtes hervorholen und Erinnerungen zusammensetzen. Das war nicht leicht, denn gerade Erinnerungen sind subjektiv. Dieses Buch basiert auf meinen Erinnerungen und meiner Interpretation der Ereignisse in meinem Leben. Ich ahnte nicht, dass mich diese Entscheidung bald an meine Grenzen bringen würde. Und darüber hinaus.

1 Enthüllung

Zwölf Jahre zuvor hatte mich die Stasi schon einmal eingeholt. Völlig überraschend und mit einer Macht, die mich fast zerstört hätte. Auch damals, im Mai 2002, war ich unterwegs nach Greifswald zu Freunden. Ich war 30 Jahre alt, studierte Politologie, war zwei Jahre lang stellvertretende Parteivorsitzende der PDS gewesen und inzwischen Bundestagsabgeordnete.

Ich war 1990 über die damalige AG Junge GenossInnen (AGJG) in Greifswald zur PDS gekommen. Das war eine Struktur, in der sich die Jüngeren parteiintern organisiert hatten. Was dann folgte, war eine auch für mich selbst atemberaubende Karriere. Im Januar 1991 wurde ich, noch nicht einmal 20-jährig, in den Bundesvorstand gewählt. Ein gutes Jahr später zog ich nach Berlin, um künftig hauptamtlich als Jugendreferentin des Parteivorstands zu arbeiten. Mit Anfang 20 verdiente ich monatlich 4500 DM, eine Tatsache, die ich mir als in der DDR aufgewachsene Jugendliche nie hätte träumen lassen.

Für die Medien war ich interessant, weil ich jung und mit meinen gefärbten Haaren optisch auffällig war. Ich passte nicht ins Klischee des typischen PDS-Funktionärs. 1995 wurde ich zur stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Es war nicht nur für die PDS, sondern überhaupt einmalig, dass eine 23-Jährige Vizechefin einer Partei wurde. Und so zierte ich, oft als »PDS-Punkerin« bezeichnet, zum Beispiel das Titelbild der Emma, saß mit Uschi Glas und der Regisseurin Margarethe von Trotta in der Talkshow von Alfred Biolek oder wurde von der »Mutter der Nation«, Inge Meysel, bei »3nach9« so sehr ins Herz geschlossen, dass der Berliner Kurier und die SUPERillu neugierig fragten: »Erbt Angela ihre vielen Millionen?« Sie hatte mir nach unserem Kennenlernen ein Jahr lang monatlich 100 Mark zu meinem Studium dazugegeben.

1998 folgte der Sprung in den Deutschen Bundestag, über die Landesliste Mecklenburg-Vorpommern. Ich war inzwischen 27 Jahre alt. Trotz des öffentlichen Erfolges wuchsen in dieser Zeit als Abgeordnete bei mir die Zweifel. Ich hatte zunehmend das Gefühl, dass mir politisch und inhaltlich Substanz fehlte. Dadurch ging auch die Kreativität verloren. Mein Studium kam nicht voran, mein Einsatz im Jugendwahlkampf und die zahlreichen öffentlichen Auftritte führten dazu, dass ich atemlos durch mein Leben hetzte.

Außerdem nervte mich, dass mich viele in der Partei immer noch als die »kleine Angela« sahen, die freche junge Frontfrau. Andere nahmen mir übel oder besser neideten mir, dass ich ihrer Meinung nach von der Parteiführung immer auf ein Podest gehoben wurde.

Zwischen meiner Partei und mir wuchs die Distanz. Die PDS, die bei der Bundestagswahl 1998 zu ihrer eigenen Überraschung mit fünf Prozent Fraktionsstatus erreicht hatte, wurde weder ihren eigenen Erwartungen noch denen ihrer Anhänger gerecht. Einige Genossen reagierten auf die Schwäche der Partei mit einer Art ideologischem Rollback. Je länger sie in der Bundesrepublik lebten, desto mehr sehnten sie sich nach der DDR zurück. Ich, die ich zwar wie sie Ostdeutsche war, mich aber in der »neuen« Bundesrepublik nie als Bürgerin zweiter Klasse gefühlt hatte, konnte mit dieser Denkweise nichts anfangen. Mir war immer bewusst, dass die Wende für mich eine Befreiung und Riesenchance gewesen war. Auch deshalb befremdete mich die Nostalgie in meiner Partei zunehmend. Natürlich war mir bewusst, dass ich mich in einer privilegierten Situation befand: Ich hatte keine Arbeit und keinen Status verloren, hatte keine Existenzängste. Ich war als Abiturientin in die Bundesrepublik gekommen. Die Welt stand mir offen. Ich konnte sie endlich über Greifswald und Moskau hinaus entdecken. Ich persönlich hatte nur gewonnen. Dieses Grundgefühl war trotz meiner wachsenden Unzufriedenheit im Mai 2002 natürlich immer noch vorhanden. Dass sich mein Leben nur wenige Wochen später grundlegend geändert haben würde, ahnte ich nicht. Und erst recht nicht, was dafür der Auslöser sein würde.

