Den Aufstand proben

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Der Nubbel, eine mannsgroße Strohpuppe, ist die Figur des Sündenbocks im rheinischen Karneval. Der Nubbel hängt in der Karnevalszeit über vielen Kneipen und wird in der letzten Karnevalsnacht verbrannt.

Vorwort

Der Weltuntergang fand an einem Oktoberabend im Jahr 2010 statt: Karin Beier ließ die Wasserpegel steigen, den Himmel donnern und die Wände beben. Mit der Wucht einer Naturkatastrophe brach an diesem Abend ein aggressiv engagiertes Theater über die Zuschauer im Kölner Schauspielhaus herein. Man sah eine riesige, finstere Fabrikhalle auf der Bühne, in der Büroschreibtische und Stahlgerüste herumstanden. Man sah 50 Mitspieler im Chor sprechen, tanzen und mitunter auch zu Boden sinken. Und man sah am Ende eine Sintflut die Szenerie überschwemmen.

Es war ein Inferno aus Wortmusik und Katastrophenkomik, das da mit Texten von Elfriede Jelinek angerichtet wurde – und es war der Triumph eines klug zupackenden, sinnlichen politischen Theaters auf Gegenwartshöhe im 21. Jahrhundert. Karin Beiers grandioses Spektakel trug den ziemlich umständlichen Namen »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz«, es war entstanden aus drei Texten von Elfriede Jelinek, und es erzählte von drei schrecklichen Unglücksfällen, bei denen eine Menge Menschen zu Tode kamen. Von

Rund dreieinhalb Stunden dauerte das Theaterereignis »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz«, und in dieser Zeit schritten die Darsteller von der Desaster-Theorie zur Desaster-Praxis. Erst sprach der Einzelmensch, dann wurde andächtig von einem Chor der Unfallopfer wie im antiken Theater die Anklage des menschlichen Größenwahns deklamiert und die mörderische Schönheit der Natur besungen, schließlich brach die Flut los. Aus einem großen Rohr und einem Bodenloch blubberte Wasser auf die Bühne des Kölner Schauspiels, mehr und mehr wurde die komplette Bühnenlandschaft zur Seenplatte. Zwei Schauspielerinnen hasteten durchs knöcheltief stehende Wasser zu Büroschreibtischen, um Aktenstapel in Sicherheit zu bringen, andere Akteure übten seltsame Ballettfiguren oder warfen sich beherzt den Wassermassen entgegen.

Komisch und traurig und berührend war dieser Theaterabend, zugleich aber auch eine freche, zornige Einmischung ins wirkliche Leben. Jelineks Texte laden ein zu ästhetischen Untergangsbildern und einem allgemeinen Lamento über die Schrecklichkeit der Welt, Karin Beiers Inszenierung aber bezog Stellung und machte klar: Nicht Verzweiflung, sondern Verantwortung war das Thema, das auf der Bühne verhandelt wurde. Mag die Dichterin Jelinek in ihren Texten den Umgang der Menschen mit der Natur als Frevel verhöhnen und das blinde Vertrauen, das viele in die Technik setzen, als Hybris geißeln, die Regisseurin Karin Beier machte die Attacke konkret: Schludrige Beamte, geldgierige Baufachleute, die Bosse der Stadtpolitik

So ließ Karin Beier in ihrer Aufführung zum Beispiel die Stimme des zur Zeit des Unglücks amtierenden Kölner CDU-Oberbürgermeisters Schramma einspielen, der eine mörderische »Naturgewalt« walten sah beim Unglück – und immer wenn im Theater Politikersätze aus den Lautsprechern klangen, hörte man während der Vorstellungen von »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« einzelne Zuschauer pfeifen, lachen und johlen.

 

Mit den Mitteln der Theaterkunst von den Missständen, Katastrophen und Glücksmomenten der realen Welt erzählen: das ist ein Ziel, das heutzutage viele Theaterregisseure beschwören. Kaum ein anderer unter den deutschsprachigen Theatermachern ist diesem Ziel in den vergangenen Jahren so nahgekommen wie die 1965 geborene Karin Beier. Sie hat in diesen Jahren ein Theater der Leidenschaft und der klugen Berechnung, der musikalischen Energie und des Aufbegehrens geschaffen, das von einer sympathischen Verspieltheit und großer Angriffslust angefeuert wird. Karin Beiers Theater fordert die Zuschauer intellektuell heraus und fängt sie zugleich ein mit einer das Pathos nicht scheuenden Überzeugungskraft.

