Erstes Buch
Der Vierzehnte

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel

Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel

Zweiter Teil

Inhaltsverzeichnis

Zweites Buch
Nach dem Vierzehnten

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel

Vierter Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

›Man wird mich foltern. Gott, gib mir die Kraft, es zu ertragen!‹ Das war der erste Gedanke Golizyns, als er wieder frische Luft atmete: Der Ober-Polizeimeister Schulgin hatte, um ihn zum Bewußtsein zu bringen, während der Fahrt aus dem Palais in die Festung das Wagenfenster heruntergelassen.

›Was für Foltern haben die christlichen Märtyrer ertragen ... Aber es waren eben Märtyrer, und ich ... Nun, tut nichts, vielleicht werde auch ich ...‹ Golizyn versuchte sich Mut zu machen, empfand aber nur eine tierische Angst.

Der Wagen hielt vor dem Kommandantenhause der Peter-Pauls-Festung. Schulgin ließ den Verhafteten aussteigen und übergab ihn einem Feldjäger. Sie traten in ein kleines Zimmer mit nackten Wänden, fast ohne Möbel: Es waren darin nur zwei Stühle und ein Tischchen, auf dem ein Talglicht brannte. Der Feldjäger ließ Golizyn sich auf einen der Stühle niedersetzen und setzte sich auf den anderen. Dann gähnte er so ruhig und gemütlich, sich bekreuzigend und die Hand vor den Mund haltend, daß Golizyn plötzlich zu hoffen anfing, daß es ohne Folter ablaufen würde.

›Nein, sie werden mich doch foltern. Da kommen sie schon! Gott, hilf mir!‹ sagte er sich, mit dem entsetzlichen saugenden Gefühl in der Herzgrube, vor dem sich alle Eingeweide umdrehen, dem unheimlichen Rasseln von Eisen und dem Stampfen vieler Füße im Nebenzimmer lauschend.

Ins Zimmer trat der Kommandant der Peter-Pauls-Festung, General Ssukin, ein alter Mann mit einem Stelzfuß und auf Soldatenart kurz geschorenem grauem Haar; ihm folgte ein kleines, dickes Männchen mit eingefallener Nase, der Platz-Major Poduschkin; dann kamen noch einige Platz-Adjutanten, Gefreite und einfache Soldaten. Ssukin hielt in der Hand einige mit Ringen versehene Eisenstangen. ›Das sind die Folterwerkzeuge !‹ dachte sich Golizyn und schloß die Augen, um nicht zu sehen. ›Gott, hilf mir!‹ wiederholte er fast bewußtlos vor sich hin.

Der Alte trat, mit seinem Stelzfuß klappernd, flink an den Tisch, hielt ein Blatt Briefpapier vor die Kerze und erklärte:

»Seine Majestät der Kaiser befiehlt, dich in Eisen zu schlagen.« Das Wort »dich« sprach er mit unnatürlicher Betonung.

Golizyn hörte zu, ohne etwas zu verstehen. Einige Männer fielen über ihn her, legten ihm an Füße und Hände Fesseln an und schlossen diese mit Schlüsseln.

Er verstand noch immer nichts. Plötzlich verstand er es doch; er biß sich auf die Lippe und hielt den Atem an, um nicht zu weinen vor Freude, die ebenso sinnlos und tierisch war, wie das Entsetzen von vorhin. Er sah dem Kommandanten ins Gesicht und dachte: »Welch ein prächtiger Mensch!« Auch das Gesicht des Platz-Majors ohne Nase kam ihm schön vor; die gewöhnlichen Gesichter der Soldaten erschienen ihm so gut, daß er bereit war, einen jeden von ihnen zu küssen. Ihm fiel der orangegelbe Kragen an der Uniform des Platz-Majors auf; einen solchen Kragen hatte er noch nie gesehen. »Man hat die Uniform wohl anläßlich des Regierungswechsels geändert«, dachte er sich mit der gleichen sinnlosen und berauschenden Freude. Er schämte sich ein wenig seines Schreckens von vorhin, aber auch diese Scham ging in der berauschenden Freude unter.

»Jegor Michailowitsch, führen Sie ihn in den Alexejewschen«, sagte der Kommandant zu Poduschkin. Jener band die Zipfel seines Taschentuchs zusammen und stülpte es Golizyn über die Augen.

Golizyn stand auf, taumelte und fiel fast hin: Er verstand noch nicht, in den Fesseln zu gehen. Man faßte ihn unter die Arme, führte ihn aus dem Hause und setzte ihn in einen Schlitten. Poduschkin setzte sich neben ihn und umfaßte seine Taille. Der Schlitten fuhr in Windungen, wahrscheinlich zwischen den Bastionen der Festung. Golizyn blickte mit dem einen Auge unter der herabgerutschten Binde hervor und sah eine Zugbrücke, die über einen Graben führte, und eine dicke steinerne Mauer mit einem Tor.

»Wo führen Sie mich hin? In den Alexej-Ravelin, nicht wahr?« fragte er Poduschkin.

»Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Sie sollen eine ausgezeichnete Wohnung haben«, tröstete ihn jener und rückte das Taschentuch zurecht.

Golizyn erinnerte sich der Gerüchte, die über diesen Ravelin gingen: Darin wurden nur die ›Vergessenen‹ untergebracht, und niemand war noch von dort herausgekommen. Aber im Vergleich zu der Folter erschien ihm selbst die ewige Einkerkerung als eine Seligkeit.

Der Schlitten hielt. Man faßte den Arrestanten wieder unter die Arme, half ihm aus dem Schlitten und führte ihn die Stufen zum Eingang hinauf. Die Tür knarrte auf rostigen Angeln und fiel dann mit dumpfem Dröhnen wieder ins Schloß. ›Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung draußen‹, ging es Golizyn durch den Kopf.

Man nahm ihm das Tuch von den Augen und führte ihn durch einen langen, von einigen kleinen Talglämpchen trüb erleuchteten Korridor mit einer Reihe von Türen. Voraus ging der Platz-Major; er blieb vor jeder Tür stehen und fragte: »Besetzt?« Man antwortete: »Besetzt.« Endlich antwortete man: »Frei.«

»Ich bitte sehr«, sagte Poduschkin freundlich, und Golizyn trat in einen schmalen, langen, steinernen Spalt, der an einen Sarg gemahnte. Ein Wächter zündete ein Nachtlicht an: ein grünes ölgefülltes Gläschen mit einem schwimmenden Docht. Golizyn sah eine herabhängende gewölbte Decke, ein Fenster mit einem dicken Eisengitter in einer tiefen Wandnische, zwei Stühle, ein Tischchen, ein Lazarettbett, einen runden eisernen Ofen in der einen Ecke und einen stinkenden Kübel in der andern.

Man nahm ihm die Fesseln wieder ab, entkleidete ihn und unterzog ihn einer eingehenden Leibesvisitation; man untersuchte selbst die Achselhöhlen; dann gab man ihm eine Sträflingsjacke, eine Hose, einen fettigen Schlafrock und zerrissene, ihm viel zu große Pantoffeln.