Ich war auf der Autobahn, als mein Handy klingelte. Über die Freisprechanlage hörte ich die Stimme von Roland Claus, unserem Fraktionschef. Er habe einen Anruf von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erhalten. Es sei eine Stasi-Akte über mich gefunden worden. Roland klang nüchtern. Dass es bei den Älteren in unserer Fraktion bei diesem Thema immer wieder Enthüllungen gab, war er gewohnt. Aber nun passierte das ausgerechnet mit einer seiner jüngsten Abgeordneten.

Ich stand unter Schock. Ich hatte keine Ahnung, was in dieser Akte stand. Aber ich spürte, dass mich etwas einholte, von dem ich nicht wollte, dass es wieder in mein Leben drang. Es war nicht das Thema Stasi, das mir in diesem Moment Angst machte. Sondern die Familiengeschichte, die sich damit verband. Seit Jahren hatte ich kaum Kontakt mehr zu meiner Familie. Mit fast 16 war ich aus dem Haus und eigene Wege gegangen – aus gutem Grund. Doch nun würde alles zurückkehren. Ich fühlte mich unglaublich leer.

An den Rest des Tages habe ich nur noch Erinnerungsfetzen. Wie ich bei den Freunden eintraf, sie kurz informierte und in den Arm genommen wurde. »Du kannst nichts dafür«, sagten sie. Aber das beruhigte mich nicht. Wie ich mit ihnen am Tisch saß und redete. Und dann wieder, wie ich im Garten stand und panisch meine Mutter anrief.

Ich erzählte ihr vom Aktenfund. Das Gespräch war nicht sehr lang. Sie wollte nach Berlin kommen. Die Frage, die ich ihr hätte stellen sollen, kam mir erst viel später in den Sinn: Warum hatte mich meine Mutter nicht beschützt?

Am nächsten Tag fuhr ich nach Berlin zurück. Ich hatte kaum geschlafen, aber war entschlossen, mich der Sache zu stellen. Knapp einen Monat später, zufälligerweise an einem 17. Juni, stand ich vor dem Gebäude der Behörde des – so der volle Name – Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), die nach ihrer damaligen Chefin »Birthler-Behörde« genannt wurde. Mit dabei war auch mein langjähriger Anwalt, der spätere Grünen-Politiker Volker Ratzmann.

Zu diesem Zeitpunkt wussten wir zumindest, dass meine Akte in der Rostocker Außenstelle der Behörde gefunden worden war. Ein Redakteur des Magazins Der Spiegel war wohl im Zuge eines Rechercheprojekts über Kinder und Jugendliche und das Ministerium für Staatssicherheit darauf gestoßen. So jedenfalls wurde es mir damals kommuniziert. Auf meine Anfrage hin hatte ich schnell einen Termin zur privaten Akteneinsicht bei der Behörde bekommen. Klar war inzwischen auch, dass es sich um eine IM-Akte handelte. Ich hatte eine »Täterakte« – diese Feststellung schockierte mich zusätzlich.

Die Zeit drängte. Der Immunitätsausschuss des Bundestags hatte ein Überprüfungsverfahren eingeleitet. Zwar hatte er nicht die Macht, das Abgeordnetenmandat zu entziehen, aber sein Urteil war trotzdem von Bedeutung.

Als Betroffene hatte ich die Wahl, persönlich auszusagen oder nicht. Für mich hatte es nie auch nur den geringsten Zweifel gegeben, dass ich mich den Fragen dort stellen würde. Aber dafür musste ich selbst wissen, was überhaupt in der Akte stand. Dem Immunitätsausschuss selbst lagen lediglich fünf Blätter vor. Fast alle waren nach meinem vollendeten 18. Lebensjahr entstanden. Nur eines stammte aus einer früheren Zeit. Es war meine Verpflichtungserklärung. Ich hatte sie geschrieben, als ich 15 Jahre alt war.

