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Norbert Mappes-Niediek

Arme Roma,
böse Zigeuner

Was an den Vorurteilen
über die Zuwanderer stimmt





Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von Oktober 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Umschlagfoto und -gestaltung: Burkhard Neie, www.blackpen.xix-berlin.de
Satz: typegerecht berlin

ISBN 978-3-86284-193-6 

Inhalt

Was läuft falsch?

Die Ökonomie der Armut
oder: Warum kommen sie aus dem Elend nicht heraus?

Auf dem Weg nach Westen
oder: Warum kommen sie, und was suchen sie hier?

Faktum und Vorurteil
oder: Werden sie überdurchschnittlich oft straffällig?

Geschichte und Kultur
oder: Was ist an ihnen so anders?

Das Volk, das keines wurde
oder: Sind sie eine Nation oder doch nur eine Unterschicht?

Vom Elend der Politik
oder: Wen vertreten die vielen Organisationen eigentlich?

Wozu die Roma gebraucht werden

Anhang

Auf einen Schelmen anderthalbe

»Eure Journalisten, eure Fotografen und manche eurer Schriftsteller beuten uns nach Strich und Faden aus. Sie legen sich die Dinge sogar zurecht, damit sie ihr Publikum besser unterhalten und mehr Geld verdienen können. Sie bereichern sich auf unsere Kosten und belassen uns in unserem Unglück, verschlimmern es oft sogar noch. Deshalb habe ich mein ganzes Leben lang auch nie jemandem etwas erzählt. Wir denken alle so, und deshalb binden wir ihnen, wenn sie allzu sehr darauf bestehen, einen Bären auf und lachen uns ins Fäustchen, wenn die großen Dummköpfe das alles aufschreiben. Auf einen Schelmen anderthalbe setzen: Das ist unsere Rache.«

Zanko Palești

Was läuft falsch?

Sie begegnen einem flüchtig als Bettlerinnen in langen Röcken oder wenn sie einem Schmutzwasser auf die Windschutzscheibe schütten und dafür einen Euro haben wollen. Man weiß nicht viel von ihnen. In den öden Landschaften aus Bahngleisen, Schnellstraßen und LKW-Parks am Rande von Lyon oder Mailand fliegen bei der Fahrt im Zug kleine Hüttensiedlungen vorbei, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass da wirklich jemand wohnt. »Das sind Sinti und Roma«, raunt man einander zu. »Aus Bulgarien und Rumänien.« Aber man weiß auch das nicht wirklich, und es stimmt auch nicht: Es sind Roma, keine Sinti, und sie kommen aus allen möglichen Ländern in Mittel- und Südosteuropa, teils als EU-Bürger, teils als Asylbewerber, manchmal einfach so.

Im Niemandsland zwischen irritierender Alltagserfahrung und bruchstückhaftem historischem Wissen gedeiht üppig ein gedankliches und gefühlsmäßiges Unkraut. Sie stehlen und sind arbeitsscheu, behaupten die einen. Sie machen gute Musik und wurden jahrhundertelang verfolgt, erwidern die anderen. Beides widerspricht sich streng genommen nicht. Aber wenn es um Roma geht, hat das Aneinander-vorbei-Reden Methode. Sie sollen eine Minderheit sein und damit den Maßstäben und den Entscheidungen der Mehrheit wenigstens zum Teil entzogen bleiben. Aber niemand kann erklären, was sie eigentlich so grundsätzlich von anderen Menschen unterscheidet. Sind sie eine eigene Nation? Wollen, sollen sie sich anpassen? Wie geht man »korrekt« mit ihnen um? Sind die Roma ein Problem? Oder haben sie eines?

Behörden wissen nicht, ob sie den rätselhaften Wesen helfen müssen oder ob sie sie loswerden können. Politik und öffentliche Meinung schwanken zwischen Abschiebungsphantasien und diffusen Wünschen nach Integration.

Die Überzeugungen und Konzepte der Parteien und politischen Strömungen scheitern allesamt an den Roma aus Südosteuropa. Mit der ordnungspolitischen Strenge der Konservativen kann man die Gefängnisse füllen und den Armuts-Zuwanderern ihre Familien zerschlagen. Spürt man ein verwahrlostes Kind auf und nimmt es der Mutter weg, so provoziert man nur Leid, keine Besserung. Auch die beliebten strengen Grenzkontrollen funktionieren nicht, denn ein Dasein am Rande der Gesellschaft kann man auch ohne Papiere führen. Sozialisten müssen die schmerzliche Erfahrung machen, dass die Roma meistens wenig Aufstiegsorientierung und Bildungshunger zeigen. Statt ihr Leben auf eine unsichere Arbeitskarriere zuzurichten und dann mit ihrer Gewerkschaft für bessere Löhne zu kämpfen, vertrauen die meisten lieber ihren familiären Netzwerken. Liberale schließlich erleben ihr Freiheitspathos und ihr Lob der Vielfalt an den Roma als bösen Spott. Niemand wählt ein Leben im Elend freiwillig, keiner bettelt aus Berufung. Und mangels Kaufkraft nimmt kein Markt sie wahr.

Für die europäischen Institutionen sind die Roma eine »transnationale« oder »europäische Minderheit«. Vor allem den Osteuropäern wollen sie beibringen, dass sie die Roma in ihrer Eigenheit, ihrer Identität zu respektieren haben und dass sie ihnen gleiche Chancen einräumen müssen – und als Kompensation für ihre Diskriminierung vorübergehend sogar bessere. Arm sind die Roma nur, weil man sie als Volk verachtet und ausgrenzt: das ist die Annahme dahinter, und wenn die Mehrheit ihre Haltung ändert, glaubt man in Europa, wird das Problem sich schon lösen. Das ist aber eine fromme Lüge.

