Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr

Cover

Inhaltsverzeichnis

1

Er stand vor meiner Wohnungstür. In seinem faltenfreien Anzug in Dunkelblau wirkte er plötzlich, in dem Abendlicht, das noch durch die Etagenfenster fiel, als hätte er sich mittels einer magischen Kraft an Ort und Stelle materialisiert. Mit Sicherheit war er nicht die Treppen in den 3. Stock hochgestiegen. Wenn, dann war er an einem unsichtbaren Seilzug eingeschwebt.

Er schaute mich an und lächelte. Ein Lächeln, das sagte: Ich kenne dich. Woher kannte ich ihn? Ich kam nicht darauf. Aber wie er dort stand und das Lächeln ausklingen ließ in ein Absinken der Mundwinkel, mit einem knappen Blick auf das durchgetretene Linoleum der Treppenstufen, da kam er mir berückend vertraut vor, ein vergessener Schulfreund aus der Parallelklasse, ein Kollege, der nicht lange da gewesen war, jemand, mit dem man studiert hatte, sich früher flüchtig gegrüßt.

Er schob eine Hand in seine Hosentasche, holte sein Telefon heraus, streckte es mir hin, wie ein Mikrofon, als wollte er gleich meine Stimme aufzeichnen, und sagte mit Nachdruck: »Hier. Das ist sie. Die suche ich. Ist sie vielleicht bei dir?«

Ich nahm ihm das Telefon aus der Hand und sah das Foto der Katze. Leider genau derselben Katze, die gerade hinter

»Hab ich noch nie gesehen«, sagte ich.

Sie hatte einige Tage nacheinander auf der Fußmatte vor meiner Wohnungstür gelegen, und gestern, als ich am Abend aus der Agentur nach Hause gekommen war, war ich über sie gestiegen, und sie hatte sich aufgerichtet und war mir in die Küche gefolgt.

Noch bevor ich meine Tasche ablegte, mischte ich Wasser und Milch, zog mir einen Küchenstuhl heran und beobachtete die Katze, wie sie den Rand der Schale beschnupperte. Ich hob den Gurt meiner Umhängetasche über die Schulter, ließ die Tasche mit einer Vorsicht auf den Boden sinken, als würde ich den Schlaf eines Bedürftigen stören. Die Katze ließ sich nicht stören, sie leckte die Schüssel aus, schob das Porzellan dabei vor sich her. Dann hob sie den Kopf, schaute sich um, umwischte mit einer Pfote ihre Barthaare. Ein Schauer lief über meine Arme und Beine, ein Schauer der Entspannung, und wir schienen zusammen zu versinken in Ruhe – das Gegenteil meines alltäglichen Tempos in der Agentur. Es fehlte nicht viel, und ich hätte begonnen, wie die Katze, meine Hände mit der Zunge anzufeuchten, um mir damit übers Gesicht zu wischen, wie bei einem geheimnisvollen Reinigungsritual. Sie sprang auf das Fußende meines Bettes, ließ sich dort nieder, rollte sich ein, als plante sie, den Rest ihres Lebens dort zu liegen und zu wachen.

Ich reichte dem Mann, der nicht viel älter als ich zu sein schien, sein Telefon zurück und beschwerte die Türklinke mit der Hand. Er machte einen Schritt auf mich zu. Er hatte nichts von einem am Abend zerknittert heimkehrenden Büromenschen, er war glatt rasiert. Wenn er in diesem

»Ich hoffe, sie ist nicht auf die Straße gelaufen.«

»Oh Gott, bei dem Verkehr«, sagte ich, und war überzeugt, dass das hätte passieren können.

»Der aus dem ersten Stock sagte nur: Kollateralschaden.«

»Das ist nicht schön. Du wohnst hier im Haus?«

»Hinterhaus, ganz oben.« Er benetzte einmal mit der Zunge die Unterlippe.

Mein Magen fiel flach zusammen, als hätte ich seit dem Morgen nichts gegessen. Ein feuchter Glanz auf seinen Lippen, weich und einladend. Ich fasste mir an den Hals, in der Hoffnung, die roten Flecken zu verbergen, die ich spürbar bekam, immer schon bekommen hatte, wenn ich mit einer kleinen Lüge, oft eher einer Notlüge, ein Getriebe in Gang gesetzt hatte.

»Ich dachte, ich hab sie gehört, durch dein Küchenfenster.«

»Das sind Geräusche, die unser Gehirn reproduziert«, sagte ich. »Wahrnehmungstäuschungen.« Ihn schienen meine Lügen nur zu amüsieren. »Hast du es schon bei allen anderen im Haus probiert?«

»Ich denke schon«, sagte ich. Er betrachtete mein Klingelschild, bückte sich und klaubte ein feines Büschel Katzenhaare von meiner Fußmatte. Mir fiel es schwer, weiter zu atmen. Aus meiner kleinen Notlüge war schon ein veritables Vehikel geworden, das, von mir auf die Bahn gesetzt, jetzt umdrehte und ohne Bremsen, groß und ausgereift, zurück auf mich zukam.