Die eigentliche Akte, zumindest das, was gefunden worden war, war viel umfangreicher, circa 100 Seiten. Ein Mitarbeiter der Behörde legte sie uns wortlos hin und ließ uns dann in einem kleinen Raum allein. Am Anfang lasen mein Anwalt und ich gemeinsam, aber relativ schnell ertrug ich die Lektüre nicht mehr und schob ihm die Blätter wortlos hin. Gute drei Stunden lang blätterte Ratzmann Seite für Seite um, stellte zwischendurch ab und zu Fragen. Ich saß wie erstarrt daneben. Als er fertig war, fragten wir den Mitarbeiter, ob ich eine Kopie mitnehmen könne. Ich konnte. Mein Leben, wie es die Stasi sah, kostete 85,19 Euro. Mit Quittung.

Es dauerte Tage, bis ich die Mappe mit der Loseblattsammlung ganz durchgelesen hatte. Auch zu Hause hatte ich die Akte immer wieder beiseitelegen müssen, weil ich einfach nicht mehr konnte. Auf dem Deckblatt standen die Überschrift »IM-Vorgang« und der Zusatz »Streng geheim!«. Dann folgten im Beamtendeutsch verfasste »Datensätze«, die meine persönlichen Daten auflisteten. Geburtsort, Eltern, Geschwister, Halbgeschwister, Schulbesuch. Die Verpflichtungserklärung kannte ich bereits aus der Presse. »Ich Angela Marquardt verpflichte mich freiwillig das MfS in seiner Arbeit zu unterstützen. Meine Entscheidung beruht auf meiner politisch ideologischen Überzeugung. (…) Ich möchte, dass Feinde unschädlich gemacht werden und Menschen, die auf dem falschen Weg sind, geholfen wird. (…) Zur Wahrung der Konspiration wähle ich mir das Pseudonym ›Katrin Brandt‹«. Gezeichnet: »Angela Marquardt«. Am 3. April 1987. Es war meine Handschrift, die geschwungene Handschrift einer 15-Jährigen. Ich hatte keine Erinnerung daran. Es war nicht die einzige Erinnerung, die aus meinem Gedächtnis gelöscht war.

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Verpflichtungserklärung

Es folgten Berichte der Stasi über meine Entwicklung. Darin wurde positiv vermerkt, dass ich reifer sei als Gleichaltrige. Ich spürte die Wut in mir hochsteigen. Ja, ich war schon weiter gewesen als meine Mitschüler. Aber das war Überlebensstrategie. Ich hatte mit 15 Dinge erlebt, die man normalerweise nicht erlebt haben sollte. Die Stasi nutzte eine Entwicklung, die erkennbar nicht altersgemäß war, für ihre Zwecke. »Die« Stasi, das waren Menschen, die für mich als Freunde meiner Eltern bei uns ein- und ausgegangen waren. Es waren Namen, die meine Kindheit und Jugend begleitet hatten. Jetzt fand ich sie in der Akte wieder. Als »Oberstleutnant«, »Hauptmann« und »Major«, die die Berichte angefertigt und unterschrieben hatten. Aber auch die Namen von Unbekannten standen darin, mit denen ich angeblich gesprochen hatte. Ich fühlte mich hilflos, wie in einem Strudel von Bildern, und nirgendwo ein Ort, um sich festzuklammern.

Zwischendurch stieß ich auf die Aufzeichnung eines Tonbandgesprächs mit IM »Barbara« über mich. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, um wen es sich handelte: um meine Mutter. Sie lobte mich, wie eine stolze Mutter ihre Tochter lobt. Nur, dass sie es nicht beim Kaffeekränzchen zu Hause tat, sondern gegenüber jenen Menschen, die mich politisch missbrauchen wollten. Ich sei ein »ehrgeiziger« und »fleißiger Mensch«, im »Klassenkollektiv« beliebt und anerkannt. »Angela besitzt eine positive Grundhaltung zur DDR«, stand da, und dass ich zu Hause für meine beiden jüngeren Geschwister »großes Verantwortungsbewusstsein« trage.

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»IM Barbara«, Abschrift einer Tonbandaufnahme vom 24.3.1987

Je länger ich las, desto mehr fühlte ich mich in eine Zeit zurückgeworfen, die ich verdrängt hatte. An manches konnte ich mich nicht erinnern, viele andere Situationen hatte ich anders in Erinnerung als so, wie sie in der Akte beschrieben waren. So hieß es in einem Aktenvermerk, ich hätte mich in der »Kontaktphase« »kooperativ« verhalten. Das klang, als ob man über eine Unbekannte schreiben würde. Ihr kanntet mich seit meinem 11. Lebensjahr. Ihr habt mitbekommen, wenn ich schlechte Noten mit nach Hause brachte oder mich über irgendetwas ärgerte. Ich habe euch vertraut, weil ihr Erwachsene wart und ich ein Kind. Ist das »kooperativ«?

