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ISBN 978-3-492-97754-8
August 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Redaktion: Ulrike Gallwitz, Freiburg
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: Bretterspitze und Urbeleskarspitze in der Hornbachkette, Allgäuer Alpen (Kirsten Nijhof/Plainpicture)
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen


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Wo sind die Tiroler?

Tirol isch lei oans,

Isch a Landl a kloans,

Isch a schians, isch a feins,

Und dås Landl isch meins.

Tirol ist nur eines,

Ist ein Ländchen ein kleines,

Ist ein schönes, ist ein feines,

Und das Ländchen ist meines.

Inoffizielle Landeshymne Tirols, verfasst von Reimmichl, d.i. Sebastian Rieger, heute bekannt durch den Reimmichl-Kalender

Ich bin Tiroler.

Wenn ich meiner Mutter sage: »Ich gehe nach Deutschland« oder »Ich gehe nach Frankreich« oder »Ich gehe nach Schweden«, dann sagt sie nichts, sondern zuckt nur mit den Schultern. Das soll heißen, ich werde schon wissen, was ich tue, aber zu helfen sei mir nicht. Wie kann jemand freiwillig das schöne, das heilige Land Tirol verlassen, staunt ihr Blick, ehe sie mich fragt, ob ich noch etwas essen will. Als wären zwei Teller nicht genug gewesen …

Am Anfang jedes Buches steht eine Frage, die man nicht beantworten kann. Warum – habe ich mich bei diesem Buch gefragt – kann jemand nicht verstehen, was ich zu verstehen versuche? Was es mit Tirol auf sich hat. Mit den Tirolern, ihrer bärbeißigen Mentalität, mit den Bergen, der Natur, dem Skifahren, dem Gemüt, dem Charakter, diesem allzu großen Klischee, das so erfolgreich ins Ausland verkauft wird.

Die Tiroler sind stur, und sie sind widerständig. Aber sind sie das wirklich? Ist das Leben in den Bergen so hart, wie es das Sprichwort sagt, dass man selbst am Beginn des 21. Jahrhunderts noch zu einem maulfaulen, gottgläubigen, immens gesunden, weil sportlichen Menschen werden muss, der sich ob seiner Herkunft einbildet, die Geburt allein berechtige ihn dazu, maulfaul, gottgläubig und gesund zu sein?

Der Anfang dieses Buches ist – das muss ich gestehen – bis auf die Reaktion meiner Mutter dem wunderbaren Essay Des Schweizers Schweiz über die Schweizer Mentalität von Peter Bichsel entlehnt, der mit ebenjenen Worten beginnt: »Ich bin Schweizer.« Nur antwortet ihm seine Mutter auf die Ankündigung hin, er gehe nach Schweden: »Du gehst also ins Ausland.«

In Tirol, denke ich mir, wird in diesen Fällen geschwiegen oder mit den Schultern gezuckt. Gleichmütig nehmen die Tiroler das Leben hin wie das mal bessere, mal schlechtere Wetter, den Tourismus, die Wechselkurse, die Regierung in Wien und die ganzen anderen Unwägbarkeiten des Lebens, auf die der kleine Mann keinen Einfluss hat. Vielleicht hat sich diese Gleichmut über die Jahrhunderte durch das karge Leben, das die Tiroler führen mussten, so ergeben; bis auf Innsbruck, die Landeshauptstadt – seit dem Mittelalter wichtiger Knotenpunkt zwischen Nord und Süd, Residenzstadt, Universitätsstadt, Zentrum der Büchsenmacher und Kanonenbauer, mehr noch aber der Glockengießer –, und ein paar andere annähernd urbane Zentren war Tirol bäuerlich organisiert, und die Bauern mussten der Natur und den steilen Berghängen, an denen ihre Wiesen hingen, das Nötigste zum Leben wohl mehr abringen, als dass sie es wie aus einem Füllhorn geschenkt bekommen hätten. Es braucht Geduld für so ein Leben, Zähigkeit, Ausdauer, Sturheit; alles Eigenschaften, die jahrhundertelang fürs Überleben notwendig waren, ehe man begann, darauf stolz zu sein.

»Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können«, schreibt Heinrich Heine, der bei seinen Zeitgenossen für seinen bissigen Spott bekannt war, im dritten Teil seiner Reisebilder, die 1830 im Hamburger Verlag Hoffmann & Campe erschienen. Reise von München nach Genua lautet der Titel jenes Abschnitts, in dem Heine recht ausführlich seine Fahrt durch Tirol beschreibt, das im 19. Jahrhundert noch weit bis in den Süden reicht und neben Südtirol auch das Trentino umfasst.

Es ist immer schon das Bild von außen, die Beschreibung von Dritten gewesen, das schließlich die Vorstellung des Tirolers ergab, von dem der Fremdenverkehr bis heute zehrt. Heinrich Heine war nur einer der ersten Spötter, die – zwischen Liebe und Abneigung changierend – versuchten, den Tiroler, die Tirolerin zu verstehen.

Ein anderer war der unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer schreibende Gymnasiallehrer Carl Techet mit seinem 1909 erschienenen Buch Fern von Europa, in dem er in mehreren Erzählungen polemisch die Denkweise und das Verhalten der Tiroler Bevölkerung schilderte. Die Reaktionen waren derart hysterisch, dass der Autor 1910 nach München fliehen musste und schließlich nach Mähren strafversetzt wurde, zu sehr hatte er die Tiroler in ihrem Selbstbild gekränkt. Buchhändlerisch gesehen war das Buch jedenfalls ein Erfolg; der Verlag Lothar Joachim konnte es bis ins Jahr 1923 in zwanzig Auflagen stattliche 25000 Mal verkaufen – und das, obwohl es in Tirol nur über München zu beziehen war. Da ergibt sich eine Parallele zu Heinrich Heine: In seinen Reisebildern schildert er gleich zu Beginn seiner Tirol-Passagen, sein Freund Moser habe ihm geschrieben, der zweite Band der Reisebilder sei verboten, was Heine spöttisch kommentiert: »Die Regierung hätte aber das Buch gar nicht zu verbieten brauchen, es wäre dennoch gelesen worden.«

Eine heute wenig bekannte Satire auf Tirol stammt aus den Siebzigerjahren, genauer: 1974 drehten Christian Berger und Werner Pirchner den Kurzfilm Der Untergang des Alpenlandes Part One – es folgte kein zweiter Teil –, der mit verfremdeten Heimatfilm-Elementen das Alpenland Tirol samt seiner Gläubigkeit zerlegt. Christian Berger wurde später als Kameramann weltberühmt, der Tiroler Werner Pirchner aber machte Karriere als Musiker und Komponist, der eigenwillig und mit viel Humor Werke wie Streichquartett für Bläserquintett schuf und unvergessen ist durch sein Sounddesign für den österreichischen Radiokultursender Ö1.

Die vierte Koryphäe auf dem Gebiet der Tirol-Beleidigung ist vermutlich Felix Mitterer, der – wenngleich er als Spätwerk vor allem Tatort-Drehbücher zu schreiben scheint – in frühen Jahren ein gewisses Gespür für die Themen der Zeit besaß, wie er mit dem Volksstück Kein Platz für Idioten bewies, das 1977 von der Innsbrucker Blaas-Bühne uraufgeführt und ein enormer Erfolg wurde. Mitterer selbst spielte die Hauptrolle eines geistig Behinderten, der, verstoßen von seinen Eltern, beim Plattl-Hans lebt, unter der Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft leidet und schließlich an dieser scheitert. Das Tabu, das Mitterer dabei verletzte, war das Verhalten der Mehrheitsbevölkerung Behinderten gegenüber, ein Thema, das Ende der Siebzigerjahre von großer Brisanz war. Mit dem Drehbuch zur Fernsehfilm-Reihe Die Piefke-Saga gelang Felix Mitterer schließlich Anfang der 1990er-Jahre sein Meisterstück.