»Ich bin wenig hier«, sagte ich, »keine Ahnung, was sich vor meiner Tür abspielt.«

Er betrat die Fußmatte.

»Ich hab irgendwie das Gefühl, dass sie bei dir ist.« Er lächelte, wieder so charmant und zugleich enttäuscht.

»Es tut mir leid«, sagte ich zögernd, »ich wäre froh, wäre eine Katze in meiner Wohnung.«

»So, wie ich dich einschätze, geht es ihr gut.«

»Ja«, sagte ich, »wenn sie hier wäre, ginge es ihr gut.«

»Das ist ne Menge Konjunktiv«, lachte er. Das Lachen traf mich, überrumpelte mich. Es war frei von Sarkasmus. Und es enthielt weite Flächen an Traurigkeit.

»Ich hab einen großen Möglichkeitssinn, ja.«

»Es könnte also sein, dass meine Katze bei dir ist, du dich aber irgendwie davon überzeugt hast, dass sie es nicht ist – und ich habe keine Möglichkeit nachzuweisen, was wirklich ist?«

»Du könntest dich in meiner Wohnung umschauen.«

Er nickte.

»Aber du könntest auch von der GEZ sein und Fernseher zählen wollen. Woher kann ich wissen, dass es deine Katze ist?«

»Komisch«, sagte er in einer Verhaltenheit, die mich an meinen Vater erinnerte, wenn er ›schade‹ sagte, früher, wenn ich eine Leistung, die er stillschweigend von mir erwartet hatte, nicht erbracht hatte, schade – da hast du deine Chance vergeben, da gibt es kein zweites Mal.

»Ja, es ist komisch. Ich werd das Gefühl nicht los, ich bin hier richtig.«

Er presste die Lippen aufeinander. »Aber ich gehe jetzt zu mir. Wenn du möchtest, kannst du sie mir ja später vorbeibringen. Das würde mich freuen. Hinterhaus, vierter Stock, Matthias Thies.«

 

Einige Tage später sah ich ihn hinter dem Fensterquadrat des Brazilian Coffee sitzen – eines kleinen Cafés schräg gegenüber von unserem Haus –, er lehnte mit einer Schulter am Glas, hinter ihm bunte Kissen. Ich sah ihn im Profil, und in einem Moment, in dem er versunken war ins Lesen einer Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er schlug eine Seite um, sie stieß als Welle gegen das Fenster und blieb liegen; auf dem Tisch stand noch ein hohes Glas mit Milchschaum und ein Springbrunnen Tulpen, der sich über die Ränder der Vase warf. Ich sah mich auf die Fensterscheibe zugehen, changierend, wie der Rest der Außenwelt. Es war, als ginge ich hinein in das Standbild eines Filmes. Er wartete nicht auf eine Reaktion von mir, aber wenn ich reagierte, kam der Film wieder in Bewegung und es gab zumindest die Möglichkeit, dass ich ihm eingestehen konnte, ihn belogen zu haben, weil seine Katze mit ihrer zärtlichen Hingabe, ihrem

Als hätte er mich aus dem Augenwinkel schon gesehen, stand er auf, als ich das Café betrat. Ich war so in meiner Erinnerung gefangen an die ziehende Kraft und die Abstoßung am Ende, an mein wachsendes Bedürfnis, da an der Tür, als er vor mir gestanden hatten, ihn hereinzubitten, nur um länger in der erregenden Atmosphäre unseres Spiels zu bleiben, dass mich seine Unbefangenheit irritierte: Er ging einen Schritt auf mich zu und reichte mir die Hand.

Mein erster Gedanke war: Er weiß, dass ich ihn belogen habe, ist aber so großzügig, das nicht zu erwähnen. Wir unterhielten uns stockend. Mit keinem Wort erwähnte er seine Katze. Mir fiel es schwer, um sie herumzureden. Ich wollte so sehr nicht an die Katze denken, dass ich nur an sie dachte.

Matthias Thies sagte plötzlich: »Ich muss jetzt los.«

Im Reflex sagte ich: »Ja, ich auch.«

Dann fragte er, wie nebenbei, als er nach seiner Tasche griff: »Und was machst du heute Abend?«

 

Euphorisiert flog ich durch den Tag. Flog durch menschenleere, grauschattierte Stadtlandschaften, die sich auf den Bildschirmwänden im Keller der Agentur entfalteten. Ich flog mit einem jungen Paar durch die Betonschluchten, drehte mich auf einem stadiongroßen Parkplatz um die eigene Achse, ich hockte auf dem mittleren Sitz der Rückbank, hatte ihrer beider Profile im Blick und die breite, großartige Perspektive um sie herum. Niemand außer uns war in dieser Stadt und dann sah ich in umgekehrter Nahaufnahme das Paar, wie es sich küsste,

»Also nicht zu viel.«

»Sie sind doch wirklich beide glücklich, findest du nicht?«

»Jule«, sagte Jochen im Tonfall eines Lehrers, der einem das Einmaleins einbläut, und ich kapierte es immer noch nicht. Mich überzeugten die Schauspieler. Sie spielten unglaublich gut ihre Liebe. Zu sich und zu ihrem Auto. Das hatte der Kunde noch gesagt: Wir sind bodenständig. Wir produzieren wirklich Handfestes. Machen Sie die Außenwelt nicht zu perfekt. Denken Sie an Schrammen in der Stadt, an Spurrillen auf der Straße. Gern zahlreiche Schlaglöcher. Unser Wagen ist für die raue Wirklichkeit gemacht. Und für ein Paar, das sich keine Illusionen macht. Keep it real! war der Claim im Abspann.