In manchen Momenten stellte ich mir vor, ich würde als völlig Fremde diese Aufzeichnungen lesen. Das Urteil wäre klar. Die hat ja super mit der Stasi zusammengearbeitet. Ich schämte mich. Hätte ich nicht schon damals merken müssen, dass da etwas völlig Falsches geschah? Aber wie? Es war ja, wenn auch für viele heute sicher nicht nachvollziehbar, Normalität für mich.

Als ich fertig mit Lesen war, kam es mir vor, als ob der rote Stempel, der auf jeder kopierten Aktenseite prangte, wie ein Kainsmal auf meiner Stirn brannte: »Kopie BStU«. Ein Stempel fürs Leben.

Die folgenden Wochen fühlten sich an, als würde ich unter Wasser gedrückt, ohne Luft holen zu können. Ich vergrub mich in meiner Wohnung, verließ das Haus nur, wenn es unbedingt nötig war. Einige Journalisten riefen an, wollten einen Artikel über mich schreiben. Ich sagte allen ab. Nur mit einer Journalistin und einem Journalisten sprach ich in dieser Zeit. Beide kannte ich, vertraute ihnen. Einer der Artikel, der aus diesen Gesprächen entstand, war sehr stark umstritten, wie ich später erfuhr. Zu milde sei das Porträt über mich angeblich ausgefallen. Fast alle meine Mitarbeiter wurden von Journalisten bedrängt. Diese machten auch ehemalige Mitschüler ausfindig und versuchten, sie zu befragen.

In der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, empfand ich als bedrohlich. Einmal fuhr ich mit dem Fahrrad vom Büro nach Hause, geriet auf dem Weg in eine Gewerkschaftsdemonstration. Einer der Demonstranten drehte sich um, rief seinem Nachbarn zu: »Ist das nicht die Stasi-Schlampe von der PDS?« Dann spuckte er mir ins Gesicht. Es war wie ein K.-o.-Schlag. Ich fühlte mich total gedemütigt. Den Hass in seinen Augen werde ich nie vergessen. Danach ging ich tagelang gar nicht mehr vor die Tür.

In meiner Partei sprach mich kaum jemand an. Nur einer klopfte mir auf die Schultern und sagte: »Lass dich nicht unterkriegen. Was wissen diese Wessis schon von unserem Leben.« Heute weiß ich, dass Roland Claus und andere aus der Führung alles taten, um mich abzuschirmen, weil sie mich vor weiterem Druck bewahren wollten. Nur einmal kam eine Genossin zu mir und sagte höhnisch: »Das hast du nun davon.« Sie hatte zu jenen in der Partei gehört, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer abgelehnt hatten.

Im Kontrast dazu standen die Reaktionen aus den anderen Parteien. Herta Däubler-Gmelin, damals Justizministerin, kam zu mir und bot mir ihre Hilfe an. Der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle sagte mir, wie leid ihm das Ganze tue. Im Bundestag erlebte ich, anders als »draußen«, kaum Ablehnung. Selbst der damalige Bundesinnenminister Otto Schily, sonst eher als Hardliner bekannt, sagte in einem Interview mit der SUPERillu: »Ein anderes Beispiel ist für mich die PDS-Bundestagsabgeordnete Angela Marquardt, mit der ich sonst ja bekanntlich oft im Clinch liege. Wenn man nun aber die Tatsache, dass die Stasi sich ihr als 15-jährigem FDJ-Mitglied genähert hat, zum Skandal hochzieht, finde ich das reichlich albern.«

Seltsamerweise habe ich mir damals kaum Gedanken um meine Zukunft gemacht, sondern vor allem um die Vergangenheit. Deshalb rief ich meine Mutter erneut an. Ein paar Tage später kam sie zu mir nach Berlin. Ich wollte, dass sie die Akte liest. Gleich zu Beginn erzählte sie mir, ihre Kollegen hätten vom Aktenfund in der SUPERillu gelesen. Als sie zur Arbeit kam, sei sie deshalb zum Trost von ihnen mit einer Flasche Sekt empfangen worden. Ich wurde auf der Straße angespuckt, und sie bekam Sekt. Ich schob ihr die Akte hin. Dann ging ich aus der Küche. Ich wollte, dass sie beim Lesen allein war, so wie ich mich allein gefühlt hatte, als ich die Akte das erste Mal gelesen hatte. Als ich zurückkam, sagte sie: »Hätte ich gewusst, was die daraus machen, hätte ich das niemals gemacht.« Sie redete die ganze Zeit. Sagte bestimmt hundert Mal, wie leid ihr das Ganze tue. Dass sie mit zum Immunitätsausschuss kommen und alles erklären werde, wenn ich das wolle. Irgendwann gingen wir zu Bett. Ich war enttäuscht, ohne genau sagen zu können, warum. Es war das erste und letzte Mal, dass wir über die Akte sprachen.

