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Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann

 

U. T. Egle/B. Zentgraf: Psychosomatische Schmerztherapie (2014)

M. Ermann: Herz und Seele (2005)

M. Ermann: Träume und Träumen (2005/2014)

M. Ermann: Freud und die Psychoanalyse (2008/2015)

M. Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (2009/2012)

M. Ermann: Psychoanalyse heute (2010/2012)

M. Ermann: Angst und Angststörungen (2012)

M. Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse (2014)

U. Gast/P. Wabnitz: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln (2014)

R. Gross: Der Psychotherapeut im Film (2012)

O. F. Kernberg: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (2012)

J. Körner: Abwehr und Persönlichkeit (2013)

J. Körner: Die Deutung in der Psychoanalyse (2015)

R. Kreische: Paarbeziehungen und Paartherapie (2012)

W. Machleidt: Migration, Kultur und psychische Gesundheit (2013)

L. Reddemann: Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (2011)

A. Riehl-Emde: Wenn alte Liebe doch mal rostet (2014)

C. Stadler: Traum und Märchen in der handlungsorientierten Psychotherapie (2015)

U. Streeck: Gestik und die therapeutische Beziehung (2009)

R. T. Vogel: Existenzielle Themen in der Psychotherapie (2013)

R. T. Vogel: Das Dunkle im Menschen (2015)

L. Wurmser: Scham und der böse Blick (2011/2014)

H. Znoj: Trauer und Trauerbewältigung (2012)

Ralf T. Vogel

Das Dunkle im Menschen

Das Schattenkonzept der Analytischen Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028408-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028409-8

epub:    ISBN 978-3-17-028410-4

mobi:    ISBN 978-3-17-028411-1

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»Die Erleuchtung erlangt man nicht,
indem man sich das Licht vorstellt,
sondern indem man sich des
Dunkeln bewusst wird«
(CG Jung, Rotes Buch 2009)

Für Sabine

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Zur Einführung
  2.  
  3. 1. Vorlesung: Der analytische Schattenbegriff
  4. Begriffliche Umkreisungen
  5. Der archetypische Schatten
  6. Der energetische Aspekt des Schattens
  7. Der Schatten im Individuationsprozess
  8.  
  9. 2. Vorlesung: Das Böse, das Helle und die Begegnung mit dem Schatten
  10. Der Schatten, das Heilige und das Böse
  11. Die Persona
  12.  
  13. 3. Vorlesung: Umgangsweisen oder: ›Wie dem Schatten begegnen?‹
  14. Wege der Schattenbegegnung
  15. Schattenresonanz
  16. Das Positive am Schatten
  17. ›Dunkle Zeiten‹
  18. Das Schattenkonzept und der Freiheitsbegriff
  19.  
  20. 4. Vorlesung: Arbeiten mit dem Schattenkonzept
  21. Der asiatische Weg: Ästhetik und Achtsamkeit
  22. Nutzen der »Halbschattengewächse«
  23. Nutzen des Todesthemas
  24. Nutzen der Kunst
  25. Schattenarbeit durch und mit Traum, Märchen und Mythos
  26. Schattenimagination
  27. Schattenritualisierung
  28. Schattentrainings
  29. Gegenmaßnahmen
  30.  
  31. 5. Vorlesung: Schattenarbeit in der Psychotherapie
  32. Der therapeutische Schattenstreit
  33. Schattenbeziehung in der Therapie
  34. Arbeit am Schattenwiderstand
  35. Der Schatten im therapeutischen Prozess
  36. Der Schatten der Psychotherapie
  37. Zusammenfassung und Konsequenz
  38.  
  39. Literatur
  40.  
  41. Bildnachweis
  42.  
  43. Stichwortverzeichnis
  44.  
  45. Personenverzeichnis

Zur Einführung

 

 

 

Das vorliegende Buch ging hervor aus einer gleichlautenden einwöchigen Vortragsreihe anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen 2014, die unter dem Motto ›Zeit‹ und ›Schicksal‹ standen. Wie die Vorlesung, so ist auch das Buch in fünf Kapitel aufgeteilt, durch die Einbeziehung einiger veranschaulichender Bilder soll der Vorlesungscharakter zusätzlich gefördert werden. Die Schrift eignet sich zur raschen und breitgefächerten Orientierung bzgl. des aus der Analytischen Psychologie C.G. Jungs stammenden Schattenkonzeptes. Um sich bei Wunsch und Bedarf in einzelne Facetten vertiefen zu können, wurde ein umfangreiches Literaturverzeichnis angehängt.