Das in Kooperation von NDR (Norddeutscher Rundfunk) und ORF (Österreichischer Rundfunk) produzierte Fernsehspiel in vier Teilen in Spielfilmlänge hatte einen der größten Fernsehskandale der jüngeren Geschichte zur Folge, und sein Hauptdarsteller war: Tirol.

Was löste diesen Skandal aus? Vordergründig handelte es sich um eine Satire auf den Tourismus, bei dem die sogenannten Piefke, wie die deutschen Touristen in Tirol abwertend genannt werden, ob ihrer Art und Mentalität veralbert werden. An dieser Satire war viel Wahres dran – tatsächlich wurden sogar echte Fernsehaufnahmen verwendet –, sie zeigte Missstände im Umgang mit den Fremden, den Gästen auf und zeichnete vor allem ein Bild der Tiroler, die bereit waren, sich bis zur Selbstaufgabe für das Geld aus dem Fremdenverkehr abzurackern, sozusagen ihre Seele zu verkaufen. So aufgeregt wurde dann auch in beiden Meinungslagern über den Film gesprochen. Die Touristiker fürchteten um die Umsätze, die Touristen waren beleidigt und drohten auszubleiben (was im Übrigen durch einen der Protagonisten, Heinrich Sattmann senior, mit seinem immer wiederkehrenden Satz »Ich reise ab!« vorweggenommen war) und die Stammbevölkerung lachte sich insgeheim ins Fäustchen.

Und niemandem kam anfangs in den Sinn, es handele sich bei der Piefke-Saga eigentlich um eine Satire auf die Tiroler selbst, zu sehr hatte sich das Bild des Tirolers über die Jahre bereits verfestigt.

Aber was macht dieses »Bild des Tirolers« eigentlich aus? Was macht Tirol zu Tirol? Worin besteht der Reiz dieses Landes, das Jahr für Jahr Millionen von Menschen dazu bewegt, hier nicht nur durchzureisen, sondern absichtlich Urlaub zu machen. Was macht den Mythos Tyrol aus? – um ganz altertümlich zu sprechen. Das würde mich als Tiroler selbst einmal interessieren.

Wie sind nun die Tiroler? Die Tirolerinnen? Und vor allem: Wo sind sie? Abseits der Filme und Werbesujets bin ich noch selten diesen kernigen graden Michln, wie man sagt, begegnet. Und ich lebe immerhin hier, die meiste Zeit des Jahres.

Seit Jahren fahre ich regelmäßig nach Wien, die einzige Metropole Österreichs, und wundere mich, wie wenig »echte« Wiener ich in Wien treffe. Die meisten Wiener sind aus den Bundesländern zugewandert, scheint es. Oder aber, denke ich mir immer, die echten Wiener bleiben lieber unter sich. Dieses Phänomen kenne ich schließlich auch aus Tirol. Während meiner Studienzeit an der Universität war ich selbst oft der einzige Innsbrucker (und ich rede jetzt nicht nur von jenen germanistischen Seminaren, in denen in Grüppchen auftretende schwedische Austauschstudenten und vor allem -studentinnen saßen und ihre mangelnden Deutschkenntnisse überlächelten), nein, an der Universität Innsbruck tummelten sich überwiegend die Vorarlberger, die Deutschen und Südtiroler. In Tirol bleiben – auch wenn die Tiroler weithin für ihre Gastfreundschaft bekannt sind – die Tiroler gern unter sich. Es kann sein, dass man nach zwanzig Jahren, die man bereits hier gelebt hat, erst erkennt, dass man nie wirklich dazugehört hat. Da sind gläserne Decken, wenn man so will, unsichtbare Schranken und Barrieren allerorten, und gesetzt den Fall, dass man zwanzig Jahre, verheiratet mit einem Tiroler oder einer Tirolerin, durchgehalten hat, könnte es sein – und ich spreche wirklich nur im Konjunktiv –, könnte es sein, dass man in die Sippe aufgenommen und anerkannt wird. Denn Tiroler sind stolz.