Unterdessen rückte die Anhörung vor dem Immunitätsausschuss immer näher. Ich war aufgeregt und ängstlich. Viele aus der Partei hatten mir abgeraten, dort aufzutreten. Ich wusste: Bevor ich in diese Anhörung gehe, musste ich so gut wie möglich begreifen, was damals geschehen war. Also zwang ich mich, das zu tun, was ich nie wollte. Mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen.

2 Wie die Stasi in mein Leben kam

Wenn heute von der »Stasi« die Rede ist, dann stellen sich viele darunter furchteinflößende Männer vor, die mit stundenlangen Verhören ihre Opfer zu Geständnissen zwingen. Gestalten in Grau, die man sofort am finsteren Blick erkennt. In meiner Kindheit und Jugend kam die Abkürzung »Stasi« nicht vor. Bewusst wahrgenommen habe ich diesen Begriff erst, als ich im Fernsehen kurz vorm Mauerfall Berichte über die Montagsdemos in Leipzig sah. Da hielt jemand ein Plakat mit der Aufschrift »Stasi in die Produktion« hoch.

Was ich kannte, war das Ministerium für Staatssicherheit, auch kurz MfS genannt. Als ich in die dritte, eine sogenannte R-Klasse mit erweitertem Russischunterricht, kam, traf ich dort einige Kinder, deren Eltern für das Ministerium arbeiteten. Das war relativ normal. Wenn die Lehrerin zu Beginn des Schuljahres die Berufe der Eltern abfragte, dann sagten diese Kinder: »Mein Vater arbeitet für das Ministerium des Innern.« So wurde es auch ins Klassenbuch eingetragen, oder als Abkürzung »MdI«. Das war die offizielle Umschreibung dafür, dass jemand für die Staatssicherheit arbeitete.

Erst später begriff ich, dass in dieser Klasse fast ausschließlich Kinder aus privilegierten Familien oder, wie man zu DDR-Zeiten sagte, »aus der Nomenklatura« waren. Mit neun hat man für so etwas noch keinen Blick. Ich war hier gelandet, weil ich in der ersten und zweiten Klasse zu den Besten gehörte, so dachte ich jedenfalls. Auch die Herkunft spielte eine Rolle. Schüler aus staatsfernen Familien hätten wohl auch mit guten Leistungen kaum Chancen gehabt, in die R-Klasse aufgenommen zu werden.

Klar war, dass der Schulbesuch nicht nur den Weg zum Abitur erleichterte, sondern auch bei der späteren Berufswahl ungemein hilfreich sein konnte. Permanent wurde uns eingebläut, dass wir die zukünftige Elite seien. Beim Fahnenappell und zu russischen Feiertagen mussten wir im Sinne der deutsch-sowjetischen Freundschaft zum Beispiel russische Lieder singen und ein Programm gestalten. Außerdem machten wir eine Klassenfahrt nach Moskau. Besonders vom Besuch beim einbalsamierten Lenin, der im Mausoleum unter Panzerglas aufgebahrt ist, war ich tief beeindruckt.

Meine besten Schulfreunde waren zwei Jungen, Mikhael und Frank. Schon als Kind habe ich lieber mit Jungen gespielt. In meinen Zeugnissen stand dreimal: »Durch ihr burschikoses Verhalten fördert sie den Zusammenhalt zwischen Jungen und Mädchen.« Bei den Lehrern bekam ich deshalb den Spitznamen »Engel mit B.« in Anspielung auf meinen Namen.

Meine Mutter hatte ursprünglich mit einem Andreas gerechnet. Als ich mich nach 30 Stunden Wehen endlich auf die Welt getraut hatte, musste sie feststellen, dass sie sich einen anderen Namen suchen musste. Zufällig stieß sie noch im Krankenhaus im SED-Organ Neues Deutschland auf einen Artikel über die amerikanische Kommunistin Angela Davis, die damals in den USA zu Unrecht des Mordes angeklagt war und in der DDR sehr verehrt wurde. Nach der Lektüre des Artikels war die Entscheidung gefallen.

Anders als bei Kindern, deren Eltern als hauptamtliche Mitarbeiter für die Staatssicherheit arbeiteten, war die Stasi nicht von Anfang an in meinem Leben gewesen. Sie tauchte darin erst auf, zunächst unsichtbar, als ich etwa neun Jahre alt war. Mit Michael, dem neuen Lebensgefährten meiner Mutter. So hat sie es jedenfalls später erzählt.