Karin Beier ist eine Kämpferin. Rebellische Parolen allerdings sind ihr zuwider. »Es geht um eine Revitalisierung des Theaters, nicht um eine Revolutionierung«, hat sie einmal über ein Stück des italienischen Dichters Luigi Pirandello geschrieben, das sie im Jahr 2000 am Burgtheater in Wien inszenierte. »Die Fragen, denen man sich im Theater stellt, sind existenziell«, heißt es in diesem Text über Pirandello, »doch er formuliert sie spielerisch.« Das benennt

»Das Publikum soll überrascht, verstört, illusioniert und desillusioniert werden«, notierte Karin Beier damals über Pirandello, statt einer »Theaterrevolution als brachial-teutonischem Hirnprojekt« müsse man die Ideen dieses Autors eher mit den Waffen der Poesie und des Humors durchsetzen. Den deutschen Titel des Pirandello-Stücks »Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt« hatte Karin Beier in Wien durch einen neuen, anderen ersetzt – und dieser Titel passt ganz gut als Motto für die Arbeit dieser Theatermacherin insgesamt: »Mit Leidenschaft ist nicht zu spaßen«.

Das galt für Karin Beiers Inszenierung von »Das Werk / Im Bus / Ein Sturz« natürlich im Besonderen. Der Abend war ein sorgsam austariertes Kunststück aus ätzendem Humor, greller Todesverzweiflung und einem Rausch aus Erlösungsmusik. Am Ende stand ein kollektiver Theater-Glückstaumel: Auch nach gewöhnlichen Repertoire-Aufführungen der Inszenierung gab es oft minutenlang Applaus und großen Jubel.

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die Regisseurin Karin Beier eine der wichtigsten, prägenden Theatermacherinnen der Gegenwart. Seit 2007 hat sie als Intendantin das Kölner Schauspiel geleitet, im Sommer 2013 beginnt ihre Amtszeit als Intendantin von Deutschlands größtem Sprechtheater, dem Hamburger Schauspielhaus.

Ihre Kunst als Regisseurin und ihr Geschick als Führungskraft in Köln haben ihr Lob und Preise und Ehrungen

 

»Theater muss Stellung beziehen«, lautet einer von Beiers Lieblingssätzen, ein anderer: »Theater muss laut sein«.

In Köln ist Beier ein spektakulärer Kraftakt gelungen. Als sie im Dezember 2005 in ihrer Heimatstadt am Rhein ihren Intendantenvertrag unterschrieb, war diese Entscheidung ein krasser Milieuwechsel. Er bedeutete, aus dem Glamourpalast der deutschsprachigen Theaterwelt direkt in deren Straflager umzuziehen. Zur Zeit ihrer Intendantenkür war sie fest engagiert am Wiener Burgtheater, der reichsten Bühne weit und breit. Ihren Vertrag als Hausregisseurin kündigte sie, um in Köln Schauspielchefin zu werden. Das galt als Höllenjob.

Von den wichtigen Politikern der Stadt Köln hieß es in vielen deutschen Feuilletons, sie seien besonders üble Kulturbanausen; vom Kölner Theater, es sei seit vielen Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken; vom Publikum, es sei entweder längst geflüchtet oder es ergötze sich lieber an harmlosen Theater-Liederabenden statt an anspruchsvoller Bühnenkunst.

»Wir setzen nicht auf Harmonie, sondern auf Risiko«, verkündete Beier, als es losging mit ihrer Kölner Intendanz. »Jeder soll sich bewusst sein, dass es auch anstrengende

Mit ihrer Arbeit auf der Bühne und im Intendantenbüro hat Karin Beier in der Stadt Köln künstlerisch für einen manchmal euphorischen Aufbruchsgeist gesorgt. Vielleicht noch mehr bewegt aber hat sie mit dem politischen Aufruhr, den sie entfesselte.

