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INA LANGE

LÄUFERIN
AUS
VERSEHEN

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Für Gerhard Lange,
den besten und inspirierendsten Läufer,
den ich kenne

Start

Das Runner’s High wird überbewertet! Bei dem Großteil der Läufe, die man absolviert, spielt es absolut keine Rolle und es geht vielmehr um das Überwinden des Runner’s Low. Die Hoffnung steht im Mittelpunkt.

Die Hoffnung, dass es nicht schlimmer wird, der Durst nicht größer, die Muskeln nicht schmerzhafter, die Erschöpfung nicht noch unerträglicher. So wird es zumindest in meinem mir bevorstehenden ersten Marathon sein.

Zum Glück ahne ich davon noch nichts, während ich aufgeregt im Startfeld darauf warte, dass es endlich losgeht. Die Minuten ziehen sich ewig in die Länge, und ich versuche, das Gefühl erneut aufs Klo zu müssen, mit positiven Suggestionen zu überdecken: »Du bist ruhig und relaxt. Atme tief ein und aus. Spüre die Atmosphäre. Du nimmst deine Umgebung wahr, die Farben, die Anspannung, die in der Luft liegt. Du hörst, wie sich die anderen Glück wünschen und ruhst in dir selbst. Du bist fokussiert und relaxt.«

All das versuche ich mir einzureden, auch wenn ich mir etwas dämlich dabei vorkomme. Doch niemand kann meine Gedanken hören, die ich mir mithilfe eines Mentaltrainingprogramms auf meinem iPod beigebracht habe und drei Stunden zuvor, als ich bereits hellwach im Bett lag und auf das Klingeln des Weckers wartete, zum letzten Mal angehört habe.

»Dein erster Marathon?«, reißt mich eine junge Frau neben mir, sympathisch strahlend, in die Realität zurück. Ihrer Startnummer entnehme ich, dass sie Halbmarathon laufen wird, wie die meisten um mich herum.

»Ja.«

»Oh, wow, ich weiß nicht, wie man das schaffen soll. Ich meine, ich laufe heute meinen ersten Halbmarathon, und das finde ich schon verdammt weit.«

Ich zwinge ein höfliches Lächeln auf meine Lippen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist die Vorstellung, wie verdammt weit 42,195 Kilometer sind.

Ich atme tief ein und aus. »Du bist ruhig und relaxt.«

»Wenn ihr aufgeben müsst, ist es zwar schade, aber nicht so schlimm! Wir werden hier auf euch warten!«, verkündet die Moderatorin über die Lautsprecher und klingt dabei unglaublich fröhlich und gut gelaunt. Ein Schauer jagt mir über den Rücken und lässt mich zusammenzucken. Ich muss dieses abscheuliche Wort sofort wieder aus meinem Gedächtnis verbannen, denn es zu hören, löst bereits Unbehagen in mir aus: AUFGEBEN.

»Wie kann sie so was nur fünf Minuten vor dem Start sagen?«, ärgere ich mich, »niemand sollte jetzt ans Aufgeben denken! Was fällt ihr nur ein? Und außerdem, was soll das heißen: ›Wir werden hier auf euch warten‹? Warum sollte man hierher kommen, wenn man aufgibt? Was redet die für einen Blödsinn? Okay, beruhig dich, Ina, du bist ruhig und – «

»Huhu!?«, vernehme ich auf einmal rechts von mir bekannte Stimmen, die zusätzlich mit einem Rütteln am Absperrgitter auf sich aufmerksam machen. Anton, meine bessere Hälfte, und meine Freundinnen Mia und Nora winken mir enthusiastisch zu, und ich quetsche mich durch die Masse, um zu ihnen durchzukommen.

»Haben wir dich noch gefunden in dem Chaos! Viel Glück!« Mia strahlt, während Anton offensichtlich gerade dabei ist, meinem Vater am Telefon unsere Position durchzugeben. »Direkt beim Gitter, auf Höhe des roten Ballons«, schreit er gegen die lauten Stimmen an.

»Ruhig und relaxt«, denke ich, mein Puls verrät jedoch, dass das wenig bringt.

»In deinem Startblock sind ja fast nur Halbmarathonläufer«, bemerkt Nora.