Bis zu meinem 7. oder 8. Lebensjahr hatte meine Mutter mit meinem leiblichen Vater zusammengelebt. Während meiner ersten Lebensjahre studierten meine Eltern noch an getrennten Orten. Mein Vater lebte in Dresden, und meine Mutter war zum Studium in Zwickau. Ich wuchs allein bei meiner Mutter auf. Das heißt: Ganz am Anfang war ich in einer Wochenkrippe, in die mich meine Mutter montags brachte und aus der sie mich freitags wieder abholte. Eines Tages wurde die Krippe überraschend geschlossen. Meiner Mutter wurde gesagt, dass dort Kinder misshandelt worden waren. Von diesem Zeitpunkt an blieb ich bei meiner Mutter im Studentenwohnheim.

Nach ihrem Pädagogikstudium fand meine Mutter eine Stelle in Greifswald. Kurz danach zog auch mein Vater zu uns, der als Ingenieur im Kernkraftwerk Lubmin anfing. Die Jahre des Zusammenlebens mit ihm waren meist eine Tortur. Denn mein Vater war ein Sadist. Einmal verbrannte er mir meine Hand auf der Waschmaschine, weil ich ihn gefragt hatte, ob diese heiß sei. Er nahm daraufhin meine Hand, presste sie auf den Metalldeckel der laufenden Maschine und sagte: »Jetzt weißt du, ob es heiß ist.« Es war eine Kochwäsche, die darin lief.

Ein anderes Mal packte er mich bei einem Besuch der Marienkirche in Greifswald, als wir oben auf dem Turm standen, und hielt mich mit einer Hand kopfüber über die Balustrade. Ich hatte Todesangst. An mein »Vergehen« erinnere ich mich nicht mehr, aber eigentlich war für meinen Vater schon jegliche Form von nicht funktionieren ein Vergehen.

Meine Eltern stritten viel, auch vor meinen Augen. Einmal warf mein Vater eine Bierflasche nach meiner Mutter, die gerade hinter mir saß, verfehlte uns aber. 1979 ließen sich meine Eltern scheiden. Einige Zeit später war Michael da. Michael war Chortenor am Theater Greifswald. Und er war, laut den Erzählungen meiner Mutter, schon damals Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Für die Stasi begann er angeblich zu arbeiten, nachdem eines Tages im Theater Nazischmierereien entdeckt worden waren. In der Version, die er erzählte, hatte ihn der Vorfall so sehr erschüttert, dass er die Staatssicherheit bei ihrer Arbeit unterstützen wollte. Meine Mutter wiederum erzählte, sie habe die Stasi kennengelernt, weil Michael unsere Wohnung als konspirativen Treff mit Mitarbeitern des MfS nutzte. Dadurch sei auch sie in die Mitarbeit »hineingerutscht«. Aber all diese Geschichten erfuhr ich erst später, teilweise viel später.

Während meine Mutter als Lehrerin einem »normalen« Beruf nachging, brachte Michael einen eher unkonventionellen Lebensstil in die Familie. Er umgab sich gern mit Künstlern. Das gefiel meiner Mutter. Sie wurde in ihrer Freizeit ehrenamtliche Pressedramaturgin am Theater Greifswald. Auch zu Hause hatten wir oft Besuch von Freunden aus dem Theater. Es wurde viel gefeiert.

Mich faszinierte dieses neue Leben. Dank der Vermittlung meines Stiefvaters durfte ich im Theater auftreten. In »Hänsel und Gretel« war ich der erste Pfefferkuchen von links, der half, die Hexe in den Ofen zu schieben. Im »Kirschgarten« von Tschechow durfte ich in meiner Rolle sogar singen. Ich trug auf der Bühne ein T-Shirt mit Amerikaflagge und schob einen Puppenwagen. Auch sonst war ich öfters im Theater mit dabei. Das war schon etwas Besonders im sonst eher stark reglementierten DDR-Alltag, und ich war sehr stolz darauf.

Anfangs blühte meine Mutter mit Michael regelrecht auf. Aber allmählich kippte das Familienleben. Es fing damit an, dass ich mich nicht nur oft allein für die Schule fertig machen, sondern auch um meinen jüngeren Bruder (der ebenfalls aus der Ehe meiner Mutter mit meinem leiblichen Vater stammte) kümmern musste. Meine Verantwortung wuchs, nachdem meine Schwester auf die Welt gekommen war. Ich war damals zehn und wurde in meinem Empfinden schon bald zu einer Art Mutterersatz für sie. Als meine Schwester in den Kindergarten kam, war ich meist diejenige, die sie hinbrachte. Auch das Abholen war in der Regel meine Aufgabe. Ich bekam mit, dass die Erzieherinnen über diese Situation tuschelten. Laut gesagt hat aber keine von ihnen etwas. Mir war das sehr unangenehm.