In die Zelle trat ein großgewachsener Greis in langschößigem grünem Uniformrock aus den Tagen des Kaisers Paul, mit rotem Kragen und roten Aufschlägen, ungewöhnlich hager, blaß, einem Toten ähnlich. Es war der Kommandant des Alexej-Ravelins, der Schwede Lilien-Ankern. Die Wachtsoldaten hielten ihn für etwas verrückt und nannten ihn ›Kaschtschej der Unsterbliche‹: Sie behaupteten, er sei an die hundert Jahre alt und hätte als ewiger Gefangener unter Gefangenen fünfzig Jahre verbracht.

Mit langsamen Schritten, gebückt, die Hände im Rücken, mit offenem Mund, in dem zwei gelbe Zähne ragten, und einem starren Blick, der nicht zu sehen schien, ging er gerade auf Golizyn zu.

»Wie ist Ihr Befinden?« fragte er aus der Ferne; ohne die Antwort abzuwarten, kniete er vor ihm nieder und fing an, ihm die Fesseln, die man ihm eben abgenommen hatte, mit geschickten und gewohnten Bewegungen wieder anzulegen. Dann zeigte er ihm, wie man sich mit den Fesseln fortbewegt, indem man die Kettenglieder, die die Fußreifen verbinden, mittels einer Schnur hochhält, Golizyn versuchte es und fiel beinahe wieder hin.

»Macht nichts, Sie werden es schon lernen«, tröstete ihn der Platz-Major.

Der Kommandant umwickelte die Handfesseln mit weichen Lederläppchen und fragte:

»Können Sie so schreiben?«

»Ja.«

»Nun ist die Toilette zu Ende«, bemerkte Poduschkin mit liebenswürdigem Lächeln. Lilien-Ankern, der noch immer auf den Knien lag, hob auf den Arrestanten seine hundertjährigen, von einem trüben Häutchen wie bei einem schlafenden Vogel überzogenen Augen und sprach mit Andacht, wie betend:

»Die Gnade Gottes rettet alle!«

›So begrüßen wohl im Jenseits die alten Toten die neuen‹, dachte sich Golizyn.

Der Greis stand schweigend auf und verließ mit den gleichen langsamen Schritten, die Hände im Rücken, die Zelle.

Die Wächter halfen Golizyn, vom Stuhl zum Bett zu gehen.

»Schlafen Sie mit Gott, grämen Sie sich nicht: Alles vergeht. Das Zimmerchen ist ausgezeichnet, trocken und warm«, sagte Poduschkin.

Alle gingen hinaus und schlossen die Tür. Der Schlüssel wurde umgedreht, mehrere Riegel, Bolzen und Ketten rasselten, die letzte dicke Eisenstange dröhnte, und alles wurde still.

Golizyn fühlte sich lebendig begraben, und doch war er voller Freude: Die Folter war zu Ende.

Er bemerkte auf dem Tischchen ein Stück Schwarzbrot und einen Becher mit Kwas. Früher, während der Durchsuchung, hatte er zu essen verlangt. Der Platz-Major hatte sich entschuldigt, daß es schon spät sei und in der Küche alle schliefen, und Brot und Kwas bringen lassen. Golizyn aß das Brot auf und trank den ganzen Kwas aus; schon lange hatte er nicht so gut zu Abend gegessen.

Er richtete sich für die Nacht ein, zog den Schlafrock aus und hob mit Mühe die durch die Ketten beschwerten Füße auf das Bett; er wollte sich schon auf der flachen und dünnen Matratze ausstrecken, warf aber einen Blick auf das grobe Kissen ohne Überzug und sah darauf Fettflecke. Er roch daran und verzog das Gesicht. Marinjkas Taschentuch mit den rotgestickten Buchstaben M. T. lag zusammengefaltet auf dem Tisch. Beim Abschied hatte sie es ihm wohl in die Tasche gesteckt, und bei der Durchsuchung hatte man es übersehen oder ihm aus Mitleid absichtlich gelassen.

Er breitete das Tuch auf dem Kissen aus, so daß er dieses nicht mit der Wange zu berühren brauchte. Das Taschentuch duftete nach Marinjka. Er lächelte beim Gedanken, wie er sie in jener ersten und letzten Brautnacht, als sie ihn durch ihren Kuß geweckt hatte, nicht zurückzuhalten vermochte und »dumm« eingeschlafen war.

Irgendwo in der Nähe, scheinbar über seinem Ohre, klang das Glockenspiel, wie der Gesang von Engeln mit ehernen Stimmen. »Die Gnade Gottes rettet alle«, hörte er die Toten einander begrüßen. Immer noch lächelnd, schlief er selig ein mit dem letzten Gedanken: »Im Rachen des Tieres – wie im Busen Christi.«

Am Morgen weckten ihn die gestrigen Töne, doch in umgekehrter Reihenfolge: erst die dröhnende Eisenstange, dann die Riegel, Ketten und Bolzen und zuletzt der Schlüssel im Schloß. Herein trat Lilien-Ankern und fragte: »Wie ist Ihr Befinden?« Und er verschwand gleich wieder, ohne eine Antwort abzuwarten.

Der Feuerwerker Schibajew, ein junger Bursche mit lustigem Gesicht, brachte ihm eine große zinnerne Kanne mit dünnem Tee und zwei Stück Zucker. Den Zucker hielt er aus Höflichkeit nicht auf der bloßen Hand, sondern in einer Falte seines Rockschoßes; er stellte und legte alles auf das Tischchen und machte eine höfliche Verbeugung.

»Wie spät ist es?« fragte Golizyn.

Schibajew lächelte stumm und ging mit einer höflichen Verbeugung hinaus.

Ein schmutziger Invalide trug den Kübel hinaus und fing an, den Boden zu kehren.

»Wie spät ist es?« fragte Golizyn wieder.

Der Soldat schwieg.

»Wie ist das Wetter?«

»Ich weiß nicht.«

Golizyn hüllte sich vor Kälte in die Bettdecke und versuchte, sich mit dem Tee zu erwärmen. Er sah sich sein ›trockenes‹ Zimmerchen genauer an: Ein blauer Strich an der Wand mit dem abgebröckelten Verputz bezeichnete die Höhe des Wasserstandes bei der letzten Überschwemmung, und hier und da waren noch dunkle Flecken; von der Deckenwölbung und vom Ofenrohr tropfte es fast, die Luft war von einer schwülen, wie aus der Erde kommenden Feuchtigkeit erfüllt. Als man aber den Ofen vom Korridor aus einheizte, wurde das eiserne Rohr dicht über dem Kopf des Arrestanten glühend heiß und begann zu knistern. Im Kopf hatte er es heiß, in den Füßen aber kalt wie früher.

Die Wände, die eine Fortsetzung der niederen Deckenwölbung bildeten, verliefen bis zum Fußboden in geschwungener Linie, so daß man nur in der Mitte der Zelle geradestehen konnte; an den Wänden mußte man sich aber bücken. Die Decke war von Spinngeweben überzogen und wimmelte von Spinnen, Schaben, Tausendfüßchen und noch anderem abscheulichem Ungeziefer, wie er es noch nie gesehen hatte und das aus den Ritzen nur zur Hälfte herausguckte. ›Ich will es lieber nicht sehen‹, sagte sich Golizyn und senkte die Augen; da sah er aber etwas über den Fußboden huschen: Es war eine riesengroße, rötliche Wasserratte.