Arm sind die Roma in Wirklichkeit aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit. Die Beschäftigungsrate ist überall in der Region in den letzten zwanzig Jahren bis auf etwa die Hälfte zurückgegangen. Am stärksten war der Schwund bei den minderqualifizierten, den typischen Roma-Jobs. Nicht Ausgrenzung wie im Westen war in Osteuropa historisch das Problem der Roma, sondern ihre niedrige soziale Stellung. Fragt man die Menschen in den Elendssiedlungen Ungarns, Rumäniens oder Serbiens nach ihrem Leben, so erfährt man, dass so gut wie alle jenseits der vierzig früher einen festen Job hatten. Mittlerweile träumen sie nicht einmal mehr davon. Auch in den Slums sind viele erst gelandet, nachdem sie für ihre Wohnungen die Miete nicht mehr bezahlen konnten.

Statt die Armut zu bekämpfen, betreiben die EU und die europäischen Staaten für die Roma Minderheitenpolitik. Natürlich sind Roma auch »anders«, verfügen über eine besondere Kultur, pflegen bestimmte Werte und Bräuche. Aber »anders«, anders als die Mehrheit der Franzosen, Briten oder Deutschen, sind auch die Nordafrikaner in der Banlieue von Paris, die Pakistanis in London und die Türken in Berlin, ohne dass die kulturelle Differenz eine besondere Minderheitenpolitik nötig machen würde. Alle sollen unabhängig von ihrer Herkunft in gleichem Maße an allem teilhaben können, das ist das neue Prinzip.

Was uns Roma-typisch vorkommt, ist in Wirklichkeit oft einfach Balkan-typisch. Die Armut der Roma jedenfalls lässt sich mit ihrer Kultur nicht erklären. Zehntausende Gastarbeiter-Roma aus Jugoslawien leben schon seit den 1960er und 1970er Jahren unerkannt und unauffällig in Mittel- oder Westeuropa. Dass sie sich nicht zu erkennen geben, ist ein trauriges Zeichen dafür, dass es noch immer viele Vorurteile gibt. Dass sie sich aber so mühelos verstecken können, ist der Beweis, dass ihre Kultur eben nicht das Problem ist.

Weil das so ist, hilft Minderheitenpolitik auch nicht gegen die Armut. Die Roma haben nichts, das sie »autonom« unter einander verteilen könnten. Es gibt viele familiäre und örtliche Gemeinschaften und auch ein vages Gemeinschaftsgefühl von Roma über die Grenzen hinweg, aber es gibt keine organisierte Roma-Gesellschaft und auch keinen Grund, eine solche zu entwickeln. Trotzdem wird – teils bewusst, teils unbewusst – fleißig daran gearbeitet – mit dem Versuch, eine »Roma-Elite« zu schaffen, und mit unzähligen Projekten, die von Stiftungen und internationalen Organisationen gefördert werden. Hervorgebracht haben sie eine »Gypsy industry« aus Nichtregierungsorganisationen, die oft nur aus ihrem Vorsitzenden und dessen Bankkonto bestehen und deren Know-how sich im Schreiben von Projektanträgen erschöpft. Den Roma in ihren Slums nützt das Treiben höchstens einmal punktuell; ihre soziale Lage hat sich seit dem Aufblühen der Projektkultur um die Jahrtausendwende eher noch verschlechtert. Wenn Fonds mehr oder weniger ausdrücklich nur für Roma bereitgestellt werden, schafft das in den verelendeten Regionen des Balkan überdies noch Neid und böses Blut.

Als »Roma-Problem« lassen sich die Probleme der Roma und die Probleme mit ihnen nicht lösen. Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder unterfinanziertes Gesundheitswesen. Sie zu lösen ist teurer und weniger bequem als die Gründung und Finanzierung eines weiteren Roma-Beirats. Westeuropa braucht eine Modernisierung von Bildungswesen und Verwaltung, Osteuropa zusätzlich ein Infrastrukturprogramm, nicht nur wegen der Roma. Aber wenn wir uns den nötigen Reformen nicht stellen, bleibt auch die große europäische Strategie zur Emanzipation der Roma bloß billige Heuchelei.

Die Ökonomie der Armut
oder: Warum kommen sie aus dem Elend nicht heraus?

Nicht einmal in Pata-Rât sind alle gleich. Gabriel, ein Mann in den Vierzigern, kann sich an Geschäftigkeit und Initiativgeist mit jedem Manager messen. Seine Sätze leitet der kräftige, kompakte Mann mit einem Lachen ein, und wenn er erzählt, rudert er mit den Armen. Seinem kleinen Häuschen hat er eine Veranda vorgebaut und sie mit hellroten Kacheln selbst verfliest. Ankommendes Gut checkt er wie ein Schnäppchenjäger, und sein besonderer Stolz ist eine kleine, nicht ganz passende Einbauküche mit glänzenden Schränken und Schubladen. Aber es gibt natürlich auch andere. Elena zum Beispiel, einer dürren Frau von 52 Jahren, steht das Elend ins Gesicht geschrieben. Sie spricht leise und kraftlos und ist zu schüchtern, ihrem Gesprächspartner in die Augen zu blicken. Meistens steht sie allein vor ihrer Hütte, die mit Brettern notdürftig zusammengenagelt ist, und raucht.

Wie alle Leute in den Hütten der kleinen Siedlung an der Müllkippe von Cluj sammeln Elena und Gabriel, was die Städter nicht mehr gebrauchen können. In Pata-Rât leben »Müllmenschen«, wie solche Leute in Reportagen aus Rio de Janeiro oder Buenos Aires doppeldeutig genannt werden. Hält ein Müllwagen an der Sperre vor dem Eingang zur Kippe, klettern als erste die Kinder hinauf und durchwühlen die Ladung, noch bevor der Fahrer sein Ziel erreicht hat und den Abfall auskippt. In der Siedlung, an den Hang einer zugeschütteten Müllhalde gebaut, stehen Hütten aus Holz, Presspappe und Kunststoffplatten. Das Regenwasser bahnt sich seinen Weg durch die Pfade zwischen den Hütten, aber auch zwischen den Platten auf den Dächern. Man geht in Gummistiefeln oder barfuß; alles andere ist sinnlos.