»Okay. Wir sollten den Sonnenuntergang doch durch eine Art Wetterleuchten ersetzen. Aber nicht zu grünlich, nicht, dass es nach Reaktorkatastrophe aussieht«, sagte ich.

Jochen bewegte die Maus, tippte, wählte aus den

Er hatte den Himmel etwas giftiger eingefärbt und die Außenwelt noch etwas unwirtlicher gemacht, irgendwie kälter, gröber, ihr ein paar Schrammen zugefügt, den Putz absplittern lassen, ein Hauch versmogter Atmosphäre – und schon bildete das Paar in ihrem neuen Auto eine perfekte Einheit des Glücks, sie küssten sich in einer tiefen Hingabe, wirkliches Gefühl, wirkliche Nähe, die seltene Gunst der Liebe, und mich erfüllte das Schlussbild, als Keep it real! auftauchte, mit einer fragilen Hoffnung. Ich glaubte unserer erfundenen Zuversicht.

 

»Himmel«, sagte Matthias am Morgen, noch weich und schlaftrunken, kurz nach dem Aufwachen, und drehte sich zu mir, »das ist mir so noch nie passiert.«

Eine Fliege kreiste über meinem Bett, sie summte zu gewöhnlich für das, was uns passiert war. Seit die Katze und ihr Futter in meiner Wohnung waren, gab es viele Fliegen.

»Mir auch nicht«, flüsterte ich.

»Verrückt.« Er küsste mich.

»Nicht nachdenken«, sagte er. »Einfach weitermachen.«

Er strich über mein Gesicht, fuhr mit dem Finger den Bogen meiner Augenbrauen nach, über meine Wangenknochen, hin zu meinen Lippen, er zeichnete meinen Mund nach. Er ließ seine Finger über meinen Hals fahren, über meine Schulter, konturierte meinen Körper in einer Weise, die mich erstaunte, wahrscheinlich, weil ich ihn in den letzten zwei Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte, höchstens noch als Anhängsel meines Kopfes, als notwendiges Transportmittel, um meinen Geist in die Agentur zu befördern.

»Ich muss dir was beichten«, sagte ich.

»Gleich kommt dein Freund.«

»Ich hab deine Katze.«

»Welche Katze?«, fragte er und lächelte sein trauriges, schönes Lächeln.

»Deine.«

»Ich habe keine Katze.«

Ich musste laut lachen, es brach aus mir heraus. Es war zu heftig für die befriedigte Ruhe, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte. Aber er tilgte so elegant meine Lüge, es war so charmant, wie er mich aus dem Dilemma befreite.

»Ich hab wirklich keine Katze«, sagte er, jetzt mit einem Grinsen, einer Art Maisonette-Grinsen, unten beherrscht, oben verspielt.

»Sie ist hier eingezogen. Vielleicht überlegt sie es sich aber auch wieder anders. Und zieht wieder aus. Sie kann gern so lange bleiben, wie sie will. Wie du willst. «

»Das kann ich nicht entscheiden.«

»Also wirfst du mich jetzt raus.«

»Leider«, sagte ich und küsste ihn, »sonst können wir uns ja nicht wiedersehen.«

»Du hast Fieber«, sagte er und küsste meine Stirn, »und die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Ich schloss die Augen, roch in seinen Küssen mich selbst und probierte es aus, mein Pflichtbewusstsein zu sedieren. Es ging nicht.

Er klaubte mein Telefon vom Nachttisch und hielt es mir hin. In seiner Geste lag eine Unumgehbarkeit, die mich wieder zögern ließ.

»Nein«, sagte ich, »ich muss leider los.«

Ich spürte, wie er das missbilligte, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich verschob die Entscheidung wieder, wir duschten gemeinsam, konnten nicht voneinander lassen, ich lugte verstohlen auf die Uhr am Badspiegel.

Ich öffnete die Küchentür, während er zum zweiten Mal duschte, machte uns Kaffee. Die Katze stob durch die Wohnung, und, als er aus dem Bad kam, auf ihn zu. Er bückte sich und kraulte sie im Nacken.

»Beweg dich nicht«, sagte er, als er mir gegenübersaß, am Küchentisch.

Ich konnte nicht still sitzen, ich war zu nervös, das Tageslicht leuchtete unsere Unbeholfenheit aus. Ich wollte den gleichförmigen Strom meiner morgendlichen Abläufe verbergen, stand aber unter dem mahnenden Auge der Uhr. Ich lief durch die Küche, öffnete den Kühlschrank, betrachtete das Farbspektrum der Marmeladen in ihren Gläsern und wünschte, Matthias käme zu mir und träfe eine Entscheidung für mich, greife an mir vorbei und holte

»Bleib bei mir, komm«, sagte er leise, »sag, es ist ein Notfall.«

»Ein Notfall«, sinnierte ich.