Die Fensterscheiben waren mit einer dicken Kreideschicht übertüncht, und in der Zelle herrschte selbst an sonnigen Tagen eine ewige Dämmerung. In der Tür befand sich ein Guckloch mit einem eisernen Gitter innen und einem dunkelgrünen Vorhang draußen. Der Wachtposten, der mit unhörbaren Schritten in Filzstiefeln in dem mit dicken Filzmatten belegten Korridor auf und ab ging, lüftete ab und zu den Vorhang und blickte in die Zelle hinein. Der Arrestant konnte weder husten noch eine Bewegung machen, ohne daß im Guckloch sofort ein spähendes Auge erschien.

»Wer ist hier?« fragte eine bekannte Stimme, und Golizyn erblickte im Guckloch den kühn geschwungenen Schnurrbart Ljewaschows.

»Michailow«, antwortete die Stimme Poduschkins.

›Warum Michailow? Ach so: Valerian Michailowitsch‹, kombinierte Golizyn.

»Celui-ci a les fers aux bras et aux pieds«, teilte Ljewaschow jemand mit, als zeige er ein seltenes Tier. Golizyn glaubte am Guckloch das Gesicht des Großfürsten Michaïl Pawlowitsch vorbeihuschen zu sehen.

An den Wänden der Zelle gab es Zeichnungen und Inschriften, zum größten Teil halb verwischt: Die Gefängniswärter hatten wohl den Befehl, die Sterbechronik der ehemaligen Häftlinge abzukratzen. Nur wenige waren noch erhalten.

Unter einem weiblichen Köpfchen standen Verse:

›Auf Erden warst du stets mein Gott,
Nun bist du in der Ewigkeit, –
Oh, bete dort ...‹

Das Folgende war verwischt; es standen nur noch die beiden letzten Worte: ›dich wiedersehen.‹

Unter einem männlichen Bildnis lautete die Inschrift: ›Bruder, ich habe mich zum Selbstmord entschlossen.‹ Unter einem weiblichen: ›Mama, lebe wohl für immer.‹ Daneben die Worte des Herrn: ›Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.‹

Die Tür ging auf, und in die Zelle trat ein Geistlicher in rauschender seidener Soutane, mit einem Kreuz am Halse und einem Orden an der Brust.

»Habe ich die Ehre, den Fürsten Valerian Michailowitsch Golizyn zu sprechen?« fragte er mit einer zeremoniösen Verbeugung an der Schwelle. »Ich störe doch nicht?«

»Ich bitte sehr, Hochwürden.«

›Gott sei Dank, es ist ein Pope, also erwartet mich nicht die Folter, sondern das Schafott‹, sagte sich Golizyn und dachte an den Großinquisitor in Schillers ›Don Carlos‹. Er wollte aufstehen, um den Gast zu begrüßen, sank aber mit seinen Fesseln rasselnd hin. Jener sprang auf ihn zu und stützte ihn.

»Sie haben sich doch nicht weh getan? Einen halben Pud wiegt so ein Kettchen, das ist doch kein Spaß ...«

»Nein, es macht nichts. Warum stehen Sie? Setzen Sie sich doch!« forderte ihn Golizyn auf.

Der Gast verbeugte sich ebenso zeremoniös und setzte sich auf den Stuhl.

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, P. Pjotr Myslowskij, Erzpriester an der Kasanschen Kathedrale, Beichtvater und, ich darf wohl sagen, Freund der hier Eingekerkerten, worauf ich stolz bin, denn es ist keine Sünde, auf die Freundschaft würdiger Menschen stolz zu sein.«

›Er ist ein Spion und will mich beschwätzen!‹ dachte sich Golizyn und musterte ihn aufmerksam: Er ist groß gewachsen, ein Hüne von Gestalt, hat eine gute Haltung und ein würdiges Gesicht mit einem prächtigen, roten, graumelierten Vollbart; so sehen manche fünfzigjährige Bauern aus; auch sein Gesicht ist ein derbes, doch gutes und kluges Bauerngesicht; kleine, seitwärts von den herabhängenden Lidern bedeckte dreieckige Augenschlitze mit dem doppelsinnigen Ausdruck, den man so oft bei Russen antrifft: Einfalt und Schlauheit.

»Nun, wann ist die Hinrichtung?« fragte Golizyn, ihn unverwandt anblickend.

»Was für eine? Wessen?«

»Meine Hinrichtung. Und was für eine, müssen Sie besser wissen: Wird man mich erschießen, hängen oder köpfen?«

»Was fällt Ihnen ein, Fürst!« Myslowskij fuchelte erregt mit den Händen. »Ich schwöre Ihnen bei diesem Priesterkreuz, obwohl es einem Priester nicht geziemt zu schwören, daß kein Mensch an eine Hinrichtung denkt. Wissen Sie denn selbst nicht, daß die Todesstrafe in den Gesetzen des Russischen Reiches abgeschafft ist?«

Golizyn glaubte noch nicht, aber sein Herz stand plötzlich wie gestern, als die Folter vorbei war, vor Freude still.

»Die Todesstrafe ist abgeschafft, aber die Folter besteht noch?« fuhr er fort, ihn immer noch unverwandt ansehend.

»Im neunzehnten Jahrhundert, in einem christlichen Staate, nach den goldenen Tagen Alexanders – die Folter!« P. Pjotr schüttelte den Kopf. »Ach, meine Herren, was habt ihr doch für abscheuliche Gedanken, – entschuldigen Sie, wenn ich es sage: unwürdige und unedle Gedanken! Man wünscht Ihnen Gutes, Sie quälen aber sich selbst und die andern. Wenn Sie nur die unsagbare Barmherzigkeit des Kaisers ahnten ... «

»Ich will Ihnen folgendes sagen, Hochwürden«, unterbrach ihn Golizyn. »Merken Sie es sich ein für allemal: Die Barmherzigkeit des Kaisers will ich nicht, dann schon lieber den Galgen oder das Schafott! Machen Sie sich keine Mühe, Sie werden von mir nichts herausbekommen. Haben Sie es verstanden?«

»Ich habe es verstanden. Wie sollte ich es nicht verstehen! ›Pope, scher dich! Du bist für mich schlimmer als ein Hund!‹ Sie würden ja auch einen Hund ebenso hinausgejagt haben ... «

Seine Stimme zitterte, seine Äuglein zwinkerten, die Lippen zuckten, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen. ›Ein so kräftiger Kerl und dabei so empfindsam!‹ sagte sich Golizyn erstaunt.