»Die große Armut in der Stadt kommt von der großen Powerteh her«, lässt der Dichter Fritz Reuter einen seiner Romanhelden sagen, wo seine Leser im 19. Jahrhundert doch wussten, dass pauvreté nur das französische Wort für Armut ist. Analytisch kann der Spruch nicht recht überzeugen. Aber er gibt die Alltagserfahrung der Leute aus Pata-Rât präzise wieder. Wer arm ist, muss für alles teurer bezahlen. Besonders gefragt sind auf der Müllkippe die Flaschen, denn in der Stadt gibt es jemanden, der sie einem abkauft. Über den Erfolg bei dem Geschäft entscheidet die Transportkapazität. Einige hier haben kleine Handwagen. Gabriel hat ein Auto, zwar mit entwertetem Kennzeichen, aber fahrbereit. Elena dagegen muss alles in Taschen in die Stadt tragen. Nur wer fahren kann, kann mit dem Sammeln Geld verdienen. Je mehr man hat, desto billiger wird das Leben. Nur wer Strom hat, kann zum Beispiel mit einer Tiefkühltruhe etwas anfangen, und wer eine Tiefkühltruhe hat, kann abgelaufene Ware aus dem Container hinter dem Supermarkt einlagern. In Pata-Rât holen sich manche den Strom aus Autobatterien von der Müllkippe, was schon zu Bränden geführt hat. An reguläre Stromversorgung oder an ein ordnungsgemäß angemeldetes Auto, gar an einen Führerschein, kommt man nicht ohne Geld. Bei der Kleidung ist das größte Problem, dass man sie im Winter nicht trocknen kann. Wäscht man sie trotzdem, wird man krank, und wäscht man sie nicht, dann stinkt man, und alle gehen einem aus dem Wege. Wer auf der Leiter nach oben hinaus will aus dem Loch, tut gut daran, auch auf die morschen Sprossen der Illegalität zu steigen. Gabriel hat schon mehrere Gefängnisstrafen abgesessen. Aber in Pata-Rât ist Gabriel der Erfolgreichste. Die hier wohnen, nennen den Ort Dallas, wohl weil es hier ähnlich unsentimental zugeht wie in der Ölmetropole.

Roma sind meistens arm. In Rumänien und Bulgarien leben knapp 80 Prozent von ihnen mit einem Einkommen von weniger als 4,30 US-Dollar pro Tag, in Ungarn sind es 40 Prozent. Unter Roma-Männern zwischen 15 und 64 Jahren hat in Ungarn nicht einmal jeder Dritte ein noch so geringes Arbeitseinkommen, bei den Frauen ist es nur ein Sechstel. Dass unter Roma große und teils extreme Armut herrscht, wird nirgendwo in Europa bestritten. Warum es aber auch mit einer »Roma-Dekade«, mit vielen nationalen »Aktionsplänen« und einem Fokus der Europäischen Union einfach nicht besser werden will, ist Gegenstand einer großen Ost-West-Kontroverse. Im Osten schiebt man das Problem auf das Verhalten und die Kultur der Roma, die nicht arbeiten wollen, ihre Kinder nicht zur Schule schicken, alles Geld immer gleich wieder ausgeben und zu viel trinken. Im Westen schiebt man es auf die Diskriminierung durch rassistische Spießer. An beidem ist etwas dran. Aber in der Substanz des Arguments ist beides falsch.

Integration auf Kommunistisch

Der Bukarester Soziologe Cătălin Zamfir, Jahrgang 1941, steht für die östliche Sicht. Er hat nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes gemeinsam mit seiner Frau Elena die erste große Studie zur Situation der Roma in Rumänien erstellt. Eigentlich hätte die Untersuchung in ein nationales Programm münden sollen. Daraus wurde nichts. »Schuld«, sagt Zamfir zwanzig Jahre später, »war zum einen die Wirtschaft: Es gab einfach kein Geld.« Genauso schuld sei aber die westliche Politik gewesen, die die vorhandenen Hilfsgelder falsch eingesetzt habe – zum Schutz vor Diskriminierung nämlich. Den Mund habe er sich seinerzeit fusselig geredet in einer Expertenrunde aus Soziologen, Anthropologen und Politikern beim Europarat. Während die aus dem Osten auf die wirtschaftliche und soziale Situation der Roma verwiesen hätten, sei es denen aus dem Westen immer nur um den Kampf gegen Diskriminierung gegangen. Cătălin Zamfir ist kein Zigeunerhasser, im Gegenteil, und er ist auch nicht der Meinung, dass man Roma ruhig diskriminieren dürfe. Er glaubt nur, die Diskriminierung sei die Folge der sozialen Situation. Im Westen glaubt man meistens, es sei genau umgekehrt. »Ich habe natürlich nichts gegen die Anerkennung der Roma, die sie im Westen immer fordern«, sagt Zamfir. »Bloß hilft sie nicht.«

Wie Zamfir denken in Osteuropa die meisten, gleich ob sie die Roma hassen oder ob sie ihnen leidtun. Die Unterstellung, man jage und quäle die Roma, spielt unter den vielen emotionalen Kränkungen, die Osteuropäer seit der Wende um das Jahr 1990 von Westlern hinnehmen müssen, eine herausragende Rolle. Die einfachen Gemüter machen meistens geltend, dass die Roma schließlich selbst schuld seien und dass alle, die da so gescheit mit Menschenrechten herumfuchteln, doch mal selbst Tür an Tür mit diesen Zigeunern leben sollten – wie die Frau aus dem ungarischen Gyöngyöspata, der jemand in zwei Jahren zwei Hühner gestohlen hatte und die meint, man solle die Roma aus ihrem Dorf doch bitte bei den letzten drei ungarischen Premierministern einquartieren. Das ist die böse Variante, mit der man leicht fertig werden kann. Cătălin Zamfir denkt so nicht, aber auf westliche Feldzüge gegen die Diskriminierung der Roma in Osteuropa reagiert er genauso allergisch. Er verweist darauf, dass die Roma heute »komplett aus dem System ausgeschlossen« seien. Um Diskriminierung erleiden zu können, müssten sie mit Menschen außerhalb ihres Elendsviertels erst einmal in Kontakt kommen. Für viele gut gemeinte Initiativen hat Zamfir nur Spott übrig – etwa für ein großes Forschungsprogramm gegen Mobbing am Arbeitsplatz. Ob das denn wohl schlimmer sei, als mangels Job gar nicht gemobbt werden zu können? Oder die ewige Parole, die Roma sollten sich doch zusammensetzen und diskutieren: »Schön. Aber was, bitte?«