»Du hast doch einen großen Möglichkeitssinn.«

»Aber ich kann so schlecht lügen. Ich hab immer das Gefühl, alle wissen, dass es nicht stimmt.«

Er begann, mich zu küssen, wanderte Kuss für Kuss an meinem Hals hinunter, am weiten Ausschnitt meines Pullovers entlang, er tilgte mein Zaudern. Ich spürte mich in jeder seiner Berührungen, als wäre es ein Schmerz, ein schaurig-schöner Schmerz, eine langsam aufsteigende Erinnerung an etwas, das weit auf den Grund abgesunken war und jetzt, durch seine fulminante Rückkehr, auf mich wirkte wie eine angenehme Form von Bewusstlosigkeit.

»Also«, sagte er zwischen den Küssen.

Ich erwiderte seine Küsse in der plötzlichen Gewissheit, dass alles richtig war, vollkommen richtig, so fühlte es sich an, richtig und passgenau, und damit war kein Platz mehr für Wörter oder einen komplizierten Satzbau in meinem Kopf, es passte nur das Wort Notfall noch rein, und das ließ sich aussprechen, durch die schwarze Fläche meines Telefons hindurch ins Ohr der Sekretärin, ein Notfall, kein Problem, Juliane, mach dir keine Gedanken, alles okay, bis später dann, ja, bis später dann. So einfach war das. So einfach machte er das, so ließ die Welt sich regeln.

 

Ich erfuhr, dass er als Produktmanager für einen Online-Dienst arbeitete, das Produkt umfasste die Steuerung des Zufalls. Des Zufalls, dass sich zwei Akademiker, die perfekt zueinanderpassten, kennenlernten. Er erzählte mir nur kurz vom Matching-Algorithmus, von Punktzahlen, Fragemustern, Formeln, und dann fragte er mich, was ich glaubte: ob der Zufall in Zukunft das letzte, nicht steuerbare Element in unseren Leben sein würde, oder ob Kairos, die einmalige Chance, der günstige Moment, der magische Augenblick, der alles verändere, durch kontinuierliche Vorarbeit, jahrelanges Training, also die richtige Übung, sprich, auch ein selbst lernendes Programm, beherrscht werden könne.

»Hm«, sagte ich.

»Wir sind kurz davor, ein Programm zu implementieren, das die Gesichter von Menschen miteinander

»Aber man sucht doch nicht sein Spiegelbild.«

»Doch. Wir suchen uns jemanden aus, der uns ähnlich ist.«

»Aber nicht gleich.«

»Worin bist du mir ähnlich?«, fragte er, lehnte sich vor und schob sein Weinglas am Fuß auf mich zu. Mit der gleichen Geste schob ich mein Glas auf ihn zu. Die Bäuche der Gläser klirrten leise aneinander, auf halber Strecke, ein Vibrieren vom Zentrum des Tisches aus.

»Wir trinken gleich schnell«, stellte ich fest.

»Wir essen in einem ähnlichen Tempo.«

Er verbarg nicht, dass ihn der Wettbewerb reizte.

»Ich esse wie eine Schnecke«, warf ich ein.

»Du denkst so schnell, wie du trinkst.«

»Ist das auch Teil eures Algorithmus zur Steuerung des Zufalls?«, fragte ich. »In welchem Rhythmus ein Mensch sich durchs Leben bewegt?« Er griff nach meinen Händen, die – wie etwas mir nicht ganz Zugehöriges – seitlich neben dem Teller lagen. Er führte meine Hände unter seinen zusammen, eine Höhle. »Wir haben den gleichen Takt. Da setzt der Zufall an. Da kann man dem Zufall auf die Sprünge helfen. So, dass es klappt.« Er schaute mich an. Darin lag diese seltsame Kraft, die er herzustellen imstande war: Auf eine Weise fühlte ich mich wie aus der Zeit herausgehoben, wir wurden Teil einer anderen Realität – die so abgedichtet war gegen die Außenwelt, dass nichts mehr eindringen konnte.

Er fragte, was mich an meiner Arbeit reizte. Ich sagte ihm, dass es mich reize, den ganzen Tag nichts anderes

Manchmal schien es mir, erzählte ich ihm, als bewegte ich mich durch ein Universum aus Einsamkeit, durch eine flach gewordene Zeit, einen Tunnel, in dem nur je ein Mensch Platz zu haben schien. Selbst die Paare, die ich beobachtete, wirkten mitunter, als lebten sie Lichtjahre voneinander entfernt. Alles einzelne Planeten, die aber immer jemanden brauchten, der sie anleuchtete, und je weniger Lichtquellen es gab, desto stärker mussten die Dinge leuchten, die wir uns kaufen konnten, die Autos, Telefone, Uhren und Tablets, und selbst unsere Schuhe sollten schimmern, als wäre das ihre vorrangige Aufgabe: das Ausleuchten unserer Wege.