»Sie haben mich nicht richtig verstanden, P. Pjotr. Ich habe Sie nicht kränken wollen ... «

»Ach, Durchlaucht, wer wird noch auf Kränkungen schauen!« entgegnete P. Pjotr, die Hände vom Gesicht nehmend und aufseufzend. »Mancher Mensch läßt seine Wut am ersten Besten aus und fühlt sich dann gleich erleichtert – wohl bekomm's! Ich bin doch kein Dummkopf und verstehe es: Der Pope ist zum Arrestanten gekommen, und in wessen Auftrag? Von der Behörde gesandt, also ist er ein Schuft und ein Spion. Sie sehen mich aber zum ersten Male, mein Herr. Fünfzehn Jahre versehe ich mein Amt in den Kasematten, in dieser finsteren Hölle und schlage mich wund wie ein Vogel im Käfig. Weshalb tue ich es aber, wie glauben Sie? Vielleicht wegen eines solchen Drecks?« Er zeigte auf seinen Orden. »Man mag mich mit Titeln und Ordenssternen überschütten, ich würde keinen Tag in dieser gemeinen Stellung bleiben, wenn ich nicht hoffte, wenigstens etwas Gutes zu tun: Menschen zu helfen, denen sonst niemand helfen kann. Wenn ich, der unwürdige Pope, nicht wäre, so gäbe es hier niemand, der für euch alle eintreten könnte ... Für die Sache vom Vierzehnten habe ich aber ein besonderes Interesse.«

»Warum ein besonderes?«

»Weil ich selbst so einer bin«, flüsterte ihm P. Pjotr ins Ohr. »Ich bin zwar einfacher Bauer, habe aber Gottlob meinen gesunden Menschenverstand und ein unverdorbenes Herz. Wenn ich die hiesigen Zustände sehe, gerate ich in Aufruhr, ich verschmachte und quäle mich, will die Sünde fliehen und kann es nicht. Ich hätte ja schon längst abgestumpft sein müssen, aber wenn ich einen Arrestanten sehe, dazu noch einen mit eisernen Handschellen, so kocht und revoltiert alles in mir: Ein Geschöpf Gottes, das mehr als die andern für die Freiheit geboren ist, einen Menschen in Ketten zu sehen, ist unerträglich und empörend!«

›Er ist nicht der Inquisitor von Schiller, sondern Schiller selbst!‹ sagte sich Golizyn mit immer wachsendem Erstaunen.

»P. Pjotr, ich habe mich an Ihnen versündigt, verzeihen Sie mir«, sagte er und reichte ihm die Hand.

Jener drückte sie fest zusammen, errötete plötzlich, begann mit den Augen zu zwinkern und fiel ihm schluchzend um den Hals.

»Valerian Michailowitsch, Liebster, jagen Sie mich nur nicht hinaus! Vielleicht werde ich Ihnen doch irgendwie nützlich sein, Sie werden es schon selbst sehen!« Er umarmte und küßte ihn zärtlich.

»Mein Freund, ist es schon lange her, daß Sie zum letzten Mal gebeichtet und kommuniziert haben?« fragte er wie nebenbei, aber Golizyn schien es, daß es der Hauptgrund seines Kommens sei.

Er befreite sich aus seinen Armen und sah ihn ebenso unverwandt wie früher an: Die gleichen kleinen, dreieckigen Augenschlitze unter den herabhängenden Lidern mit dem doppelsinnigen Ausdruck von Einfalt und Schlauheit. So lange er ihn auch ansah, konnte er unmöglich entscheiden, ob er sehr schlau oder sehr einfältig sei.

»Es ist lange her«, antwortete er unwillig.

»Haben Sie nicht jetzt den Wunsch?«

»Nein.«

›Nach den russischen Gesetzen ist der Beichtvater verpflichtet, jede gegen ein Mitglied des Zarenhauses gerichtete böse Absicht, von der er in der Beichte hört, höheren Ortes zu melden‹, ging es Golizyn durch den Kopf.

P. Pjotr schien noch etwas fragen zu wollen, verstummte aber plötzlich und schlug die Augen nieder. Dann stand er auf und hatte auf einmal große Eile.

»Ich muß zu Ihrem Nachbarn, dem Fürsten Obolenskij, er sitzt gleich nebenan, hinter dieser Wand. Ich glaube, er ist Ihr Freund?«

»Ja.«

»Soll ich ihn grüßen?«

»Grüßen Sie ihn.«

Es mißfiel Golizyn, daß P. Pjotr ihm so leichtsinnig Dinge mitteilte, die ein Arrestant gar nicht wissen darf, als sei er schon ein Mitverschworener.

»Ach, beinahe hätte ich es vergessen!« rief plötzlich Myslowskij und holte aus der Tasche ein altes Lederfutteral.

»Die Brille!« rief Golizyn freudig erstaunt. »Wo haben Sie die her?«

»Von Herrn Fryndin.«

»Man wird sie mir doch wegnehmen. Eine Brille hat man mir schon weggenommen.«

»Man wird sie Ihnen nicht wegnehmen: Ich habe für Sie die Erlaubnis erwirkt.«

Auch das mißfiel Golizyn: Der Geistliche ist gar zu dienstfertig, ist zu fest davon überzeugt, daß er seine Dienste annehmen wird, ohne es ihm vergelten zu können.

»Herr Fryndin läßt Ihnen sagen, daß die Fürstin Marja Pawlowna sich bei bester Gesundheit befindet, fest auf Gottes Gnade baut und auch Sie darum bittet ... Jetzt dürfen Sie ihr noch nicht schreiben, es ist noch sehr streng; später werden Sie ihr aber durch mich schreiben können«, flüsterte er ihm ins Ohr, nach der Tür schielend. »Alles wird schon gut werden, Durchlaucht: Auch in den Kasematten leben Menschen. Lassen Sie nur nicht den Mut sinken und verzagen Sie nicht. Gott schütze Sie!« Er hob die Hand, um ihm den Priestersegen zu erteilen, überlegte es sich aber, umarmte ihn noch einmal und ging hinaus.

Golizyn glaubte schon halb, daß ihn keine Folter und keine Todesstrafe erwarte; er freute sich, aber die gestrige wolkenlose Freude – ›Im Rachen des Tieres ist es wie im Busen Christi‹ – hatte sich getrübt, war gleichsam entweiht. Er begriff, daß es etwas Schlimmeres geben könne als die Folter und die Todesstrafe. Mag P. Pjotr der einfältigste und gutmütigste Pope sein, für Golizyn ist er aber gefährlicher als alle Spione und Spitzel.

Der Feuerwerker Schibajew brachte ihm das Mittagessen: Kohlsuppe und Brei. Das Fastenöl, mit dem der Brei zubereitet war, roch so abscheulich, daß Golizyn, nachdem er einen Löffel voll in den Mund genommen hatte, es nicht herunterschlucken konnte und wieder ausspie. Er bekam weder Messer noch Gabel, nur einen hölzernen Löffel. ›Nichts Scharfes, damit man sich nichts antun könne‹, kombinierte er.

Nach dem Essen brachte ihm der Platz-Adjutant Trussow, ein junger Mann mit hübschem und frechem Gesicht, ein Paket Tabak und eine elegante, perlgeschmückte Pfeife.