1912 führte C.G. Jung (1875–1961) in seiner bis dahin als Hauptwerk geltenden monumentalen und ihn schließlich mit Freud entzweienden Schrift Wandlungen und Symbole der Libido (später Symbole der Wandlung) den Begriff des Schattens als »inferioren Teil der Persönlichkeit«1 ein. Das Konzept wurde fortan von ihm und seinen Schülerinnen und Schülern ausgearbeitet und durchzieht die gesamte Metapsychologie der Analytischen Psychologie mit ihren Zentralbegriffen des Kollektiven Unbewussten, des Selbst, der Individuation, der Komplementarität und der Finalität.

Die Metapher des Dunklen und des damit assoziierten Gefährlichen, Unheimlichen, Bedrohlichen, Verbotenen und Bösen ist allerdings in der deutschsprachigen Geistesgeschichte v. a. seit der Romantik bereits Gegenstand von Kunst und Philosophie und hat in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion eine gewisse Bedeutung erlangt. Dies zeigt sich etwa am steigenden Interesse der Menschen an augenscheinlich

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Abb. 1: C.G. Jung

immer gruseliger werdenden Thrillern und Krimis in Buch- oder Filmform, an Dokumentationen über Schwerverbrechen, Massenmörder und deren ›Profiler‹ und am Hype bzgl. Vampiren, Zombies und sonstiger ›dunkler Kreaturen‹. Auch in der (populären) Philosophie hat das ›Böse‹ gerade Konjunktur2. Die Themen Trauer und Tod, ebenfalls eng verbunden mit dem Dunklen, treten gerade aus ihrer gesellschaftliche Verbannung heraus und fordern ihren Platz etwa in der Diskussion um Hospize und Palliativmedizin, aber auch Selbsttötung, Patientenverfügung und Sterbehilfe. Hinzu kommen ganz aktuell die sich jährenden Einstiegsszenarien in ›dunkle Zeiten‹, etwa mit den Kriegsbeginn 1914 oder den des zweiten Weltkriegs. Aber nicht nur Negatives darf mit dem Dunklen in Verbindung gebracht werden. Auch Schutz und Geborgenheit, Abenteuer ja sogar Eleganz und Schönheit gehören zum Bedeutungshof des Dunklen. Allerdings empfindet nicht jeder das Dunkle gleich. Die subjektive Sicht darauf, was nun schon Dunkel oder doch noch Hell ist, variiert stark und weist bereits auf die Unschärfe mancher Begriffe hin, mit denen wir im Folgenden zu operieren haben.

Der Schatten ist ›kentaurisch‹3 mit uns Menschen verbunden. Wie der mythische Kentauren-Mann seinen Pferdekörper nicht einfach abstreifen kann, weil der ein Teil von ihm ist, so ist auch unser Schatten mit uns untrennbar verwachsen. Um nicht zu theoretisch zu bleiben und einzelne Schattenaspekte auch konkret als zu sich gehörig erfahren zu können, sind den einzelnen Kapiteln kleine Übungsvorschläge angehängt. Zusätzlich werden im Praxisteil mehrere therapeutisch einsetzbare Methoden dargestellt. All diese Übungen enthalten einen erheblichen Selbsterfahrungsaspekt! Führt man sie mit dem gebotenen Ernst durch, kann durchaus Unbekanntes und vielleicht auch Erschreckendes aus unserem schattenhaften Innenleben bewusst werden. In Selbsterfahrungsgruppen und v. a. in Seminaren hat sich die für manche Menschen durchaus beachtliche Wucht einer Schattenkonfrontation immer wieder gezeigt. Es empfiehlt sich daher, die Übungen in Begleitung von Vertrauten durchzuführen oder die gemachten Erlebnisse mit Nahestehenden zu teilen. Natürlich kann auch auf die Übungen verzichtet werden und ein zunächst eher intellektueller Zugang zum Dunklen der richtige Weg sein! Andererseits sollten wir als Therapeuten von unseren Patienten auch keine Wagnisse verlangen, die wir nicht selbst bereit sind, einzugehen.