»Ich finde es viel zu dunkel in der Welt«, sagte er – ernst? Ja, aber noch eher mit einer Lust daran, Gespräche dieser Art zu beginnen, Gespräche, die kühl und analytisch waren, wo mit einem Abstand über sich selbst gesprochen wurde, ein wohltuender Abstand, es gab viel mehr Klarheit in solchen Gesprächen.

»Dass du mir im Dunkeln nicht entwischt bist«, sagte er leise.

»Du hast vor meiner Tür gestanden. Ich konnte nicht entwischen.«

Er lächelte und dann warf er einen Blick zur Seite in den Raum, als wäre dort ein Wesen vorbeigehuscht, das flink war, aber nicht flink genug für ihn.

»Wir müssen das noch mit deiner Katze klären«, sagte ich.

»Alles gut«, sagte er und drückte meine Hände, »ist alles gut.«

Aber es hatte eine Beherrschung in seiner Stimme gelegen, eine kalte Flächigkeit, die auf etwas lag, etwas herunterdrückte, das nicht nach oben kommen durfte, eine Wut oder eine Angst, ich war mir nicht sicher, ich nahm mir nur vor, ihm schnellstmöglich seine Katze zurückzubringen.

Ich war in den letzten Jahren allein oder kurz mit Männern zusammen gewesen, mit denen alles unverbindlich geblieben war. Oft schienen diese Männer und ich uns auf schrägen Ebenen zu treffen, es dauerte nie lange, da stolperte einer von uns über den Rand einer Falltür, die sich stets nach unten öffnete. Und wir gaben uns wieder frei. Etwas lädierter, mit blauen Flecken, aber nicht vollkommen desolat. Vielleicht nur noch etwas stärker darauf bedacht, den Anblick zu ignorieren, wenn man sich selbst im Spiegel sah – in einem unerklärlichen Loch in der Zeit war die eigene Jugend verschwunden. Kinderlos bewegte ich mich in einem Vakuum, das, wie jedes Vakuum, kein Leben enthielt. In meiner austarierten Lebensferne hütete ich die Hoffnung, ein Stillstehen der Zeit erzwingen zu können, wenn ich nur nicht genau hinsah, wenn ich nur aufpasste, dass nichts hereinbrach, von außen, oder der Boden sich öffnete, da, wo man stand.

»Ich wollte dich«, sagte er beim Rausgehen und legte einen Arm um mich, rutschte mit seiner Hand unter

»Warum?«

Er nahm mein Gesicht in seine Hände, schaute mich an, mir ging sein Blick durch Mark und Bein. Ein Blick wie ein Feldherr, der den Zufall beherrschte: Ich kam, ich sah und ich siegte.

»Du kriegst deinen Willen«, sagte ich zusammenfassend.

»Nicht immer«, sagte er und küsste sehr zärtlich mein Ohr, »aber bei dir, da muss ich ihn kriegen.«

 

Es roch, egal wo ich in meinem Bett lag, nach Matthias. Morgens, nach der ersten Nacht, die er nicht bei mir übernachtet hatte – er war irgendwann aufgestanden und hatte gesagt, dass er gehen müsse –, blieb ich auf dem Bauch liegen und streckte Arme und Beine aus. Es war, als hätte mich ein ultrascharfes Messer in der Mitte durchgeschnitten. Ein so feiner Schnitt, dass ich den Schmerz erst spürte, als ich mich bewegte. Da half auch die Katze nicht, die auf das Fußende des Bettes sprang. Sie schnurrte. Ihr Fell an meinem Unterschenkel, die Vibration ihres Schnurrens an mir. Aber die Verlassenheit überfiel mich wie eine Horde Gäste, die ich nicht eingeladen hatte. Sie öffneten jede Flasche, die sie fanden, aßen und tranken, lachten und hörten Musik, während ich mich nicht aus dem Bett bewegen konnte, sie amüsierten sich bis in den frühen Morgen und räumten dann auch noch hinter sich auf, sodass mir nichts zu tun blieb, als liegen zu bleiben.

Matthias ging zwei Wochen nicht mehr an sein

 

Er stand wieder vor meiner Tür. Wie beim allerersten Mal. Nur war es frühmorgens, kurz bevor ich in die Agentur gegangen wäre, ich hatte die Küchentür nicht geschlossen, die Katze strich um meine Beine. Er bückte sich und kraulte sie am Hals.

»Willst du sie holen?«, fragte ich in einem Tonfall, den ich sonst nur von meiner Mutter kannte. Wenn wir am äußersten Rand einer Auseinandersetzung angekommen waren, wenn sie mit ›Schluss jetzt!‹ oder ›Keine Diskussion!‹ nicht mehr weiterkam, wenn sie kurz davor war, sich in ihr Arbeitszimmer zurückzuziehen, sich zwischen ihre sicheren Buchtürme, die sie zum Übersetzen brauchte, und den Stapeln aus Papier einklemmen wollte, weil das der Ort war, an dem sie alles im Griff hatte, wo sich ein Satz an den nächsten fügte, sich alles ihrer Übersetzung ergab. Wenn sie kurz davor war, wegzugehen, dann sagte sie oft in diesem Tonfall den Satz, der mich verstummen ließ: ›Was willst du eigentlich von mir?‹

Ich nannte diesen Tonfall – hilflos und verquer – ihre Märtyrerinnenstimme, später, wenn ich versuchte, die Wendungen unserer Diskussion beim Aufschreiben in mein Tagebuch zu ordnen. Dieses Tagebuch hatte ich nur zu schreiben begonnen, um an einem Schreibtisch zu sitzen und dort etwas zu tun zu haben, wie meine Mutter. Sie wirkte immer so aufgeräumt, zufrieden, ja, glücklich, wenn sie Satz für Satz ein Buch übersetzte. Irgendwann, da war ich mir damals sicher gewesen, würde auch ich

»Und, alles gut bei dir?«, er schaute mich an.