Stolz auf ihre Herkunft, ihre Natur, ihre Berge, das Wasser und noch auf eine Menge anderer Sachen, für die sie selbst nichts geleistet haben; das nennt man Gnade der Geburt. Der Tiroler rechnet sich das alles hoch an: die Berge, meinetwegen den Käse, die Milch, die Wiesen und das Heu, eben all die Bestandteile des Idylls, weswegen die Touristen herkommen. Peter Bichsel, der mit seinem Schweiz-Buch so tief in die Seele seiner Landsleute geblickt hat, beschreibt das für die Schweiz ganz treffend. Jeder Nicht-Schweizer hat ein Bild der Schweiz als schönes Land, die Schweiz ist schön, die Schweiz ist sauber. Kommt nun der Schweizer irgendwo anders hin, wird ihm bestätigt, dass die Schweiz schön und sauber sei. Bestätigt darin, dass es keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt als die Schweiz geben kann, verbringt der Schweizer in Zukunft seinen Urlaub nur mehr in der Schweiz, womit sich die Katze in den Schwanz beißt.

Der Tiroler ist natürlich nicht so naiv, das Gleiche für sein eigenes Land anzunehmen. Er sieht den Touristen in erster Linie als Störenfried und in zweiter Linie als Kunden. Er duldet den Touristen mehr, als dass er ihn respektiert. Allerdings braucht Tirol die Touristen, es gibt keinen Plan B. Tiroler freuen sich zwar, wenn die Gäste abreisen und das Land wieder ihnen gehört, wenn endlich keine Saison mehr ist, aber sie würden sich kein bisschen freuen, blieben die Reisenden ganz aus. Tirol ist österreichweit das Bundesland mit den meisten Gästenächtigungen, noch vor Salzburg und vor Wien. 46,9 Millionen Nächtigungen zählte Tirol im Jahr 2016, an zweiter Stelle folgt Salzburg mit einem Respektabstand und immerhin 27,5 Millionen Nächtigungen. Das ist beeindruckend.

Und doch kann es nach außen hin so ausschauen, als wäre der Tiroler maulfaul und ein wenig grob. Tatsächlich weiß er genau Bescheid, wem er was zu geben bereit ist und dass jeder, der nicht hier geboren ist, niemals wirklich dazugehören kann. Zugroaste – woanders Geborene, Zugezogene – sagt man dazu in Tirol, und es sind immer mehr Menschen, die hier leben, Zugroaste, manche freiwillig, viele nicht. Das würde einem der Tiroler aber niemals sagen, dafür ist er nicht gesprächig genug. Der Joe, die wohl skurrilste und dankbarste Figur in Felix Mitterers Piefke-Saga, meint im ersten der vier Filme zu allem nur: »Sowieso.« Mehr gibt es über die echten Tiroler nicht zu sagen – folgerichtig wird im dystopischen vierten Teil nur der zum Tiroler umoperierte Deutsche Karl-Friedrich Sattmann über sich sagen, er heiße nun Sepp Unterwurzacher und sei »Schilehrer, Schuhplattler, Jodler, Bergführer, Bergbauer«, ein perfekter Tiroler.

Der Joe Krimbacher jedenfalls war in den 1990er-Jahren die erste große Hauptrolle für Tobias Moretti, der mittlerweile als Schauspieler international Karriere gemacht hat. Denn auch das gibt es in Tirol: Menschen, die sich ihrer Herkunft bewusst sind und dennoch keine Probleme haben, in der großen weiten Welt Karriere zu machen, als Künstler, Schauspieler, Literaten, Wirtschaftsbosse, Touristiker und anderes. Man denke an die Glasschleifer aus Wattens bei Innsbruck, die mit ihren Kristallen auf der ganzen Welt berühmt sind. Swarovski hat etwas geschafft, was nur wenigen Firmen gelingt: zur Marke zu werden und dennoch ein Tiroler Unternehmen zu bleiben. (Nun gut, österreichisch-tirolerisch, denn die Swarovskis kamen zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie aus dem östlichen Kronland Böhmen nach Tirol.)