In der Psychotherapie verbinden wir das Dunkle, das Beschattete primär mit seelischem Leid, mit Depression und Angst und mit der Auseinandersetzung mit den ›Schattenseiten‹ unserer Biographie und unsere Existenz. Der Schattenbegriff, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll, geht über die genannten Entitäten hinaus, hat aber durchaus den Anspruch, zu deren Erklärung und vielleicht auch zu deren gesellschaftlicher, v. a. aber therapeutischer Bearbeitung beizutragen …

Wie so oft ist das Buch, dem Geschlecht des Autors und der besseren Lesbarkeit willen grammatikalisch in der männlichen Form verfasst, mit der großen Hoffnung, damit nicht die eine oder andere Leserin vor den Kopf zu stoßen.

1     Jung CG (1912) GW 5, § 267

2     Vgl. Bauer W, Zerling C (2006)

3     Jung CG (1912) GW 5, § 678

1.   Vorlesung
Der analytische Schattenbegriff

 

 

 

»Viel Ungeheuers ist, doch nichts

So Ungeheures wie der Mensch«

Sophokles, Antigone

Begriffliche Umkreisungen

Der Begriff ›Schatten‹ leitet sich etymologisch wohl aus dem indogermanischen ›Skot‹, ›dunkel‹ ab4. Das analytisch-psychologische Konzept eines dem Menschen inhärent zugehörigen Schattenbereiches und das Problem der Auseinandersetzung mit diesem findet sich angelegt in zahlreichen philosophischen und religiösen Denkgebäuden überall auf der Welt. Die alttestamentarische Exegese, die Gnosis, die chinesisch-daoistische Yin-Yang-Schule, aber auch Friedrich Nietzsche oder etwa Hegels Dialektik seien hier nur als Beispiele erwähnt. »Unter dem Schatten eines Menschen verstehen wir jene Persönlichkeitszüge, die auf gar keinen Fall offen vor der Welt daliegen und gesehen werden sollen«5. So schreibt die bekannte jungianische Psychoanalytikerin Verena Kast im bisher einzigen deutschsprachigen expliziten Werk zur tiefenpsychologischen Schattenkonzeption, und an anderer Stelle: »Der Schatten zeigt uns, dass wir nicht nur so sind, wie wir uns gerne sehen, sondern er konfrontiert uns damit, dass wir gerade das, wogegen wir uns bewusst immer wieder entscheiden, dennoch in unserer Seele auch vorfinden«6. Damit ist schon vieles genannt, was unter dem Schattenbegriff in tiefenpsychologischer Sicht subsummiert ist. Die Mythologie beschreibt das Dunkle als eine gesamte Unterwelt, und so sind auch die Inhalte des Schattens mannigfaltig und eigentlich unauslotbar: Hass, Wut, Feindseligkeit, Verachtung, Neid, Gier oder Eifersucht sind Beispiele für Schatteninhalte. Im Schatten findet sich generell aber auch das Ungelebte, das nicht sein durfte oder nicht sein konnte. Es sind all die Potentialitäten des Menschen, das, was wir auch sein könnten bzw. gewesen sein könnten7.

Gesellschaftliche Zwänge, Gewissensnöte, Werte von Moral und Ethik, sie zwingen große Anteile unseres Seelenlebens in das Schattenreich8. Sie bleiben unbewusst oder werden ins Unbewusste abgedrängt. Dabei kann man gar nicht sagen, dass alle Inhalte des Schattens negativer Natur wären. Manche Schattenaspekte kommen dem Einzelnen »schlecht, fehlerhaft, minderwertig, verboten oder tabuisiert« vor, jedoch »ohne es in jedem Fall auch wirklich sein zu müssen« so der jungianische Analytiker und Autor Dieter Schnocks9. Im gleichen Beitrag weist er auch auf C.G. Jungs Sichtweise hin, »dass der Schatten zu 90% aus reinem Gold besteht«. Ungelebtes ist auch versäumtes Schönes und Gutes, es sind Möglichkeiten in uns, die uns nicht nur bedrohen, sondern auch fördern und weiterbringen könnten. Die Inhalte des Schattens sind in ihm allerdings nicht neutralisiert oder gefangengesetzt und damit etwa unschädlich gemacht, nein, um mit Jung im Original zu sprechen: »Die Figur des Schattens personifiziert alles, was das Subjekt nicht anerkennt und was sich ihm doch immer wieder – direkt oder indirekt – aufdrängt«10.

Der jüdische Philosoph, Psychologe und Arzt Erich Neumann ist wohl einer der bedeutsamsten Denker der Analytischen Psychologie. V. a. in seinem 1949 verfassten bahnbrechenden Werk Tiefenpsychologie und neue Ethik11