Wenn Zamfir von dem »System« spricht, von dem die Roma ausgeschlossen sind, dann meint er vordergründig den Arbeitsmarkt. Aber der eigentlich Schuldige ist für ihn der Kapitalismus. Der Professor ist Mitglied der Rumänischen Akademie der Wissenschaften und damit eine Säule der postkommunistischen Geisteswelt. Und Zamfir hat gute Argumente. 1990, nach dem Sturz des Diktators, gab es in Rumänien noch 8,4 Millionen Arbeitsplätze. Heute sind es vier Millionen. Nicht alle Arbeitslosen und Emigranten von heute sind Roma, aber fast alle Roma sind arbeitslos oder gehen ins Ausland. Die Roma waren die ersten, die entlassen wurden. Nicht oder nicht vorrangig wegen der Vorurteile der anderen, so Zamfir, sondern weil sie schlechter ausgebildet und mehrheitlich überhaupt erst auf dem Wege waren, sich an den modernen Lebensstil anzupassen. Die offizielle Politik der Kommunisten sei zwar auf »ethnische Homogenisierung« und »Assimilation« angelegt gewesen. In Sachen Armutsbekämpfung sei sie aber nicht ohne Erfolg geblieben. »In den Sechziger- und Siebzigerjahren«, sagt Zamfir auf der soliden Basis einer Untersuchung von über 3000 Haushalten, »hatten die Roma eine bessere Ausbildung und bessere Jobs als heute.« Mit dem Ausschluss aus dem System seien sie dann notgedrungen in die Solidarität ihrer Familienclans, in die Dörfer und in primitive Landwirtschaft zurückgekehrt. Die Geburtenrate stieg wieder stark an. »Die Bildung«, habe er sich Anfang der Neunzigerjahre noch gedacht, »die bleibt doch wenigstens! Die kann man nicht zerstören!« Aber selbst da, sagt Zamfir bitter, habe er sich eines Besseren belehren lassen müssen. »Man muss einfach nur die Buslinie einstellen, dann können die Kinder nicht mehr zur Schule fahren. So einfach ist das.«

Tatsächlich waren die allermeisten Roma in kommunistischer Zeit nicht nur in Rumänien ins Arbeitsleben integriert. Werksbusse fuhren über Land und holten die arbeitsfähigen Roma in die Fabriken, wo sie anfangs den Hof fegten und später dann an den Maschinen eingesetzt wurden. Produktive Arbeit war ein Recht, aber auch eine Pflicht. Wie alle anderen sollten die Roma Teil des »werktätigen Volkes« werden; die traditionellen, wenig produktiven Handwerke und erst recht der Handel, auch der Kleinhandel, und die Herumreiserei waren den Kommunisten suspekt. Was sie an überkommener Lebensweise antrafen, würde sich mit der Zeit geben, dachten die Kommunisten. Würden die »Lumpenproletarier« erst an regelmäßige Arbeit gewöhnt, so würden sie auch ihre ungewöhnlichen Verhaltensweisen ändern, an festen Orten wohnen und sich um einen Platz im Reihenhaus bewerben, die Kinder in den Kindergarten geben und überhaupt das Leben eines anständigen Werktätigen führen. Wo das richtige Bewusstsein sich nicht rasch genug einstellte, wurde nachgeholfen, in Ungarn und Rumänien etwa mit der Beschlagnahme und Zerstörung von Pferdewagen. In der Tschechoslowakei unternahm die Partei Mitte der Sechzigerjahre den Versuch, die großen Roma-Ghettos im slowakischen Osten aufzulösen und die Bewohner in den tschechischen Westen umzusiedeln. In keiner Gemeinde sollte der Roma-Anteil über fünf Prozent liegen.

Die Strategie erreichte, was sie erreichen sollte. Noch 1960 waren etwa in Ungarn 35 Prozent der Roma ohne ordentliches Beschäftigungsverhältnis, und weitere 32 Prozent waren bloß Gelegenheitsarbeiter. Zwanzig Jahre später gab es so gut wie keine beschäftigungslosen Roma mehr. Der Anteil der Gelegenheitsarbeiter war auf 15 Prozent geschrumpft, und die übrigen 85 Prozent hatten einen permanenten Job. In der Folge glichen sich auch die Lebensverhältnisse rasch einander an. Was die Versorgung mit Kühlschränken, Fernsehapparaten und Autos angeht, begann die Lücke zwischen Minderheit und Mehrheit sich zu schließen.

Die »samtene Revolution« kommt mit der Scheuerbürste

Gemeinsam ist Kommunisten und Postkommunisten in Osteuropa die Überzeugung, dass die tiefere Ursache der Armut und der sozialen Randstellung der Roma ihr überkommenes Verhalten ist. Zu sozialistischer Zeit unterzog sich die Partei der Aufgabe, die unordentlichen Roma zu ordentlichen Proletariern zu erziehen. Wenn es nicht vollständig gelang, dann nur, weil die »samtene Revolution« um das Jahr 1990 das Projekt jäh unterbrochen hat. Heute dagegen ist jeder seines Glückes Schmied, so die allgemeine Überzeugung. Wer nicht will, der hat schon. Bei einer Bevölkerung, der nichts geschenkt wird, kommen Hilfsprogramme für angebliche Arbeits- und Schulverweigerer, Kleinkriminelle, Verschwender und Alkoholiker nicht gut an.