»Wollen Sie nicht rauchen?«

»Ich danke Ihnen. Ich rauche nicht.«

»Gehört denn dies Rauchzeug nicht Ihnen?«

»Nein.«

»Entschuldigen Sie!« sagte Trussow lächelnd, und sein Gesicht wurde bei diesem Lächeln noch frecher. Er machte eine höfliche Verbeugung und ging.

›Die Versuchung durch die Pfeife nach der Versuchung durch den Leib und das Blut des Herrn‹, sagte sich Golizyn angeekelt.

Als es dunkel geworden war und man das Nachtlämpchen angezündet hatte, begannen die Schaben an den Wänden mit einem kaum hörbaren Rascheln zu wimmeln.

Die obere Scheibe im Fenster war nicht übertüncht; er sah durch sie ein schmales schwarzes Stückchen Himmel und einen Stern.

Golizyn dachte an Marinjka. Um nicht allzu melancholisch zu werden, bemühte er sich, an etwas anderes zu denken: Wie er sich wohl mit Obolenskij verständigen könne.

Er setzte sich auf das Bett, klopfte mit dem Finger und drückte das Ohr an die Wand. Lange klopfte er so, ohne eine Antwort zu bekommen. Die Mauer war sehr dick, und das Klopfen mit dem Finger drang nicht durch. Er fand die entsprechende Stellung und klopfte leise mit der Eisenstange, die seine Handschellen verband; er bekam sofort Antwort und klopfte vor Freude, ohne an den Wachtposten im Korridor zu denken, so laut er konnte.

Der Gefreite Nitschiporenko mit dem roten Säufergesicht trat in die Zelle.

»Was hast du, du Hundesohn? Willst du vielleicht den Sack kosten?«

»Was für einen Sack?« fragte Golizyn neugierig; die Grobheit hatte ihn nicht beleidigt, sondern nur in Erstaunen gesetzt.

»Wenn man dich hineinsetzt, wirst du es schon sehen«, brummte jener und fügte im Weggehen so überzeugend hinzu, daß Golizyn merkte, daß es kein Spaß sei: »Du kannst auch ausgepeitscht werden!«

Er legte sich aufs Bett, kehrte das Gesicht zur Wand, stellte sich schlafend und wartete ab, bis alles wieder still wurde, dann fing er wieder an, mit dem Finger an die Wand zu klopfen. Obolenskij antwortete.

Anfangs klopften sie, ohne zu zählen, gierig, unaufhaltsam, nur um eine Antwort zu hören. Die Seele fühlte sich durch die Mauer hindurch von der andern Seele angezogen: Herz und Herz schlugen im gleichen Takt: ›Du?‹ – ›Ich!‹ – ›Du?‹ – ›Ich!‹ Zuweilen hämmerte das Blut so laut in den Schläfen, daß er die Antwort überhörte und schon fürchtete, es werde keine kommen. Aber er bekam doch Antwort.

Dann fingen sie an, die Schläge zu zählen, bald zu beschleunigen und bald zu verlangsamen: Sie versuchten, ein Klopfalphabet herzustellen. Sie verzählten sich, machten Fehler, verzweifelten, gaben das Klopfen auf und fingen von neuem an.

Golizyn schlief mitten im Klopfen ein und träumte die ganze Nacht, daß er klopfe.

Die Tage glichen so sehr einander, daß er aus der Zeitrechnung kam. Er knetete Brotkrumen zu Kügelchen zusammen und klebte sie nebeneinander an die Wand: Jedes Kügelchen bedeutete einen Tag.

Er empfand fast keine Langweile: Er hatte eine Menge kleiner Beschäftigungen. Er lernte, in den Fußschellen zu gehen. Er drehte sich in der engen Zelle wie ein Tier im Käfig, sich an der Stuhllehne festhaltend, um nicht hinzufallen.

Marinjkas einziges Taschentuch diente ihm noch immer als Kissenüberzug. Er schonte es. Er lernte, sich mit den Fingern zu schneuzen; anfangs war es ihm widerlich, dann gewöhnte er sich daran. Er merkte, als er sich des Morgens schneuzte oder den Schleim ausspie, daß es in seiner Nase und seinem Munde schwarz vor Ruß war. Das Lämpchen blakte, weil der Docht zu dick war. Er zog ihn heraus und zerteilte ihn in einzelne Fasern; das Blaken hörte auf, und die Luft wurde reiner.

Er schlief in den Kleidern: Er hatte noch immer nicht gelernt, sich in den Fesseln zu entkleiden. Die Wäsche war schmutzig geworden, die Flöhe fraßen ihn auf. Er konnte sich zwar durch Myslowskij reine Wäsche von zu Hause kommen lassen, aber er wollte ihm für nichts verpflichtet sein. Lange litt er so; endlich empörte er sich und verlangte von Poduschkin reine Wäsche. Man brachte ihm eine schlecht gewaschene, nicht ganz trockene Soldatenunterhose und ein Hemd aus grober Packleinwand. Er zog die Wäsche mit Genuß an.

Einmal hatte der Ofen geraucht. Man öffnete die Türe seiner Zelle. Ein eigentümliches Gefühl überkam Golizyn: Die Tür ist offen, aber er darf nicht hinaus, es ist eine undurchdringliche Leere. Anfangs war es nur sonderbar, dann aber schwer und unerträglich. Er freute sich, als die Tür wieder geschlossen wurde.

Mit Obolenskij tauschte er Lebenszeichen aus, aber sie konnten einander noch immer nicht verstehen, es gelang ihnen nicht, ein Alphabet zu finden. Sie klopften fast hoffnungslos. Die Finger schwollen an, die Nägel schmerzten. Die lebendig Begrabenen klopften mit den Köpfen gegen die Wandungen des Sarges. Schließlich sahen sie ein, daß daraus nichts werden würde, wenn sie nicht ein geschriebenes Alphabet austauschten.

Im Fenster Golizyns war ein blecherner Ventilator. Er brach einen der Blechflügel heraus und wetzte ihn am Ziegelstein, der an einer Stelle vom Verputz entblößt war. Mit diesem Messer schnitt er vom Bettfuße ein dünnes Spänchen ab. Er nahm Ruß vom Lampendocht, löste ihn in etwas Wasser in einer Vertiefung im Fensterbrett auf, tauchte den Span ein und schrieb auf die Wand das Alphabet: die Buchstaben waren in einer Tabelle angeordnet, und bei jedem stand die Zahl der Schläge; die kurzen bezeichnete er durch Punkte und die langen durch Striche. Er schrieb das gleiche Alphabet auf den Papierfetzen, mit dem das Loch in seinem Brillenfutteral verstopft war, ab, um es Obolenskij zu übermitteln.

Der Invalide brachte ihm jeden Morgen eine irdene Waschschüssel und einen Zinnkrug mit Wasser. Golizyn konnte sich nicht selbst waschen: Die Handschellen hinderten ihn daran. Der Soldat seifte ihm die Hände ein und übergoß sie dann mit Wasser.

Einmal brachte er ihm ein kleines Stückchen Spiegel. Als er hineinblickte, erkannte er sich nicht und erschrak: So mager war er geworden, ein Bart war ihm gewachsen: Er war nicht mehr der Fürst Golizyn, sondern der ›Sträfling Michailow‹.