»Ja, ich weiß. Ich muss aufpassen, dass ich nicht versuche, mit ihnen mitzuhalten.«

»An was wirst du die nächsten vier Stunden denken?«, fragt sie, während Anton laut brüllt: »Bei der Ampel? Ich seh dich nicht!«

»Vielleicht stehen sie auf der anderen Seite?«, frage ich Anton und antworte Nora dann: »Ans Laufen!«, was jedoch nur Unverständnis hervorruft.

»Wenn ich Zeit habe, an was anderes zu denken, laufe ich zu langsam«, erkläre ich lachend.

»Er steht da drüben!«, verkündet Anton nun, und ich sehe ich den Oberkörper meines Vaters, der sich über die Menge erhebt, weil er offensichtlich auf irgendetwas draufsteht. Mit einer Hand hält er sich an einem Pfahl fest, während die andere hin- und herwedelt. Um seinen Hals baumelt die große Spiegelreflexkamera, für die er sich zuvor nach der besten Einstellung für Sportaufnahmen erkundigt hat.

»Ich seh ihn!«, rufe ich aufgeregt, »ich geh rüber!«

»Sie kommt zu euch!«, sagt Anton ins Telefon und legt auf.

»Viel Erfolg, Schatz!« Schnell gibt er mir noch einen Kuss durchs Absperrgitter hindurch.

»Hurra! Lauf, so schnell du kannst!«, kommt von der aufgeregt hüpfenden Mia, und Nora wünscht mir alles Gute.

»In einer Minute geht’s los«, wird durchgesagt, und ich zwänge mich an den zahlreichen Läuferinnen und Läufern vorbei auf die andere Seite.

»Sorry. Tschuldigung. Dürfte ich? Danke. Oops, tut mir leid.« Ich mache mich nicht gerade beliebt.

»Und jetzt kommt auch die Sonne raus. Besser hätten wir es gar nicht planen können«, tönt es aus den Lautsprechern.

Tatsächlich wird die Szenerie plötzlich erhellt, doch ich bin noch immer dabei, mir meinen Weg durch das Startfeld zu bahnen und gleichzeitig meinen Vater mit Winken und Rufen auf mich aufmerksam zu machen. Obwohl ich extra das grellste Lauf-T-Shirt angezogen habe, das ich besitze, ohne Erfolg.

»Hier! Dad!« Spätestens jetzt wissen alle: Ja, dies ist mein erster Marathon.

»10 – 9 – 8«, wird der Countdown bereits runtergezählt, und statt wie geplant ruhig und relaxt auf den Start zu warten, bin ich hyperaktiv wie ein aufgedrehtes Duracell-Häschen.

»7 – 6 – 5 – «

»Das gibt’s doch nicht, er muss mich doch sehen!«, sage ich laut und endlich trifft sein Blick meinen. Reflexartig greift er zur Kamera und drückt ab.

»3 – 2 – 1!«

Der Startschuss ertönt und wenige Sekunden später setzt sich das Feld langsam in Bewegung. Nach zehn Metern laufe ich direkt an meinen Eltern vorbei und sehe nun auch meine Mutter, in deren Augen fast so viel Aufregung zu erkennen ist wie in meinen.

»Toi, toi, toi!«, ruft sie mir zu und hält mir daumendrückend ihre geballten Hände entgegen. Mein Vater schießt ein Foto nach dem anderen und ruft mir aufbauende Worte zu.

Wenige Meter danach überlaufe ich die piepsende Zeitnehmungsmatte und damit die offizielle Startlinie. Mein erster Marathon beginnt.

Kein Anfang

»3:56 Minuten« stand auf dem Plakat und daneben der Name eines Mädchens, das ich nicht kannte. 3 Minuten, 56 Sekunden lautete der Schulrekord über 1.000 Meter bei den Mädchen der 7. Klasse eines Gymnasiums im norddeutschen Schwerin. Exakt sieben Sekunden mehr hatte ich am Tag zuvor im Sportunterricht benötigt, und ich stellte mir bereits vor, wie gut sich mein Name auf diesem großen hellblauen Plakat machen würde, das schön gerahmt im Schulgang zwischen Informatikraum und Mädchentoiletten hing. Mit zwölf Jahren hatte ich zwar keine Ahnung, wie viel sieben Sekunden sein können, aber ich war mir sicher, dass sie mich nicht davon abhalten würden, mich an dieser Stelle für die nachfolgenden Generationen zu verewigen.