Für die Roma kam die »samtene Revolution« mit der Scheuerbürste; der Trend zur Integration kehrte sich in allen mittel- und osteuropäischen Ländern augenblicklich um. Wo die Hälfte der Arbeitsplätze wegfiel, braucht es nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, warum unter den vielen Betroffenen auch so gut wie alle Roma zu finden waren. Sie hatten die schlechtesten Jobs und die schwächste Stellung bei den Betriebsführungen. Sie waren noch immer am schlechtesten ausgebildet. Als die Wirtschaft sich langsam wieder zu erholen begann, tat sie es ohne die Roma. Sie hatten schon vor dem Kommunismus nichts besessen und gingen bei der Rückerstattung von Grund und Boden ebenso wie bei Privatisierungen entsprechend leer aus. Bildung war in der Marktwirtschaft noch wichtiger als im Sozialismus. Was die meisten Roma davon mitbekommen hatten, reichte nicht aus. Zu allem Überfluss feierte, als bezahlte Arbeit knapp wurde, überall die persönliche Patronage fröhliche Urständ; auch dabei fiel für die Roma nichts ab. Was dann noch an Erklärungsbedarf bleibt, mag man mit ethnischer oder »rassischer« Diskriminierung auffüllen. Mit mehr gesellschaftlicher Anerkennung und mehr Wertschätzung für Roma, wie EU und Europarat sie für die osteuropäischen Roma forderten, hätten aber wohl höchstens einer oder zwei von hundert Roma ihren alten Arbeitsplatz behalten. Stattdessen hätte man dann einen oder zwei Rumänen entlassen. Nur im Westen fragt man sich, warum im »letzten Wagen« der Gesellschaft lauter Roma sitzen. Im Osten fragt man sich dagegen, warum der letzte Wagen unbedingt abgekoppelt werden muss.

Cătălin Zamfir urteilt ausgewogen. In der rumänischen Provinz hört sich das ganz anders an. »Die Zigeuner werden hier nicht diskriminiert«, behauptet mit zusammengekniffenen Augen Ina Voinea, Chefredakteurin der Gazeta de Sud in Craiova, die eine romafeindliche Kampagne nach der anderen fährt. »Und wenn es doch Diskriminierung gibt, dann höchstens eine positive.« Dass Roma gar nicht benachteiligt, sondern im Gegenteil bevorteilt würden, kann man von vielen Ungarn, Slowaken, Rumänen und Bulgaren hören. Das ist natürlich nicht wahr. In Wirklichkeit hat in den genannten Ländern niemand, der nach Roma »riecht«, so aussieht, der eine einschlägige Adresse vorweist oder einen entsprechenden Namen trägt, auf dem privaten Arbeitsmarkt eine Chance. Roma werden auch für Hilfstätigkeiten nicht eingestellt. Man rühmt sich, für Zigeuner einen scharfen Blick zu haben; auch blonde Haare und blaue Augen nützen da nichts. Der stillen Übereinkunft schließen sich sogar große Unternehmen an, wie die Tochter des US-Konzerns Bechtel, die für den Autobahnbau jede Menge Hilfsarbeiter brauchte. Eine Beschäftigungszusage wurde zwar verkündet, dann aber nicht eingehalten; man will keinen Ärger mit dem Stammpersonal. Im slowakischen Filákovo arbeiteten vor der Wende Hunderte Roma im Stahlwerk. Sie leben noch heute in den Wohnblocks ringsum; seit das Werk an US Steel verkauft wurde, ist kein einziger von ihnen mehr dort beschäftigt. Aus der Slowakei sind etliche Fälle dokumentiert, dass Roma in Kneipen gesonderte, besonders kahle und primitive Räume zugewiesen bekommen – wie im Apartheid-Regime in Südafrika. Die einen kriegen ihr Bier in Gläsern, die anderen in Joghurtbechern. Nachrichten über Mauern, mit denen in Tschechien, der Slowakei und Rumänien Roma-Viertel von den Wohngebieten der »Weißen« abgeteilt werden, erregen mit schöner Regelmäßigkeit die liberale Öffentlichkeit im Westen, ebenso wie etwa das »Herumstehverbot«, das der Bürgermeister des tschechischen Rotava mit Blick auf die Roma in seiner Gemeinde erließ. Dass Roma sterilisiert werden sollten, damit sie sich nicht »wie die Karnickel« vermehren, ist vor allem in der Slowakei und in Ungarn eine Überzeugung, die viele ganz selbstverständlich und ohne besonderen Hass vortragen. Sogar dass »alle vergast« gehören, kann man mitunter hören.

Die Osteuropäer und ihre Roma

Diskriminierung und öffentliche Herabwürdigung von Roma waren schon zu sozialistischer Zeit üblich. Die Strategie, die Außenseiter in rechtschaffene Angehörige des werktätigen Volkes zu verwandeln, machte die Roma zu Objekten der Pädagogik, zu Kindern, und rief das Mehrheitsvolk in die Lehrerrolle. Wer von den kommunistischen Behörden belehrt, geschurigelt und zu Bekenntnissen gezwungen wurde, konnte seinen Ärger darüber nach unten weitergeben. In ungarischen Dörfern erschien im Jahrestakt die Armee und führte kollektive Waschaktionen durch: Männer, Frauen und Kinder mussten sich unter den Augen der Soldaten mal so richtig sauber schrubben – eine öffentliche Erniedrigung, die auf der einen Seite so empfunden und auf der anderen genau so gemeint war. In der sozialistischen Tschechoslowakei schließlich wurde Roma-Frauen sogar Geld angeboten, damit sie sich sterilisieren ließen. Noch am liberalsten war der Umgang mit Roma eigenartigerweise in der stalinistischen Phase. Schüchterne Versuche zu einer kulturellen Emanzipation der Roma, wie eigene Klubs, Theater, Interessenvertretungen, wichen in den Ländern des Ostblocks, in der Tschechoslowakei ebenso wie in Polen, der Sowjetunion, Ungarn und Rumänien, ab Mitte der Fünfzigerjahre einer rigorosen Assimilierungspolitik. In Bulgarien schlossen die Kommunisten alle Roma-Einrichtungen. Meist Muslime wie die Türken, mussten sie sogar ihre Namen gegen slawische eintauschen. In Rumänien wurden die Roma öffentlich totgeschwiegen und unter den »mitwohnenden Nationalitäten« wie den Ungarn oder Deutschen nicht aufgezählt. »Diskriminierung« war das im eigentlichen Sinne des Wortes nicht; die Roma sollten von allen anderen eben nicht »diskriminiert«, also unterschieden werden. Aber wie so oft ließ sich im Schutz proklamierter Gleichheit besonders effizient diskriminieren.