In ihrem Theaterjob hat sie praktisch vom Start weg mit eigenen Inszenierungen wie denen von Friedrich Hebbels »Nibelungen« oder Franz Grillparzers »Das Goldene Vlies« Kritiker und Zuschauer für sich eingenommen, und sie hat hochinteressante Theater-Erneuerer wie das dänische Künstlerduo Signa und die britische Regisseurin Katie Mitchell in ihr Haus geholt. Darüber hinaus aber schaffte es Karin Beier, zu einer Symbolfigur des demokratischen Bürgerprotests zu werden: In einem oft erbittert geführten Kampf trat sie an gegen das gigantische Bauprojekt, das den Abriss und Neubau des Schauspielhauses vorsah – und gemeinsam mit ihren Mitstreitern, zu denen eine umtriebige Bürgerinitiative gehörte, gelang es ihr tatsächlich, die Neubaupläne zu kippen.

Das ursprünglich von Kölner Künstlern und Politikern fast ausnahmslos bejubelte Neubauprojekt war aus Geldmangel von den Kölner Stadtchefs auf eine Sparversion geschrumpft worden, die im ersten Entwurf für Oper und Schauspiel gleichermaßen großzügig ausgelegte neue Behausung sollte in der abgespeckten Version durchgepaukt werden. Karin Beier wandte sich dagegen, weil das Sprechtheater

 

Sie habe in Köln Dinge über Demokratie gelernt, die sie selbst überrascht hätten, sagt Karin Beier. »Ich habe vorher nicht gedacht, dass ein kleines Theater eine so große Kraft entwickeln kann.«

Davon will dieses Buch berichten: Von der Arbeit einer Regisseurin, die in den vergangenen Jahren hineingewachsen ist in die Rolle einer politischen Kämpferin. Von einer Künstlerin, die exemplarisch steht für eine Generation von Theaterleuten, die klug und selbstbewusst und leidenschaftlich für ein analytisch genaues, sinnliches Theater eintreten.

Viele der hochverdienten, großen Theatermacher, die in den 1980er-Jahren den Ton angaben im deutschsprachigen Theater, Peter Stein zum Beispiel oder Claus Peymann oder Andrea Breth, geben sich heute in ihren öffentlichen Auftritten und in ihren Theaterarbeiten so, als seien unsere Schauspielhäuser vor allem stets abwehrbereite Bastionen: Verteidigungsanlagen, aus denen scharf geschossen werden müsse gegen die Zumutungen der modernen Gesellschaft und gegen den Sparwillen der Politiker, die diese Bastionen nur zu gerne schleifen möchten.

Karin Beier und die besten Regisseure ihrer Generation setzen dieser Defensivkunst eine Haltung entgegen, die das Theater als bürgerlichen Marktplatz und attraktiven Aktionsraum

Von dieser Begeisterung erzählt dieses Buch.

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Vortrag, gehalten am 30. November 2010 in der Universität Köln

Theater ist überflüssig. Theater ist überflüssig und teuer. Die deutsche Theaterlandschaft ist teuer und überflüssig und aus der Zeit gefallen. Da kann eigentlich kein Zweifel bestehen. Warum aber treibt dann ein drohender Theaterabriss innerhalb kürzester Zeit 50.000 Bürger zur Unterschrift gegen einen Ratsbeschluss (der Stadt Wuppertal), warum lässt die Kürzung von Theaterzuschüssen einen stolzen Stadtstaat (Hamburg) plötzlich erbärmlich dastehen, warum besuchen Jahr für Jahr 300.000 Zuschauer die Kölner Bühnen? Was hält uns und unser Publikum fest an diesem Medium?

Geht es hier um betreutes Arbeiten für eine Horde lebensuntüchtiger Drückeberger? Geht es darum, dem Zuschauer ein vergrößertes Wohnzimmer mit Kostümen und Schmuck zu tapezieren? Geht es darum, sich vor den relevanten Dingen der Welt zu verkriechen, indem man sich den Eindruck der Teilhabe am Leben künstlich verschafft,

Theater ist live. Das einzigartige Spezifikum des Theaters liegt auf der Hand. Der lebendige Moment, nicht medial vermittelt, nicht konserviert und nicht unendlich wiederholbar. Dazu ein paar Gedanken, die vielleicht Offensichtliches formulieren, aber dabei helfen sollen, sich einem Phänomen zu nähern.