Die Firma Swarovski wurde 1895 von Daniel Swarovski gegründet und ist seither in Familienbesitz. International bekannt ist der Konzern mit Sitz in Wattens bei Schwaz vor allem für geschliffene Schmucksteine, die Grundlage des heutigen Reichtums wurde aber in der NS-Zeit gelegt, als die bekennend nationalsozialistische Familie auf die Herstellung von Ferngläsern für die Wehrmacht setzte. Die Optik ist bis heute eine wichtige Sparte des Unternehmens. Für Tirolreisende interessanter sind aber sicher die Kristallwelten mit ihrem Eingang in Form eines wasserspeienden Riesen, die Park, Museum und Verkauf vereinen – konzipiert immerhin vom international bekannten Künstler André Heller und von den Besucherzahlen her in den Top Ten der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Österreichs.

Auch im Sport scheint übrigens die Vielvölkermonarchie noch Spuren hinterlassen zu haben; die Spieler im österreichischen Fußball-Nationalteam heißen ganz urösterreichisch Junuzovic, Dragovic, Kavlak, Janko oder Arnautovic. Aber gerade der bekannteste österreichische Fußballer David Alaba, der bei Bayern München zum Weltklassespieler geworden ist, verkörpert alle Tugenden eines richtigen Österreichers, wenn man das Klischee bemühen will: Er wurde das, was er jetzt ist, nicht wegen, sondern trotz Österreich.

Das trifft auch das Verhältnis der Tiroler zum österreichischen Staat; die Tiroler sind vom Selbstverständnis her in erster Linie Tiroler, in zweiter Linie vielleicht Österreicher und erst in dritter Linie Europäer. Das ist das Gesetz des Dorfes, so ist das Leben auf dem Land in Tirol, und hier ist überall Land, von Landeck bis nach Lienz in Osttirol. Die einzige größere Stadt weit und breit ist das berühmte »Herz der Alpen«, die Landeshauptstadt Innsbruck, die vor allem wegen der Ausrichtung von zwei Olympischen Spielen 1964 und 1976 berühmt ist, die der Stadt neben immensem internationalem Renommee als Eldorado des Wintersports vor allem Schulden für dreißig Jahre beschert haben. Die lokalen Bergbahnen, welche die staunenden Gäste in einer halben Stunde vom Stadtzentrum auf über 2000 Meter auf die Nordkette, genauer die Seegrube und bis ganz oben auf das Hafelekar bringen, nutzen den großartigen Kontrast zwischen hochalpiner Bergwelt und der geschaffenen Architektur einer Stadt zu ihren Füßen. Wobei so manches Mal auf die Frage, was man denn sehe, wenn man auf dem Berg sei, von den Einheimischen spöttisch zur Antwort gegeben wird: Noch mehr Berge.

In der Werbung wird solche Selbstverständlichkeit dann noch zur Poesie. Die Tirol Werbung wirbt mit: »Tirol. Gibt mir Berge.« Na eh, denkt man, was sonst. Die lokalen Bergbahnen, die die Nordkette befahren, versteigen sich in ihrer Hymne auf die Berge schlicht zu: »Nordkette. Da muss ich rauf.«

Ein wenig ist es in Tirol aber auch wie im Italien der Renaissance: Die benachbarten Stadtstaaten waren sich spinnefeind; Florenz, Pisa, Siena, Perugia – je näher die Herrscherfamilien oder die Interessen, umso umkämpfter die Pfründe, die es zu verteidigen oder zu erobern galt. In Tirol gilt: Wenn die Tiroler sich in erster Linie als Tiroler und nicht als Österreicher sehen, so sehen sich die Außerferner in erster Linie als Außerferner und erst in zweiter Linie als Tiroler und so weiter. So klein kann ein Land oder eine Stadt gar nicht sein, dass die Bewohner nicht in Abstufungen einen gewissen Dünkel entwickeln würden. Das Gleiche gilt im Übrigen für Wien, die große alte Stadt der ehemaligen Habsburger-Kaiser, Residenz des seligen Franz Joseph. Als Wien-Reisender könnte man angesichts der touristisch zelebrierten Nostalgie glauben, Wien sei der Nabel der Welt und es gebe nichts außerhalb dieser – durchaus wunderbaren – Stadt.