Trotz des eindeutigen Befunds wird die schlechte Behandlung der Roma von der Mehrheit der Osteuropäer geleugnet. Der Grund dafür liegt tief in ihrem Selbstbild. Wie soll ich, wie sollen wir jemanden diskriminieren? Kann das überhaupt sein? Ich habe doch weder Geld noch Macht! Man versteht sich selbst mindestens ebenso wie die Roma als Opfer und hält sich als solches zu Ungerechtigkeit oder gar Unterdrückung für unfähig. Wenn einer etwas zu verteilen hat, dann ist das nach der Vorstellung der meisten der Staat, und der bevorzugt unfairerweise mit besonderen Hilfs- und Förderprogrammen die Roma. »Die Gesellschaft« und damit jeden Einzelnen als selbständigen Akteur haben viele gar nicht auf dem Schirm. Besonders den Dorfbewohnern in den Übergangsländern ging und geht es tatsächlich schlecht. Im ungarischen Gyöngyöspata brach die Hysterie gegen die Roma in dem Moment aus, als die Finanzkrise dort angekommen war. Arme Roma stehen potenziell in Konkurrenz zu armen Ungarn, Rumänen, Slowaken: So stellt sich die Lage für die Mehrheit dar. Mit der Behauptung, sie würden diskriminiert, verschaffen sich die Roma auf typische Zigeunerart einen Vorteil, meinen viele. In Rumänien, klagen die Experten der EU-Kommission, wird nur jeder siebte Euro, der im Sozialfonds, im Regionalfonds und im Fonds für ländliche Entwicklung für die Roma zur Verfügung stünde, wirklich abgerufen. Noch weniger ist es geworden, als wichtige Kompetenzen in dem zentralisierten Land von der nationalen auf die kommunale Ebene verlagert wurden. Heute muss der Gemeinderat entscheiden, ob er Gelder für ein schönes Gesundheitszentrum im Roma-Viertel abrufen will. Wenn er wiedergewählt werden will, lässt er es besser bleiben.

Es ist aber nicht nur der Futterneid; die Roma stehen auch für eine Kränkung. Die verarmende Landbevölkerung in Ungarn, der Slowakei oder Rumänien hatte die absurde, oft chaotische Planwirtschaft mit altbäuerlichen Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß und Disziplin überstanden. Dem sozialistischen System, fand man auf dem Lande, haftete dagegen etwas Windiges, Zigeunerisches an. Seine Unehrlichkeit, die Geschwätzigkeit, die Unordnung, das Renommieren galten als klassische »zigeunerische« Gebrechen. Von Ceaușescu hielt sich zu dessen Lebzeiten hartnäckig das – im Übrigen unzutreffende – Gerücht, er sei ein Zigeuner gewesen. Nach der Wende mussten die Bauern erfahren, dass ihr Fleiß in der Marktwirtschaft noch weniger zählt als im Sozialismus, »zigeunerische« Eigenschaften dagegen mehr. Dass die realen Roma von der »Verzigeunerung« ihres Landes überhaupt nicht profitieren, spielt dabei nur eine mindere Rolle. Sie sind die Geier, die sich über den Leichnam einer kleinbürgerlichen Existenz hermachen, oder die Raben, die das neue Unheil ankündigen. »Raben« ist in Rumänien ein beliebtes Schimpfwort für Roma. In jedem Falle gehören sie abgeschossen.

»Man tut alles für sie, und dennoch …«

Im Sozialismus musste, wer sich liederlich betrug, mit Ermahnungen und Zwangsmaßnahmen sowie, auch wenn das offiziell nicht vorgesehen war, mit Erniedrigung rechnen. Aber immerhin winkte denen, die darauf aus waren, der Aus- und Aufstieg aus dem Ghetto. Wenn die Roma aus ihren Elendsvierteln nicht herauskommen, dann ist der tiefere Grund dafür ihr eigentümliches Betragen: Das Bild hat sich bis heute gehalten. Müssten nicht gerade sie, denen es ja so schlecht geht, händeringend nach Arbeit suchen und wenigstens die miserabel bezahlten Jobs annehmen, die sich hier und da bieten? Wie kann es sein, dass ausgerechnet die Roma, für die eine gute Schulbildung doch der einzige Ausweg aus der Misere ist, ihre Kinder so unregelmäßig zum Unterricht schicken? Warum geben Roma Unsummen zum Beispiel für ein Hochzeitskleid aus, wo sie das Geld doch so gut in ein kleines, bescheidenes Geschäft investieren könnten? Warum sind ausgerechnet in den Roma-Vierteln, wo doch jeder Cent dringend gebraucht würde, Schnaps und Glücksspiel so beliebt? Das sind die Fragen, die man reflexartig gestellt bekommt, wenn man sich über das Elend erschüttert zeigt. Die Antwort auf die Fragen wird je nach Weltanschauung und Grad der Modernität mal im ewigen »Volksgeist« der Zigeuner oder in ihrer »Kultur der Armut« gesucht, mit der die Betroffenen sich selbst im Wege stehen. Wer dagegen die Diskriminierung der Roma für ihr Elend verantwortlich macht, hat, wie die meisten Osteuropäer wohl vermuten würden, noch nie ein Roma-Viertel betreten und von den Verhältnissen, über die er spricht, keine Ahnung. Ihre Roma, Sinti, Kalé oder Manouches kennen die allermeisten Westeuropäer nur aus der Zeitung, aus Romanen oder aus der Oper. In Osteuropa dagegen ist fast jeder irgendwann mit Roma-Kindern zur Schule gegangen – oft nur kurz, denn viele von ihnen holten sich nur am ersten Schultag die kostenlosen Schulbücher und blieben dem Unterricht von da an dauerhaft fern. Dass Roma andere Maßstäbe haben, ist Osteuropäern seit ihrer Kindheit klar. Wenn Westler das nicht wahrhaben wollen, sind sie entweder naive Idealisten oder suchen nur nach einem weiteren Argument, um sich von den angeblich rückständigen und rechtsradikalen Ostlern abzuheben.