»Ähm, ja. Ich muss los.«

Die Katze roch an seinen Schuhen.

»Ich hab dich vermisst«, sagte er.

»Und das magst du gern, dieses Gefühl.«

»Dich zu vermissen?«

»Ja.«

»Vielleicht. Vor allem mag ich dich.«

Ich biss mir auf die Zunge.

»Willst du Gründe hören?«, fragte er über mein Schweigen hinweg. »Warum ich weg war? Mir geht es nämlich, ehrlich gesagt, beschissen.«

»Was ist passiert?«, fragte ich, sofort unterspült von Anteilnahme, all die ausgemalten Schauergeschichten, sie fluteten das spröde, narbige Feld unserer Widerständigkeit.

»Ach, was Familiäres.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte ich, überrascht und einen Augenblick lang verwirrt, mit meinen Vermutungen nicht falschgelegen zu haben. »Ist es was Schlimmes?«

»Entschuldigung«, sagte er und schüttelte über sich selbst den Kopf, »ich hätte mal zurückrufen können.«

Meine Vorsicht durchleuchtete alles auf Echtheit, schickte den Satz drei, vier Mal durch den Scanner, fand kein gefälschtes Bauteil, keinen Hinweis auf explosive Stoffe.

»Ach, das spielt doch keine Rolle«, sagte ich schnell.

Die Katze roch an meinen Füßen. Vielleicht roch sie, dass wir nach unseren Botenstoffen ein nicht zueinanderpassendes Paar waren. Der Matching-Algorithmus hätte

Als hätte die Katze einen Schreck bekommen, sprintete sie los, ins Wohnzimmer.

Ich hielt ganz still. Konzentrierte mich noch einen Moment länger auf die Geheimdienstfähigkeiten, die ich mir im Laufe meiner unverbindlichen Affären angeeignet hatte. Visier, Maskerade, Camouflage. Gleichgültigkeit. Vor allem Unberührbarkeit vortäuschen und Gefühle nur zeigen, wenn man nicht beobachtet wird.

Er übertrat die Türschwelle, pirschte sich an, mit einem schalkhaften Lächeln im Gesicht, als hätte er einen Schalter umgelegt. Ich hing noch seiner dramatischen Nachricht nach, und dass es ihm beschissen ging.

»Lass uns was machen heute Abend«, sagte ich, ganz unverbindlich.

Er griff nach mir, zog mich zu sich, küsste mich unterhalb meines Ohres, ich war stocksteif in seinen Berührungen, mir war, als umarmte mich gerade meine eigene Vorstellung von einem Menschen, ein Mensch, den es nicht gab.

»Ich würde ungern deine Wohnung verlassen«, flüsterte er.

Mein Visier wackelte. Aus dem Wohnzimmer hörte ich das reißende Kratzen von Katzenkrallen im Polsterstoff. Matthias nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich.

»Ich muss los«, wandte ich ein. Er strich mit seinen Händen über meinen Rücken, zog mich zu sich heran, strich mit einem Finger über meine Schlüsselbeine, zögerte, höflich, als warte er auf ein Zeichen meines

Wir stiegen einfach ein ins Riesenrad, so mein Gefühl, wir teilten den Wunsch, durch den Himmel zu kreisen.

In der vertrauten Kenntnis, die unsere Körper voneinander hatten, liebten wir uns und schoben die Helligkeit des Tages draußen wie eine Bugwelle vor uns her. Wir dichteten den zarten Raum unserer Zweisamkeit ab, und keiner von uns beiden schien diesen Tag lang das Bedürfnis zu haben, die fragile Haut mit dem Tipp eines Fingers zu zerstören.

In der Nacht erzählte er mir von seiner Mutter und seinen Geschwistern – ich musste mich verhört haben, er hatte nur zwei Halbgeschwister, einen Stiefbruder und eine Stiefschwester.