Einmal, als ich meine Schwester aus dem Kindergarten abholte, schimpfte eine der Erzieherinnen mit mir, weil sie erneut kein Essensgeld mitgebracht hatte. Ich war oft genervt, wenn ich mir diese Vorwürfe anhören musste – ich konnte ja nichts dafür. Dass es in anderen Familien anders zuging, wurde mir schlagartig auf einer Klassenfahrt bewusst. Mit meinen Mitschülern saß ich im Zug, und wir sprachen darüber, wie denn so unser Tag begann. Die anderen erzählten davon, wie sie mit ihren Eltern beim Frühstück zusammensaßen und hinterher noch die Stullen gestrichen bekamen. »Und du, Angela?«, fragten sie. Da erzählte ich, dass ich bei uns diejenige war, die die Brote für die Geschwister schmierte.

Meine Flucht war der Sport. Mit sieben Jahren hatte ich mit dem Judo begonnen. Schon früh waren Sportfunktionäre beim Kindersport auf mich aufmerksam geworden. Meine Körpermaße und meine Leistungen schienen sich gut für eine potenzielle Karriere als Leistungssportlerin im Bodenturnen zu eignen. Ich hatte aber keine Lust auf Bodenturnen. Dankbar nahm ich daher das Angebot einer Freundin an, sie zum Judo zu begleiten. Und dabei blieb es.

Judo hat viele Vorteile. Meine schmächtige Körpergröße, sonst oft von Nachteil, war bei dieser Sportart ideal. Die Grundlage ist wie bei allen asiatischen Kampfsportarten der Respekt für den Gegner. Vor allem hatte ich beim Judo Zeit für mich. Zeit, die mir niemand nehmen konnte.

Irgendwann lernte ich einen neuen »Freund« meiner Eltern kennen. Er hieß Thomas M., war sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig, und wirkte sehr modern. Was ich nicht wusste: Er war der Führungsoffizier meiner Eltern.

Ich bin bei der Vorbereitung des Buches gefragt worden, warum ich seinen und die Namen der anderen Stasi-Mitarbeiter nicht ausschreibe. Einige kann man auch in den öffentlichen Listen der Stasi-Opferverbände nachlesen. Die Antwort ist: Weil ich nicht möchte, dass die Kinder dieser Menschen, die nichts für ihre Eltern können, das durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe.

Oft musste ich die Wohnung verlassen, wenn Thomas M. und später noch andere »Freunde« zu Besuch kamen. Wahrscheinlich wollten sie ihre Ruhe haben. Meine Mutter sagte mir dann immer, ich solle mit meinen Geschwistern nach draußen gehen. Ich habe viele Stunden damit verbracht, vor unserem Neubaublock in Greifswald auf und ab zu laufen. Heute weiß ich, dass einige der »Freunde« irgendwann gar nicht mehr nur wegen meiner Eltern, sondern auch meinetwegen kamen. Sie sollten meine »Führungsoffiziere« werden.

Einmal war mein Großvater zu Besuch, als Thomas M. kam. Opa sagte mir, er würde eine rote Fahne aus dem Fenster hängen, wenn wir wieder nach Hause kommen könnten. Ich zog also mit meinen Geschwistern ein paar Mal um die Ecken. Es war kalt, und es nieselte. Dann endlich hing die rote Fahne aus dem Fenster.

Als ich etwas älter war, beauftragten meine Eltern mich auch gelegentlich damit, Thomas M. und die anderen zu empfangen, wenn sie noch nicht zu Hause waren. Ich sollte dann auch Kaffee kochen. Meist verwickelten mich die Männer in ein Gespräch. Sie wollten wissen, wie es in der Schule laufe. Weil ich sie kannte, erzählte ich meist auch freimütig.

Thomas M. war mit seiner Familie auch gelegentlich an Feiertagen zu Besuch. Einmal saß er mit seiner Frau bei uns mit unterm Weihnachtsbaum. Er hatte kleine Geschenke für mich und meine Geschwister mitgebracht. Im Laufe der Zeit kamen noch zwei Männer hinzu: Jörg V. und Jörg S. Heute weiß ich, dass sie den Auftrag hatten, sich besonders um mich zu »kümmern«.