Theater entsteht im Augenblick und ist im nächsten Moment auch wieder verschwunden. Oft denken wir, das sei schade, doch in Wirklichkeit ist es ein befreiender Sachverhalt. Denn seinetwegen muss man sich während der Arbeit nie die Frage stellen, was wohl die Nachwelt darüber denkt, oder ob das, was man tut, zukunftsträchtig ist oder nicht. Ähnliches gilt für die Vergangenheit. Theater benutzt zwar Stoffe der Vergangenheit, muss sich ihrer Geschichtlichkeit aber nicht verpflichtet fühlen. Das ist ein Privileg. Theater kann, sozusagen über dem Zeitkontinuum schwebend, unabhängig vom Prüfstand der Geschichte und unbelastet vom zukünftigen Urteil, sich in wüsten Behauptungen Abend für Abend immer neu erfinden. Diese Unabhängigkeit von Zukunft und Vergangenheit macht den Theatermacher und hoffentlich auch den Zuschauer unendlich frei. Frei für anarchistische Behauptungen und wilde Assoziationen, die vielleicht nur einen kleinen Augenblick Bestand haben, aber gerade deswegen ein neues Licht auf die Dinge werfen können.

 

Ich

Nach diesem ersten Theaterabend folgte eine lange Bahnfahrt mit der KVB. Ich saß da mit meinen Freundinnen, wir waren aufgewühlt und redeten die armen anderen Fahrgäste schwindelig. Keiner kann das Theater verlassen und einfach schweigen: Man muss darüber reden. Und sei es nur, um seinem Ärger Luft zu machen. Kein anderes Medium zwingt einen so sehr zum Reden wie das Theater. An der Endhaltestelle der Linie 1 hatten wir damals 15-Jährigen die Erfahrung gemacht, dass ästhetische und intellektuelle Auseinandersetzungen extrem lustvolle Vorgänge sind. Dass sie unglaublichen Spaß machen und einen unfassbar reich beschenken. Ich behaupte, dass dieser Genuss mein Leben extrem beeinflusst hat, ich meine die Diskussion, die damit verbundene Bildung und die Hinterfragung von Werten. Theater spiegelt nicht die Gesellschaft, es hinterfragt und kommentiert

Der Live-Moment des Theaters birgt glücklicherweise ein hohes Maß an Unkontrollierbarem, aufseiten der Spieler und aufseiten der Zuschauer. Und da fängt der Spaß erst richtig an. Das Faszinierende an meinem Beruf sind ja nicht allein die hehren Gründe, die Bildung, die Reflexion, die Lust an der Auseinandersetzung. Das ist alles sehr wichtig, aber darüber hinaus gibt es die dunklen Ecken, Gassen und Zimmer. Wirklich spannend wird es, wenn das Theater an unsere niederen Instinkte rührt, wirklich spannend ist die Verbindung des Geistigen mit der Ursuppe, mit dem Chtonischen, mit dem Schlamm, mit dem Matsch.

Tatsächlich ist es doch so, dass wir alle über ein großes Maß an Gewaltbereitschaft, an Destruktivität, an Bösartigkeit, an Rohem, an Krudem, an Schmutzig-Hässlichem und wirklich Gemeinem verfügen. Da schlummert eine große Kraft in uns und oft genug eine große Lust– oder nicht? Wo normalerweise Wahnsinn und Gefängnis die Folge wären, kann ich im geschützten Raum des Theaters darauf hoffen, die Kontrolle zu verlieren, mit anderen zusammen, ich kann die Schauspieler für mich schwitzen lassen und darauf setzen, dass etwas anders läuft an diesem Abend als sonst. Das kathartische Potenzial solcher Momente ist offensichtlich.

Theater wirkt auf Geist, Geschlecht und Gedärm. Schönheit und Grauen sind dabei kein Gegensatzpaar. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Nichts ist berauschender als das Erschrecken. Das Dunkle, Unkontrollierbare, Rauschhafte mischt sich mit der Lust am Geistigen, Sprachlichen, Anstrengenden – diese Mischung

Seien wir politisch unkorrekt! Das Theater erlaubt mir, wissenschaftlich sträflich unpräzise, moralisch anrüchig und halbseiden zu sein. Wo sonst kann ich rauschhaft, triebhaft, intelligent, böse, politisch unkorrekt, politisch korrekt, sinnlich, unverschämt, lächerlich und – jetzt kommt das Allerbeste – frei von Instanzen sein. Theater hat und schenkt diese Freiheit, die es beispielsweise Christoph Schlingensief gestattete, eines seiner Projekte »Ausländer raus« zu taufen; und dies war bei aller Obszönität ein Ausdruck großer künstlerischer Integrität. Oder auch Ausdruck maßloser Boshaftigkeit – eines Impulses, der auch mich bereit machen könnte, mich als Oberhexe an die Spitze einer Bewegung zu stellen.