Als ich nachfragte, lachte er kurz auf, ein leeres Lachen, das er manchmal hatte und das mich immer irritierte – als sagte er ein entscheidendes Wort in einer Sprache, die ich nicht verstand –, und als hätte er es bemerkt, schloss er

Und dann erzählte er mir von ihr, unter dem Vorzeichen, dass er diese Details noch keiner Freundin zuvor erzählt habe, und ich hing dem Titel nach, den ich wie nebenbei zugesprochen bekommen hatte, und wusste, ich hätte es andersherum nicht auszusprechen gewagt. So zogen die ersten Sätze an mir vorbei und Matthias war schon in der Galerie der Mutter angekommen, die sie in Rom führe, wo sie mit ihrem dritten Mann, einem Unternehmer, zusammenlebe, der auch der Vater von seinem Stiefbruder sei. Seine Stiefschwester sei vom zweiten Mann der Mutter, einem Kunsthändler. Und er – Matthias – sei der Sohn ihres ersten Mannes, eines Malers, der vor über zehn Jahren gestorben sei, in den ersten Jahren seiner Tätigkeit bekannt und geschätzt, seine Mutter habe immer gesagt: der einzige Mann, den sie aus Liebe geheiratet habe. Der Kunsthändler, das war aus Gründen der Sicherheit. Der Unternehmer und sie seien gute Compañeros, gerade im Altern. Ich wollte wissen, wie sein Vater geheißen habe, Matthias überging meine Frage und erzählte eine Episode aus der kurzen, aber leidenschaftlichen Ehe seiner Eltern. In der Zeit, in der sie sich in Düsseldorf kennengelernt hatten, studierte seine Mutter Kunstgeschichte und war für ihr Talent, ausschweifende Partys zu organisieren, bekannt gewesen. Sein Vater war noch ein No-Name, er konnte sich aber hartnäckig davon überzeugen, in nicht allzu ferner Zukunft mit seiner Kunst berühmt zu werden. Seine Mutter arbeitete als Kellnerin in einem Caféhaus, das Wiener Charme nach Düsseldorf brachte, und im ersten Stock der Villa ließ der Mäzen, dem das Haus und das Café gehörten,

Matthias’ Mutter war längst schwanger gewesen, konnte nur noch eine halbe Schicht lang kellnern, und der Mäzen, der ihr Chef war, hatte gesagt: Raus mit dem Dreck dort oben, wenn ihr es nicht macht, mach ich es. In ihrer tatkräftigen Art war sie in den ersten Stock gegangen und hatte zwei Tage lang das Atelier aufgeräumt und dabei hinter viel altem Gardinenstoff, unter Bergen von ausgelesenen Zeitungen, immer wieder Leinwände von Matthias’ Vater gefunden. Mit diesen Bildern war sie zu einem bekannten Kunsthändler gegangen (ihrem späteren zweiten Mann), der hatte sie nach und nach mit gutem Gewinn verkauft. Matthias wurde geboren, der geliebte erste Sohn, und seine Eltern hatten genug Geld, in eine kleine, gemeinsame Wohnung umzuziehen. Knapp acht Jahre war das gut gegangen, eine gute Kindheit habe er gehabt, aber dann hatte der Vater aufgehört zu malen, er produzierte nichts mehr, las den ganzen Tag Zeitung, sah fern, ließ sich bedienen, wurde wie ein Kind, manchmal ließ er sich füttern von seiner Frau.

Matthias verschlief die Nacht, sagte er, in der alles zusammenbrach. Ohne ein Wort zu sagen, räumte seine

Er habe den Schmerz, den sein Vater gemalt hatte, gefühlt und dabei die pinkfarbenen Gummihandschuhe betrachtet, und wie schnell und geschickt sie sich bewegten.

Das war seine Mutter.

Dann war sie zum Telefon gelaufen, hatte den Vater angerufen und in den Hörer gerufen: Muss ich dir noch sagen, wie das Atmen geht? Nichts kriegst du auf die Reihe! Aber noch glauben, die große Zukunft wartet!

Ohne mich!, hatte sie am Ende gesagt und einen zugebundenen Sack so getreten, dass er gegen die Haustür geflogen war.

»Ich bewundere sie«, sagte Matthias in die nächtliche Dunkelheit, »sie nimmt immer ihr Leben in die Hand. Sie hat immer gekämpft.« Er schwieg und ich versuchte, mir diese tatkräftige Frau vorzustellen, und es formte sich – obwohl ich sie nicht kannte – das Bild einer resoluten, selbstbewussten, schönen Frau, die nie auf die Idee kommen würde, sich zwischen Bücher zurückzuziehen und

»Es geht ihr nicht gut«, sagte er leise.

»Was hat sie?«

»Sie ist schwer krank.«

Ich zog an der Bettdecke, um uns beide damit besser zuzudecken. Ich zog und er zog auch, wir zogen beide und er sagte: »Du bist ein richtiges Einzelkind, Juliane. Du musstest nie teilen.«

Ich widersprach nicht. Vielleicht hatte ich ihm gar nichts von meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder erzählt?

»Das klingt wie ein Roman, deine Geschichte«, lenkte ich ab.

»Du glaubst mir nicht.«

»Doch! Natürlich. Kann ich dir irgendwie helfen? Deiner Mutter? Kann ich irgendwas tun?«

Er sagte einen Augenblick nichts. Dann richtete er sich auf.

»Du liegst am liebsten allein unter deiner Einsfünfzigdecke.«

»Das stimmt nicht.«

»Kein Mensch hat neben dir Platz.«

Ich stutzte. Wie schnell sein Tonfall sich ändern konnte.