Immer, wenn wieder ein Projekt zur Lösung der »Roma-Frage« gescheitert ist, hat es an der fatalen Mischung aus dem Unverstand der Betreiber und dem Unwillen der Betroffenen gelegen. Es wurde einfache Arbeit angeboten, aber es ist keiner erschienen. Man hat, wie im ungarischen Gyöngyöspata, wenigstens gemeinsamen Religionsunterricht angeboten, aber niemand ist darauf eingegangen. Es gab Kredite, aber das Geld wurde in eine Party gesteckt. Ob nun das Angebot verlockender hätte sein können oder ob die Roma in ihrer Lage nach jedem Strohhalm hätten greifen sollen, ist Ansichtssache; strenge Sparkommissare und freigiebige Keynesianer, Roma-Freunde und Roma-Feinde können mit ihren Argumenten endlos Ping-Pong spielen.

An Projekten, wie Roma in osteuropäischen Slums zu helfen wäre, mangelt es nicht, nicht einmal an Geld. Trotzdem hat das »Jahrzehnt der Roma-Inklusion«, von zwölf europäischen Staaten für die Jahre 2005 bis 2015 ausgerufen, kaum greifbare Ergebnisse gebracht. Jedes Mitgliedsland, das sind alle zwischen Tschechien im Norden bis Bulgarien im Süden sowie Spanien, legte einen »Aktionsplan« zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen vor. Das Geld kommt von der Weltbank, der privaten Soros-Stiftung, von der EU, verschiedenen Uno-Organisationen wie dem Entwicklungsprogramm UNDP, dem Flüchtlingskommissariat, von Habitat und dem Kinderhilfswerk Unicef, vom Europarat und mehreren staatlich finanzierten Roma-Agenturen. Vergeben wird es für allerlei Projekte, von denen manche sinnvoll und wirksam sind, andere weniger. In jedem Falle haben die vielen Einzelmaßnahmen in Summe an der Lage der meisten Roma wenig geändert. Die Experten der Soros-Stiftung, die anders als die teilnehmenden Staaten und internationalen Organisationen nichts schönreden müssen, machten einige Fortschritte bei der Integration von gitanos in Córdoba und ganz Andalusien aus. Für ungarische Roma, fanden sie, hat sich der Zugang zu preiswertem Wohnraum verbessert, für rumänische der zur Schulbildung. Sonst geschah wenig, »außer in Dokumenten«, sagt Daniela Tarnovschi, Projektkoordinatorin der Soros-Stiftung in Rumänien.

Europa und das Projekt Volkserziehung

Wie es bei solchen Projekten zugeht, hat die Wiener Forscherin Sabrina Kopf in dem ostslowakischen Ort Veľká Ida beobachtet. Die Regierung der Region hatte zwei Projekte aufgelegt, eines, um Männer in Arbeit zu bringen, ein anderes, um Frauen mit Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen erst einmal die Voraussetzungen für die Arbeitssuche zu vermitteln. Die Mittel kamen zur Hälfte aus dem Europäischen Sozialfonds, zur anderen Hälfte von der Region – solche »Kofinanzierung« ist für EU-Fonds ein festes Muster. Mehrere hundert Männer aus Veľká Ida und zwei anderen Orten sollten in EDV, im Schweißen und Sägen geschult werden. Die wirkliche Teilnehmerzahl lag dann bei nur 135. Lediglich 49 bekamen danach tatsächlich einen Job, wenn auch meistens nur einen saisonalen. Wer zum Beispiel einen Arbeitsplatz in einem Sägewerk wollte, hätte hundert Kilometer fahren müssen und die Familie nur am Wochenende gesehen. Dazu war aber niemand bereit. Noch schlimmer war das Ergebnis bei den Frauen. Eigentlich hätten die Teilnehmerinnen neben ihrem Kurs alle einen Putzjob in der Schule bekommen sollen – zehn Stunden wöchentlich bei einem Monatslohn von 58 Euro. Das Arrangement kam nicht zustande, mit dem Ergebnis, dass die Frauen größtenteils ausstiegen und den Projektbetreiberinnen vorwarfen, sie hätten sich das Geld in die eigene Tasche gesteckt.

Das Projekt krankte an den üblichen Gebrechen. Die ausführenden Mitarbeiter schoben den Misserfolg auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Behörden, die unzureichende Vorbereitung, auf den hohen Verwaltungsaufwand. Desinteresse, Desorganisation, unüberlegter Zuschnitt, Vorurteile – das sind nach Meinung von Kritikern der Szene die Hauptübel des Projektwesens. Geht es bei den Projekten gezielt um Roma, mischen sich oft die Stereotype der Organisatoren in die Arbeit. Es geht nicht um die Interessen der Zielgruppe, sondern um deren Erziehung. Was die Roma konkret wollen, sagen sie oft nicht, und wenn doch, bleibt es unberücksichtigt: Sie wollen es ja nur, weil sie eben kulturell und zivilisatorisch rückständig sind und von den wirklichen Erfordernissen des Arbeitsmarkts keine Ahnung haben. Immer wieder kommt in solchen Fällen die Forderung, man müsse die Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen der Roma mit Projekten betrauen. Aber auch dieser Ansatz hat seine Grenzen. Gut ausgebildete, junge Roma sind knapp, und wo es sie gibt, genießen sie in den Roma-Communities wegen ihrer Jugend wenig Autorität. Wer eine Universität durchlaufen hat, ist den Elendssiedlungen meistens schon seit früher Kindheit entfremdet, wenn er überhaupt je Kontakt zu ihnen gehabt hat. Roma ist eben nicht gleich Roma.