Wie stark diese alten Stereotype wirken, bemerkte ich bei einer Lesung, zu der ich nach Wien eingeladen war. Ich sollte aus meinem Roman Föhntage lesen, in dem es auch um die politischen Verwerfungen der Sechziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts in Südtirol geht. Es erschien ein interessiertes, gebildetes Publikum, im persönlichen Gespräch kam eine Dame aber nicht umhin, furchtbar dummes Zeug zu reden. Sie wollte freundlich sein und zermarterte sich das Hirn, um einen Anknüpfungspunkt zu meiner Tiroler Herkunft zu finden. Tatsächlich gelang ihr das, und sie teilte mir mit, sie kenne einen gewissen Herrn Meier aus Kufstein und darüber hinaus eine Frau Dobler aus Wörgl, ob ich die beiden Herrschaften nicht auch kenne? Aber natürlich! Als wäre es in Tirol immer noch so wie vor dreihundert Jahren, als der Senner-Jockl der Huber-Resi über den Bergkamm zujodelte, um sich mit ihr für den Abend zu verabreden. Nein, in Tirol kennen sich nicht alle fünfhunderttausend Einwohner persönlich, und nein, die Tiroler beginnen ihre amourösen Abenteuer tendenziell nicht mehr mit einer Leiter, die sie am Fenster der Angebeteten anlegen, das sogenannte Fensterln ist ein Mythos – vermarktet wird der Brauch aber natürlich schon, im Zillertal gibt es gar eine Fensterln-WM –, auch in Tirol gibt es heute Farbfernsehen und Waschmaschinen, Emanzipation und internationale Modemarken, die ihre Stores in den Eins-A-Lagen der Stadt aufmachen. Die Dame war jedenfalls ein klein wenig enttäuscht, als ich ihr sagte, dass ich ihren Sennen-Jockl, oder wie er geheißen haben mag, nicht kenne.

Tirol und Wien, das ist eine wechselvolle gemeinsame Geschichte voller Missverständnisse, wie bei Heinrich Heine in den erwähnten Reisebildern nachzulesen ist. Treu waren die Tiroler immer, seit sie 1363 zu Österreich kamen. Zuerst sich selbst und ihrem Land und dann dem Kaiser gegenüber, dem sie Treue geschworen hatten. Vielleicht ist das mit der Naivität der Tiroler, wie Heine das beschreibt, doch nicht so weit hergeholt, denn wer gibt schon etwas auf einen erzwungenen Schwur für einen Kaiser oder König? Die Tiroler nahmen das jedenfalls bis ins 20. Jahrhundert hinein ausgesprochen ernst, ja geradezu wörtlich, bis der selige Kaiser Franz Joseph, Inbegriff der Habsburgermonarchie und Witwer von Kaiserin Sisi, endlich im Alter von sechsundachtzig Jahren starb und mit ihm der ganze Glanz und die ganze Glorie von siebenhundert Jahren Habsburgermonarchie untergingen.

Als Einzige innerhalb des Vielvölkerstaates hatten es sich die Tiroler ausbedungen, dass die Landstände – also die wehrhaften, jungen Männer Tirols – in Zeiten, in denen das Vaterland Tirol von außen bedroht wäre, die Heimat selbst verteidigen dürften und nicht in der Fremde für den Kaiser Dienst an der Waffe leisten müssten. Festgelegt wurde das im Tiroler Landlibell von 1511, und vielleicht geht der Mythos des stolzen, heimatverbundenen Tirolers auch auf diese Besonderheit zurück: die Heimat, die über dem Wohl des Staates steht. Für den Kaiser, der ihnen diese Gnade gewährte, standen die Tiroler wohl ein, etwa für den geschätzten Kaiser Maximilian I., der seine Residenz in Innsbruck hatte und für Tirol und seine Landeshauptstadt immer noch von Bedeutung ist – heute ist ein Museum im Gebäude mit dem Goldenen Dachl, dem Wahrzeichen von Innsbruck, nach dem Kaiser Maximilianeum benannt.