Theater darf alles aus dem Kontext reißen, darf gleichzeitig »Hosianna!« und »Kreuziget ihn!« rufen. Und wenn alle Stricke reißen, hat Theater sogar die Freiheit, sich ganz einfach des gesunden Menschenverstands zu bedienen. Eine Freiheit, die es sonst in unserer Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft, so ohne Weiteres nicht gibt. Mit jedem Muster, jedem Modell, jedem System darf das Theater krude umgehen.

Natürlich müssen wir dem Theater auch gestatten, unperfekt, fragwürdig, unkorrekt zu bleiben. Das gilt auch für meine eigene Arbeit, zum Beispiel für die Aufführung »Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen«. Der Zuschauer sieht sich darin mit gesellschaftlichen Außenseitern konfrontiert, die in einem schalldichten Glascontainer ihren Alltagsgeschäften nachgehen.

Wie

Jenseits aller Bedenkenträgerei müssen wir dem Theater eine Freiheit zugestehen, die erst die Räume öffnet für Reflexionen über unsere privilegierte Stellung, also zum Beispiel über unseren vielleicht voyeuristischen Abstand zu den Ausgestellten, Ausgegrenzten, Abstoßenden und Abgestoßenen.

 

Wenn Theater schlecht ist, trifft das den Zuschauer wirklich schlimm. Natürlich leidet auch der Restaurantbesucher, wenn das Essen versalzen ist, oder der Romanleser, wenn der Ausdruck verquast ist. Aber ein schlechter Theaterabend setzt uns mehr zu, er wirkt wie Pest und Cholera zugleich.

Theater

Was passiert eigentlich, wenn ein Theaterabend gelingt? Das persönliche Erlebnis, der Drang aufzustehen, dazwischenzurufen, sich einzumischen und zugleich die Selbstdisziplin, gerade das nicht zu tun – all das ermöglicht uns die Begegnung mit der dunklen Seite der menschlichen Existenz, der Lust an Anarchie, an Debattenstreit und Walpurgisnacht. Wo das gelingt, da tanzen Apoll und Dionysos zur Feier des Theaterabends auf der Bühne und im Theatersaal einen ekstatischen Tanz der Götter, einen Pas des deux dieux.

In diesem Tanz wird der Abgrund sichtbar, der so dicht unter der dünnen Eisdecke lauert, auf der unsere bürgerliche Wohlanständigkeit daherschlittert. Er löst Erschrecken aus vor dem eigenen Spiegelbild, ein Erschrecken, das die Kraft für den Versuch eines Ganz-Anderen spenden kann, für die Suche nach den Grundlagen des Universums.

Nach den Grundlagen des Universums suchen? Nach dem Ganz-Anderen? Da ist er wieder, der Hang zur heroischen Geste, oder auch nur: zum vorlauten Ton. Theater ist unausgegoren. Nichts ist bis ins Letzte ausformuliert, durchdacht, gestaltet. Immer bleiben schlimme Verzerrungen, Unschärfen, Nebelwände. Kann man also mit unscharfem Blick nach den Grundlagen des Universums suchen, nach dem Ganz-Anderen – und kann das mehr sein als ein lächerliches Scheitern? Vielleicht nicht. Aber vielleicht ist der Mut, die Freiheit zur Lächerlichkeit ja auch wieder so ein heroischer, kindlicher Anlauf. Vielleicht steckt dahinter ja die

Der Clou an der Sache aber ist, der kulturgeschichtliche Salto mortale sozusagen: Das Theater kann keine Gründe geltend machen und es muss auch keine Gründe geltend machen, Theater rechnet sich nicht und es muss sich nicht rechnen – in einer Welt, in der sich alles rechnen soll. Theater erlaubt sich das lächerliche Scheitern, wo nichts scheitern darf. Sein Überflüssigsein ist sein Überfluss, seine Aufgabe. Daraus erwächst sein Potenzial der Freiheit, sein unersetzbares Privileg, das eine große zivilisatorische Errungenschaft ist. Die heroische Geste ist nur möglich, weil sie in einem ewigen Kindergarten stattfindet.