Vor allem aber haben Koordinatoren und Sozialarbeiter das Gefühl, sie müssten die Nutznießer ihres Projekts zu ihrem Glück zwingen. Statt sich zu fragen, was sie noch besser machen können, stellen sie die naheliegende Frage, warum sie das eigentlich tun sollten. »Die leben eben davon, was das Sozialamt ihnen gibt«, resümierte es der zuständige Sachbearbeiter auf dem Gemeindeamt von Veľká Ida. »Ein paar wollen leben wie die Weißen und mehr erreichen. Das sind aber höchstens fünf Prozent.« Auch der Sozialarbeiter des Ortes sah sich bestätigt: »Die haben keine Motivation.« Dass niemand so gern einen Job in hundert Kilometer Entfernung annimmt, ist verständlich. Aber wenn das nackte Elend die Alternative ist? Und ist Lesen, Schreiben und Rechnen lernen nicht auch ohne motivierenden Job etwas Erstrebenswertes?

Wie Ungarn seine Roma auf Trab bringt

Mit den Tücken der Volkserziehung kämpft auf andere Art auch die »nationale Roma-Strategie« Ungarns. Hier wird nicht gefragt, sondern angetrieben. Ein wichtiges Element dabei sind Beschäftigungsprogramme mit einem festen Rahmen. Wer sich dort anmeldet, wird von der Gemeinde mit einfachen Arbeiten betraut. Im Monat gibt es umgerechnet 150 Euro und damit 60 Euro oder 40 Prozent mehr als den Sozialhilfesatz, weniger aber, als der gesetzliche Mindestlohn ausmacht. Wer sich nicht anmeldet oder wegen eigenen Fehlverhaltens ausgeschlossen wird, verliert für volle drei Jahre seinen Anspruch auf Sozialhilfe. Die Teilnehmer müssen für das Geld ganztägig arbeiten und können auch über Land geschickt werden, wo sie dann die Woche über in Baucontainern schlafen. Die Gemeinden suchen sich einen Träger für die Arbeitsbrigaden, zum Beispiel die Försterei oder das Amt, das für die Grünflächen zuständig ist, die Müllabfuhr oder einen Staatsbetrieb. Problematisch ist die gut gemeinte Strategie vor allem durch die Anbindung an die Kommunen, in denen die Roma seit jeher eine feste – und zwar die niedrigste – soziale Stellung einnehmen. Die ungarischen Nachbarn, die ihnen mit Ablehnung und Misstrauen begegnen, sind jetzt ihre Chefs. Was in Budapest als eine Art Ermutigungsstrategie geplant war, wird in den Dörfern der Puszta so zu einer guten Gelegenheit, die Zigeuner endlich mal auf Trab zu bringen und ordentlich zu kujonieren.

Auf ähnliche Weise und in ähnlicher Position waren die Roma schon im Sozialismus in Arbeit gebracht worden. Es gelang damals; zu einer nachhaltigen Verbesserung hat die Strategie aber nicht geführt. In dem berühmt gewordenen Dorf Gyöngyöspata, wo eine paramilitärische Garde die Roma über Monate schikaniert hatte, organisierte der neue, rechtsextreme Bürgermeister die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Als Aufseher über seine Roma setzte das Forstamt einen Mann aus der Garde ein. Der ließ seine Arbeiter jeden Morgen in Reih und Glied aufmarschieren. Der Bürgermeister und die Polizei schauten, wie bei einer Sträflingsbrigade, regelmäßig nach dem Rechten. Klagen über Schikanen setzten sofort ein; unglaubwürdig sind sie nicht. Bleiben die Roma weg, ist dann der Beweis erbracht, dass bei ihnen sowieso Hopfen und Malz verloren ist.

Dass das Programm mit Hürden, Beschwernissen und Zumutungen verbunden ist, gehört zum Ansatz. »Menschen in Arbeit bringen« ist der erklärte Impetus der nationalen Roma-Strategie. »Die sollen!« So beginnt der (ungeschriebene) erste Satz jedes Projekts. Damit sie das auch können und Arbeit finden, sollen sie erst einmal lernen. Ein Programm sieht zum Beispiel gemeinsamen Schulbesuch von Kindern, Eltern und Großeltern vor. Die Bildung von Sportvereinen soll gefördert werden. Gezielte Trainingsprogramme richten sich an junge Roma, besonders an Frauen, deren Rolle gestärkt werden soll. Unternehmen, die Roma einstellen, sollen bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt werden. Viele der Projekte sind sinnvoll und gut gemeint, manches musste ihr Initiator, Staatssekretär Zoltán Balog, gegen eingeschworene Roma-Feinde durchsetzen. Alle aber setzen sie auf Ermutigung.

Ermutigung allerdings ist kein typisch osteuropäisches Herangehen. Die Idee hinter der ungarischen Roma-Strategie beruht auf einer These des amerikanischen Soziologen Charles Murray, die seit den Neunzigerjahren bei den Sozialreformen vieler Länder Pate gestanden hat, unter anderem auch beim deutschen Hartz-IV-Gesetz. Danach halten soziale Hilfsleistungen Arbeitslose davon ab, sich selbst zu helfen. Folglich muss man Sozialleistungen im Interesse der Armen abbauen; tough love