Er sprach den Soldaten niemals an, und auch jener schwieg hartnäckig und schien taubstumm. Einmal fing er aber von selbst zu sprechen an:

»Euer Wohlgeboren, kommen Sie bitte etwas näher her, zum Ofen, hier ist es wärmer«, flüsterte er ihm zu. Dann trug er den Schemel mit dem Waschwasser in die entfernte Ecke am Ofen, die das Auge des Wachtposten nicht erreichen konnte, und sah Golizyn lange und mitleidsvoll an.

»Es ist wohl schwer in der Kasematte? Was soll man machen, Gott will es wohl so. Man muß dulden, Euer Wohlgeboren. Gott liebt die Geduldigen, mit der Zeit wird er sich vielleicht auch erbarmen.«

Golizyn sah ihn an: Das Gesicht derb, nichtssagend, grau wie das Tuch seines Soldatenmantels, aber in den kleinen kurzsichtigen Augen eine solche Güte, daß er sich wunderte: Wie hatte er sie nicht schon früher bemerkt?

Er zog das Papier mit dem Alphabet aus der Tasche.

»Kannst du das Obolenskij bringen?«

»Vielleicht wird es gehen.«

Kaum hatte ihm Golizyn den Zettel zugesteckt, als der Platz-Major Poduschkin und der Gefreite Nitschiporenko in die Zelle traten. Sie untersuchten den Ofen – er hatte wieder geraucht – und gingen, ohne etwas bemerkt zu haben.

»Beinahe wären wir hereingefallen«, flüsterte Golizyn ganz blaß vor Schreck.

»Gott war uns gnädig«, versetzte der Soldat einfach.

»Hättest du was abbekommen?«

»Für so was muß unsereins Spießruten laufen.«

»Du fällst noch herein, gib mir den Zettel wieder.«

»Keine Bange, Euer Wohlgeboren, ich werde ihn sicher abliefern.«

Golizyn fühlte, daß er ihm nicht danken durfte.

Der Soldat sah ihn wieder lange und mitleidsvoll an.

»Ich bin ein toter Mensch, Euer Wohlgeboren!« sagte er mit einem stillen, wirklich toten Lächeln.

Golizyn wollte weinen. Es war ihm, als verstünde er zum ersten Mal im Leben die Parabel vom barmherzigen Samariter, die Antwort auf die Frage: Wer ist mein Nächster?

In der gleichen Nacht unterhielt er sich schon mit Obolenskij.

»Guten Abend!« klopfte Golizyn.

»Guten Abend!« antwortete Obolenskij. »Bist du wieder gesund?«

»Ja, aber in Ketten.«

»Ich weine!«

»Weine nicht, alles ist gut«, antwortete Golizyn und weinte vor Glück.

Anmerkungen des Übersetzers

Inhaltsverzeichnis

Alexander II (1818-81), ältester Sohn Nikolais I., Großfürst und ab 1855 Kaiser. War liberal und hob u. a. die Leibeigenschaft auf. Fiel als Opfer eines Bombenattentats. Anm. d. Übers.

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

»Die Erde lieben ist Sünde, man muß das Himmlische lieben. Ich kann es aber nicht, – mehr als alles auf der Welt liebe ich unser Gut Tscherjomuschki! Solange ich da lebte, wußte ich es nicht. Kaum bin ich aber von dort fort, als ich es zu lieben anfing und mich danach so sehne, daß ich vor Sehnsucht sterben könnte.«

»Lieben Sie Ihre Erde wie etwas Lebendiges, Marja Pawlowna?«

»Natürlich ist sie lebendig! Wenn ich ins Gehölz komme, stehen die jungen Birken wie dünne Wachskerzen da, ihre Haut ist so warm, weich, von der Sonne durchwärmt, ganz wie lebendig. Ich umarme sie, schmiege meine Wange an sie, liebkose sie: mein liebes trautes Schwesterchen!«

Im bläulichen Scheine der Winterdämmerung, der ganz schwach durch das vereiste Fensterchen des Reiseschlittens drang, betrachtete Fürst Valerian Michailowitsch Golizyn Golizyn1 das liebliche Gesicht des jungen Mädchens und dachte bei sich: ›Bist selbst wie eine Birke im Frühling!‹

Marja Pawlowna sah ganz wie ein gewöhnliches Provinzfräulein aus, wie eines, von denen es heißt:

Geteilt sind ihre Mußestunden
Zwischen Klavier und Stickerei.

Sie ist gekleidet nach dem Modebild im ›Telegraph‹; sie trägt einen mit dauerhaftem dunkelgrünem Gros-de-Tours aus Großmutters Zeiten gedeckten Pelzmantel und einen Kapotthut mit rosa Bändern; der dicke schwarze Zopf ist zu einem Körbchen geflochten, aus dem leichte Locken auf die Wange herabfallen; dazu trägt sie altertümliche Granatohrringe, wahrscheinlich auch ein Geschenk der Großmutter. Ist gut erzogen und spricht französisch. Dabei hat sie das Gesicht eines Dorfmädels, das auf einer Bank vor dem Tore sitzt, ein gelbes Kopftuch mit roten Tupfen aufhat, mit den Burschen scherzt und Sonnenblumenkerne knackt.

Vielleicht liebt sie noch niemand, aber sie ist vom Dufte der Liebe umhaucht wie blühender Flieder von der Frische des Taues. Und alle fühlen es: die Postmeister, die an den Schlagbäumen stehenden Invaliden, die dickbäuchigen Kaufleute, die im Schweiße ihres Angesichts Tee trinken, die Postkutscher mit den roten Gesichtern, – alle denken sich beim Anblick Marja Pawlownas: ›Ach, ist das ein nettes Mädel!‹

Golizyn machte auf der Reise von Wassiljkow nach Petersburg Station in Moskau, um das Mitglied der Geheimen Gesellschaft Iwan Iwanowitsch Puschtschin Puschtschin2 zu besuchen. Puschtschin diente am Strafsenat des Moskauer Hofgerichts und wohnte bei seiner Tante, einer vornehmen Dame aus der guten alten Zeit, im Pfarrbezirk von Pjatniza-Boschedomskaja, in der Alten Konjuschennaja-Straße. In diesem Hause war auch auf der Reise nach Petersburg eine entfernte Verwandte der Puschtschins, die Sserpuchower Gutsbesitzerin Nina Ljwowna Tolytschowa, mit ihrer neunzehnjährigen Tochter Marja Pawlowna abgestiegen. Golizyn hatte sich auf Puschtschins Bitte bereit erklärt, die Damen zu begleiten.

Um jene Zeit fing zwischen Petersburg und Moskau gerade die Postdiligence an zu verkehren; es war ein niedriges, langgestrecktes, mit Leder überzogenes Fuhrwerk mit zwei kleinen Fensterchen, das eine vorn, das andere hinten. Liegen konnte man darin nicht: Die vier durch eine Scheidewand voneinander getrennten Fahrgäste saßen mit den Rücken zueinander und blickten zwei nach vorn und zwei nach hinten. Da man in den früheren Reisewagen bequem liegen konnte, nannten die Postkutscher diese neue Erfindung ›Neleschanze‹.3 Golizyn fuhr nun mit den beiden Damen und deren leibeigenem Dienstmädchen Palaschka in einer solchen ›Neleschance‹.