Auf kuriose Weise ähnelten die drei einander. Nicht vom Aussehen her, Jörg V. war klein gewachsen, Thomas M. groß und Jörg S. hatte einen Lockenkopf. Aber ihr Kleidungsstil ähnelte sich, als gäbe es beim MfS Kleidervorschriften. Die Darstellung des Stasi-Mannes in dem Kinofilm »Das Leben der Anderen« ist durchaus korrekt. Vom Auftreten her waren sie hingegen sehr verschieden. Jörg V. war der zurückhaltendste von den dreien. Jörg S. eher der Typ kühler Technokrat. Thomas M. strahlte hingegen eine ungeheure Lässigkeit aus. Alle drei rauchten.

Ich muss vielleicht 13, 14 gewesen sein, als sich ein Vorfall ereignete, der mir klarmachte, dass es mit den Freunden meiner Eltern etwas Besonderes auf sich hatte. Ich war mit meiner Mutter im Bus unterwegs, als ich einen von ihnen, ich denke Thomas M., ein paar Sitze hinter uns entdeckte. Freudestrahlend lief ich auf ihn zu und grüßte ihn laut. Zu meiner Überraschung reagierte er überhaupt nicht. Dafür wurde meine Mutter hektisch. Bei der nächsten Haltestelle zog sie mich aus dem Bus und sagte: »Das darfst du nie wieder machen.« Ich verstand nicht, warum. Aber ich lernte, dass die »Kumpels« meiner Eltern ein Geheimnis umgab. Auch wenn ich nicht wusste, welches.

Der Vorfall im Bus war nicht nur für mich ein Schlüsselmoment. Meiner Mutter muss er bewusst gemacht haben, dass ich langsam zu alt wurde, um die Stasi-Geschichte für mich zu behalten. Mir musste erklärt werden, dass ich über diese »Freunde« zu schweigen hatte. So ist die Idee mit der Verpflichtungserklärung entstanden – wenn man den Erzählungen glaubt.

Ich selbst merkte zunächst nur, dass sich die Gespräche mit den Freunden meiner Eltern änderten. Als ich 13 war, kam in der Sowjetunion Michail Gorbatschow an die Macht. Seine Reformbemühungen waren auch unter uns Schülern ein Thema. Wie viele trug ich einen Sticker mit seinem Konterfei.

An den Moment, als ich die Verpflichtungserklärung unterschrieb, kann ich mich nicht mehr erinnern. Das mag seltsam erscheinen: Schließlich habe ich den Text ja selbst geschrieben. Aber dieser Akt war wohl eingebettet in eine Situation, die ich wahrscheinlich als absolut normal empfand, weil ich damit aufwuchs. Woran ich mich erinnere, ist, dass ich nicht nur einmal mit meinen Eltern, mit Thomas M. und Jörg V. am Küchentisch saß. Alle erzählten mir, dass das »eine wichtige Arbeit« sei, die die beiden machten, und dass uns das »helfen« würde.

Wenn ich versuche, die Gefühlswelt des 15-jährigen Mädchens von damals zu rekonstruieren, so bin ich mir sicher, dass ich mir in dieser Situation cool und wichtig vorkam. Ich machte auf total erwachsen und verständig. Fragen stellte ich kaum.

So wurde aus der Inoffiziellen Mitarbeit meiner Mutter und meines Stiefvaters Michael allmählich ein »Familienunternehmen MfS«. Für die Stasi war das Ganze eine bequeme Angelegenheit: Sie musste mich nicht aufwendig anwerben oder unter Druck setzen. Ich wurde ihr quasi auf dem Silbertablett präsentiert.

In meinem Leben gab es fortan ein Geheimnis. Es war nicht das einzige. Aber es hatte einen großen Vorteil: Im Gegensatz zu einem anderen großen Geheimnis tat es nicht weh.

3 Das Geheimnis

Dass die Stasi bei mir leichtes Spiel hatte, lag nicht nur an der allgemeinen Familiensituation. Sondern auch an jenem Geheimnis, das ich mit trug, seit ich ungefähr neun Jahre alt war. Es hatte an einem Ort begonnen, der für andere mit schönen Urlaubserinnerungen verbunden ist. Für mich steht er für den Anfang eines jahrelangen Albtraums. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben. Aber ich glaube, dass es ein Schlüssel zu meiner Geschichte ist.

Einige Zeit nachdem Michael, der neue Freund meiner Mutter, zu uns gezogen war, fuhr er mit mir auf die Insel Rügen in die Ferien. Ich fremdelte noch ein wenig mit der neuen Situation. Während mein Bruder Michael schnell »Vater« nannte, verweigerte ich ihm diese Bezeichnung zunächst. Ich war daran gewöhnt, mit meiner Mutter und meinem Bruder allein zu leben, und empfand ihn als Störenfried.