»Das nervt.«

»Nimm sie«, sagte ich schnell, »ich hol mir das Fell vom Sofa. Und dann sag mir, wie ich dir helfen kann.«

»Helfen!«, sagte er abschätzig, »du willst mir nur zeigen, wie großartig deine Hilfe ist. Ich will mir hier nichts weiter vormachen.«

Ich stand schon in der Schlafzimmertür, musste nur noch um die Ecke, das Fell holen. »Warte.«

 

Die besten Besprechungen dauerten fast den ganzen Tag. Ich bat die Programmierer, mir noch einmal die Modellierung des Geschäftsprozesses zu erklären, den sie mir zuvor ausführlich vorgestellt hatten. Ich entwarf zwischen den Terminen zusätzliche Konzepte für Kunden, die das ihnen vorgestellte bereits abgesegnet hatten, ich recherchierte Weiterbildungs-Studiengänge, die ich neben meiner Arbeit absolvieren könnte, ich ging sogar zu einem Werber-Stammtisch und danach zu einer After-Work-Party, auf der ich ein Fremdkörper war, so fremd, dass sich keiner in meine Nähe traute, zu Recht, wie ein schwarzes Loch hätte ich jedes Licht, jede freundliche Helligkeit verschluckt. Ich studierte die Menschen um mich herum, das half. Wie sie sich ihre Köpfe im Gespräch zuneigten, wie sie nickten und lachten, sich umarmten, auf den Rücken klopften, wie sie ihre Bierflaschen aneinanderstießen, tanzten, sich küssten. Alle gingen immer aufeinander zu, während ich eine Armee unsichtbarer Söldner um mich herumscharte, die alles verteidigte, was ich ihr zum Verteidigen vorschrieb, die so ultimativ loyal war, dass wir gemeinsam immer wieder etwas fanden, was verteidigt werden konnte. Bitte, strengt euch an, nur nicht, dass ans Licht kommt, wie beharrlich ich mich selbst betrüge.

An einem Freitagabend, als die meisten meiner Kollegen gegangen waren, um im Strandcafé an der Elbe den Sommertag ausklingen zu lassen, saß ich an meinem Schreibtisch, nur ich und der Schreibtisch, die Regale, Ordner und die Technik, und ich verfiel dem Wunsch, endlich so flach wie der Bildschirm auf meinem Tisch zu werden.

Ich öffnete ein Nachrichtenfeld und tippte hinein:

Lieber Matthias, ich unterschreibe die Kapitulationsurkunde. Ich werfe den Staub darüber, die pulverisierten Rückstände aller Gefühle, die ich durch Zweifel zerrieben habe. Ich nehme an, es gibt eine ganz einfache Erklärung. Aber ich möchte nicht drauf kommen.

Kurz bevor ich die Nachricht absenden konnte, löschte ich sie. Ich ließ ein paar weitere Tage verstreichen, dann nahm ich die Katze, ging bis in den Hof, bereit, sie vor seiner Tür abzusetzen. Der Spanier, der auch im Hinterhaus wohnte, stand mit zwei Freunden im Hof, sie rauchten. Er schnippte seine Zigarette in die Rabatte und kam auf mich zu. Es wirkte, als ginge er vor mir auf die Knie, ich begann mich unwillkürlich zu bücken. Er war mit der Katze in meinem Arm auf Augenhöhe und sagte in einem fort: »Meine Süße, mi gatito!« Ich wollte vermeiden, dass er mir die Hände küsste, und umarmte das Tier fester. Er wollte es aus meinen Armen heben, ich ließ nicht los. Ich sagte, er sei nicht der Besitzer.

Ich wiederholte meinen Standpunkt, er schaute mich an, als hätte ich ihm gesagt, er sei der rechtmäßige Thronfolger des spanischen Königshauses.

Nur die Katze selbst schien in den Genuss seiner gefühlvollen Ansprache zu kommen. Mit mir sprach er nüchtern, fast hamburgerisch. »Natürlich ist das meine Katze. Wo hast du sie gefunden? Sie war Millionen Jahre weg.«

Ich wollte sagen, dass sie Matthias gehörte, seinem Nachbarn, und dass es sich mitnichten um mehr als ein paar Wochen handelte, die sie zu mir umgezogen war. Meine trotzige Hoffnung, dass Matthias und ich, wenn schon durch sonst nichts, so zumindest durch dieses Tier verbunden waren, kollidierte hart mit seiner ehrlichen Freude. Ich schwieg. Und gab die Katze zurück. Sie übersiedelte leichtfüßig von meinem in seinen Arm. Er drückte den Kopf des Tieres an seinen Hals, er küsste das Fell. Er sagte: »Danke, wirklich, danke. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben.«

»Ein sehr liebenswertes Tier«, sagte ich.

»Ja, nicht? Die wunderbarste aller Katzen.«

Er küsste sie wieder. Ihm klebten Härchen an der Unterlippe und in den Bartstoppeln. Ich streckte die Hand aus im Impuls, die Härchen zu entfernen. Er meinte, ich wollte noch einmal die wunderbare Katze streicheln, und hielt sie mir hin. Sie hing in seinen Händen, matt und ergeben. Ich zog eine Linie über den Wirbelsäulengrat ihres Rückens, grüßte höflich und ging.