Frau Tolytschowa, die aus einer begüterten Familie stammte, war gewohnt, nicht anders zu reisen als nach adliger Sitte mit eigenen Pferden, recht gemächlich, mit einer kleinen Küche, mit großem Gepäck und vielen leibeigenen Dienstboten. Die Postdiligencen fürchtete sie als eine unerhörte Neueinführung und freute sich über den verläßlichen Reisebegleiter.

Sie erzählte ihm sofort ihre ganze Geschichte. Ihre Erziehung hatte sie im Smolnyj-Institut genossen. Sie heiratete fast direkt aus dem Institut und lebte mit ihrem Manne knapp fünfundzwanzig Jahre. Pawel Pawlowitsch Tolytschow hatte in der Armee gedient; im italienischen Feldzuge wurde er von Ssuworow zum Leutnant befördert; im Jahre 1812 wurde er verwundet und mit dem Range eines Oberstleutnants verabschiedet. Er war ein Mann von großem Verstande und sogar Schriftsteller: Im ›Ziosboten‹ wurde ein Artikel von ihm veröffentlicht; mit dem Herrn Labsin4 war er befreundet gewesen, und als man diesen wegen seiner Freigeistigkeit verschickte, hätte man beinahe auch Pawel Pawlowitsch erwischt. Er litt Verfolgungen, denn er liebte die Wahrheit und klagte die bösen Menschen – die bestechlichen Beamten und die grausamen Gutsbesitzer – an. Er erklärte selbst dem Bischof, daß es keine Leibeigenen geben dürfe, weder Herren noch Knechte. Seine eigenen Bauern wollte er freilassen, aber die Obrigkeit erlaubte es ihm nicht. Man erklärte ihn für einen Freimaurer, Gottlosen und Aufrührer. Der Gouverneur wollte ihn ins Gefängnis sperren. Pawel Pawlowitsch wurde vor vielem Kummer krank und starb eines plötzlichen Todes. Nina Ljwowna blieb mit dem kleinen Töchterchen mutterseelenallein. Drei Kinder hatte sie bei Lebzeiten des Mannes verloren; Marinjka war ihr letztes. Die Gutswirtschaft war zerrüttet; die Bauern, diese Sklavenseelen, gerieten, als sie die Güte des verstorbenen Herrn sahen, dessen edle Gefühle sie nicht verstanden, außer Rand und Band; die Hälfte war davongelaufen, die andere Hälfte soff; sie zahlten weder den Zins noch die Kopfsteuer. Frau Tolytschowa selbst verstand nichts von der Wirtschaft; die Damen ihrer Bekanntschaft machten sich über sie lustig, weil sie ihre Leute niemals schlug: Sie fürchtet wohl, ihre Hand an den Wangen eines Leibeigenen zu beschmutzen. Der Verwalter ist aber ein Gauner. Das Gut ist beim Vormundschaftsgericht verpfändet, die Schuld beträgt fünfundzwanzigtausend Rubel, die Zinsen kann sie aber nicht bezahlen; wenn man das Gut verkauft, muß sie betteln gehen.

Aber der Herr selbst erbarmte sich der armen Waisen und schickte ihnen einen guten Menschen. Nach Sserpuchow kam aus Petersburg auf Besuch zu seinen Verwandten der Staatsrat Porfirij Nikodimytsch Aquilonow, Beamter im Departement für auswärtigen Handel; er sah auf einem Ball im Provinzklub Marinjka und war so bezaubert, daß er nach einigen Tagen den Antrag machte! Ein nicht mehr junger Mann von über fünfzig Jahren, aber respektabel, von bester Gesinnung, angesehen bei den Vorgesetzten und, wie man sagt, mit einem großen Vermögen. In Marinjka ist er sterblich verliebt. »Wenn Sie mich durch Ihre Einwilligung beglücken«, sagte er, »so werde ich kein Opfer scheuen, um Ihre Tochter glücklich zu machen: Ich nehme meinen Abschied, übernehme die Bewirtschaftung von Tscherjomuschki und bringe Ihre Verhältnisse in Ordnung.« Marinjka sagte nicht nein, erbat sich aber Bedenkzeit. Nina Ljwowna will ihre Tochter nicht zwingen: Sie versteht selbst, daß ein so junges Ding nach Liebe, nach einem Herzensbunde strebt. Porfirij Nikodimytsch paßt aber gar nicht zu ihr, er könnte ihr Vater sein. So war nun ein Jahr vergangen, sie überlegte es sich noch immer, und schließlich kam ein Brief vom Herrn Aquilonow: Er bittet respektvollst, über sein Schicksal zu beschließen und, falls es noch eine, wenn auch geringe Hoffnung gibt, zu einer persönlichen Aussprache nach Petersburg zu kommen; Nina Ljwowna mußte auch selbst in eigenen dringenden Geschäften hin, da sie mit den Zinsen für das Gut im Rückstand war: Wie leicht konnte man das Gut mit Beschlag belegen und öffentlich versteigern.

Sie hatten noch die Hoffnung auf die entfernte Großtante Natalja Kirillowna Rschewskaja. Die Alte war reich, aber geizig und launisch. Sie hatte sich darauf versteift, daß sie ihr Gut verkaufen und zu ihr nach Petersburg ziehen, und wollte nicht nachgeben. »Sonst kriegt ihr von mir keinen Dreier.« Marinjka will aber davon nichts hören. »Lieber heirate ich schon den Aquilonow, werde aber Tscherjomuschki nicht verlassen. Hier bin ich geboren, hier will ich auch sterben.«

Als Nina Ljwowna mit diesem Bericht zu Ende war, brach sie in Tränen aus: So sehr sie den Freier lobte, die Tochter tat ihr doch leid.

Golizyn saß in seiner Abteilung nachts mit der Palaschka, und bei Tage mit Nina Ljwowna. Aber am zweiten Tag bekam sie Kopfschmerzen; damit sie sich ein wenig hinlegen könne, setzte man die Palaschka auf den Bock zum Kutscher, und Marja Pawlowna siedelte zu Golizyn über.

Die Neleschance kroch wie eine Schildkröte. Der Schlittenweg war noch nicht gut; es gab wenig Schnee, und die Kufen knirschten auf den nackten Steinen; der Wagen rüttelte ordentlich. Hinter der Scheidewand atmete schlaftrunken Nina Ljwowna. Das Glöckchen bimmelte einschläfernd. Im eingefrorenen Fensterchen verdichtete sich das bläuliche Dämmerlicht; es glich dem Licht, das man im Traume sieht. Und den beiden war es, als träumten sie einen uralten, oft gesehenen Traum.

»Mir scheint immer, daß ich Sie schon mal gesehen habe, Marja Pawlowna. Ich kann mich nur nicht erinnern, wann,« sagte Golizyn, noch immer das liebliche Gesicht des jungen Mädchens betrachtend.

»Auch ich ...« begann sie und kam nicht weiter.

»Was denn?«

»Nein, es ist nichts. Dummheiten.« Sie wandte sich weg und errötete. Sie errötete überhaupt leicht, heftig und plötzlich, über das ganze Gesicht, wie ein kleines Mädchen, und dann war sie noch hübscher. Sie beugte sich zum Fenster vor und fuhr mit ihrem feinen rosigen Fingerchen über die Eisblumen.

Sie betrachtete Golizyn verstohlen, doch aufmerksam, und sein Gesicht veränderte sich seltsam in ihren Augen; er hatte gleichsam zwei Gesichter: bald ein trockenes, hartes, galliges, mit einer bösen, ewig höhnenden Falte um den Mund, mit einem durchdringend klugen und schweren Blick unter den blindfunkelnden Brillengläsern hervor – sie liebte die Brille nicht und glaubte, daß nur Greise und gelehrte Deutsche Brillen tragen, – ein ihr fremdes, beinahe schreckliches Gesicht; und dann wieder plötzlich ein einfaches, kindliches, liebes und so unglückliches, daß ihr Herz sich zusammenkrampfte, als ahnte es ein Unheil, eine Todesgefahr, die diesem Menschen drohte. Aber das alles fühlte sie so dunkel und verschwommen wie in einem ahnungsvollen Traume.

»Ich habe ja vor Ihnen ein wenig Angst«, sagte sie, ihn noch immer verstohlen, doch aufmerksam musternd. »Wer weiß, vielleicht sind Sie auch so ein Spötter wie Iwan Iwanowitsch Puschtschin!«

»Puschtschin ist ein seelenguter Mensch, und man braucht vor ihm keine Angst zu haben. Auch vor mir nicht.«

»Sind Sie auch ein guter Mensch?«

»Und wie glauben Sie, Marinjka ... Marja Pawlowna?«

»Es tut nichts! Alle nennen mich Marinjka. Den Namen Marja Pawlowna mag ich auch selbst nicht.« Sie blickte ihm gerade in die Augen und lächelte; auch er lächelte. Sie sahen einander an, lächelten stumm, und beide fühlten, wie dieses Lächeln sie einer unaufhaltsam anwachsenden Vertrautheit nahebrachte, einer etwas schwindelnden und freudigen Vertrautheit, als erkennten sie einander und besännen sich aufeinander nach einer langen, langen Trennung.

Plötzlich wandte sie sich wieder weg, errötete und schlug die Augen nieder. Aber er fing noch den durch die langen Wimpern verschämt leuchtenden liebkosenden Blick auf, der vielleicht gar nicht ihm galt, sondern niemand bestimmtem und allen: So liebkost auch der Sonnenstrahl alles, was er trifft.

»Sie müssen mich schon entschuldigen, Fürst«, sagte sie, noch immer mit gesenkten Augen. »Ich bin furchtbar scheu und wild. Ich lebte ja immer allein in Tscherjomuschki und bin darum verwildert. Habe verlernt, mit Menschen zu sprechen. Ich fürchte mich vor allem.«

»Es lohnt sich nicht, die Menschen zu fürchten, Marinjka. Die Menschen fürchten, heißt: sie verziehen.«

»Ich fürchte ja nicht die Menschen, sondern ich weiß selbst nicht, was. In Tscherjomuschki fürchtete ich nichts, dort war ich tapfer, kaum bin ich aber von dort fort, als mir alles so fremd und schrecklich vorkommt. Als ich klein war, pflegte die Kinderfrau, nachdem sie mich zu Bett gebracht und bekreuzigt und den Vorhang zugezogen hatte, zu sagen: »Schlaf, Kindchen, mit Gott! Schlaf, schlaf, am Bettchen steht ein Schaf, öffne aber die Äuglein nicht und schau nicht durch die Vorhänge, sonst holt dich das Cho – da liegt es unter dem Bettchen.« Später dachte ich mir, daß nicht nur unter dem Bettchen sondern überall das ›Cho‹ liege. Das ganze Leben ist Cho ....«

»Suchen Sie es zu bannen, dann wird es Sie nicht anrühren.«

»Wie kann man es bannen?«

»Wissen Sie es denn nicht?«

»Ich weiß es nicht .... Nein, ich weiß wirklich nicht«, sagte sie langsam, wie nachdenklich den Kopf schüttelnd, und die langen Locken an den Schläfen schwankten wie zwei leichte Trauben. Der Wagen fuhr in diesem Augenblick über einen hartgefrorenen Schneehaufen und rüttelte, ihre beiden Gesichter kamen einander unwillkürlich nahe, und eine zarte Locke berührte sein Gesicht wie ein brennender Kuß.

»Und Sie wissen es? Sagen Sie es doch!«

»Ich darf es nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil jeder es selbst wissen muß. Auch Sie werden es einmal erfahren.«

»Wann denn?«

»Wenn Sie jemand lieben werden.«

»Ach so, die Liebe!« sagte sie und schüttelte wieder zweifelnd den Kopf. »Man sagt aber, es gäbe gar keine wahre Liebe, sondern nur Treulosigkeit und Tücke!«

»Wer sagt das?«

»Alle!«

Le plus charmant amour
Est celui, qui commence et finit en un jour

Das hat mir neulich Puschtschin gesagt. Auch Tantchen sagt: ›Ach, Marinjka, du weißt noch gar nicht, was die Liebe für ein Vogel ist: Kaum kommt sie geflogen, so fliegt sie schon gleich wieder weg.‹ Auch die Großmutter ....«

»Wieviel Tanten und Großmütter haben Sie doch!«

»Ja, furchtbar viel.«

»Und Sie glauben ihnen allen?«

»Aber natürlich!«

Sie hatte die Gewohnheit, diese beiden Worte »Aber natürlich« bei jeder Gelegenheit zu gebrauchen, und machte es so reizend, daß er immer darauf wartete, daß sie sie wieder sage.

»Wie soll man ihnen nicht glauben? Man muß doch den Älteren glauben. Ich selbst bin ja ein dummes Gänschen, also glaube ich den klugen Menschen. Ich bestehe ganz aus fremden Worten, wie eine Bettdecke aus bunten Flicken.«

»Wer hält sich aber unter der Bettdecke verborgen?« fragte er lächelnd.

»Nun, raten Sie mal, wer!« Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn mit krauser Stirne, mit einem schelmisch neckenden Lächeln an. Und wieder leuchtete der Sonnenstrahl auf, der alles liebkost, was er trifft.

Sie schwieg eine Weile, seufzte und ihr Gesicht wurde von einem gar nicht kindlichen Gedanken verdüstert.

»Ja, so ist es, Fürst. Die Liebe fliegt davon, und das ›Cho‹ bleibt zurück: Es hat ja keine Flügel und kann nur kriechen wie ein Wurm oder wie eine große, abscheuliche, schreckliche Spinne.«

Beide verstummten und fühlten, wie das Schweigen sie unaufhaltsam näher brachte.

»Nun, gut«, sagte Golizyn, »sollen die Großmütter und die Tanten sagen, was ihnen beliebt. Wollen Sie auch selbst, daß die Liebe davonfliegt?«