Mein Selbstvertrauen war riesig, wenn es um Sport ging, denn ich steckte voller Energie und liebte es, sie rauszulassen.

Bereits als kleines Kind kletterte ich ständig irgendwo rauf, fiel runter, rannte herum und trug stets, zumindest meiner Erinnerung nach, ein unverkennbares Merkmal an meinem Körper: ein aufgeschlagenes Knie.

Meine Eltern sahen keinen Grund, diesen Bewegungsdrang einzuschränken, ganz im Gegenteil. Ich bekam nie Hausarrest oder wurde aus anderem Grund gezwungen, in der Wohnung zu bleiben, denn meine Mutter pflegte zu sagen, dass sie sich damit nur selbst bestrafe, weil ich unausstehlich würde. Eine andere Weisheit ihrerseits besagte, dass ich meine Grenzen schon kennenlernen und beim nächsten Mal vielleicht besser aufpassen würde.

Also tobte ich mich aus, bolzte mit den Jungs im Innenhof des typischen DDR-Plattenbaus, in dem wir wohnten, bis ich neun Jahre alt war, und verbrachte viel Zeit im Wald und im Garten meiner Großeltern. Ich war ein unbeschwertes, glückliches und meistens schmutziges Kind, obwohl oder gerade weil des Öfteren Blut an mir klebte.

Da ich Fußball liebte und meinem großen Bruder nacheiferte, versuchten meine Eltern, einen geeigneten Verein für mich zu finden, was sich allerdings als schwierig herausstellte. Einen siebenjährigen Jungen im Fußballverein unterzubringen, war kein Problem, bei einem wilden siebenjährigen Mädchen hingegen war das gar nicht so einfach, obwohl ich den Jungs in nichts nachstand. Doch die wollten lieber unter sich bleiben, weshalb ich schließlich in der einzigen Mädchenmannschaft Schwerins landete.

In der war ich jedoch nicht nur mit Abstand die kleinste, sondern auch die jüngste Spielerin, schließlich waren die anderen bereits Teenager, die zum Teil doppelt so alt waren wie ich. Eigentlich störte mich das nicht, aber ich fand es schade, dass die anderen Mädchen wenig Interesse hatten, mit mir zu reden, und ich immer Ausnahmen bekam, wenn es darum ging, wie weit wir laufen sollten. Ich sah keinen Grund, warum ich nicht das Gleiche leisten könnte wie die anderen. Und damit diese mich nicht übersahen, lernte ich schnell, wie ich mir mit den Stollen unter meinen Fußballschuhen Respekt verschaffen konnte. Ich liebte es, als Stürmerin über den Platz zu fegen, und war nicht zimperlich, weder mit mir selbst noch mit anderen.

Als wir zwei Jahre später den Plattenbau verließen, wie alle Familien, die es sich Jahre nach der Wende leisten konnten, war das Fußballtraining zu weit entfernt und ich wechselte in den Badmintonverein.

Fuß- und Federball haben zwar nur wenig gemeinsam, aber das Training fand in der Turnhalle meiner Schule statt, war also leicht in den Familienalltag zu integrieren, und sah lustig aus. War es auch – bis zu dem Zeitpunkt, als ich feststellte, dass es sich verdammt blöd anfühlt, die Schmach einer Niederlage allein statt in einem Team tragen zu müssen. Da das Erlernen einer neuen Sportart jedoch zwangsweise mit Verlieren zusammenhängt und ich einfach keine Liebe zum Badminton entwickelte, wechselte ich bald zum Handball. Bälle aus Leder lagen mir einfach mehr.

Im Schulsport gehörte ich meist zu den Besten, vertrat meine Schule bei regionalen Sportfesten im Schlagballweitwurf und Laufen und wurde immer als eine der Ersten in eine Mannschaft gewählt. Doch am liebsten hatte ich den 1.000-Meter-Lauf.

Für den mussten wir uns immer auf dem großen Sportplatz an einem bestimmten Punkt versammeln und die Ersten fingen bereits an, Ausreden zu suchen, noch bevor die Lehrerin verkündet hatte, was uns bevorstand. Doch es gab kein Entkommen, wenn 2,5 Runden Laufen auf dem Plan standen, und mein Gesicht war immer das Einzige, das vor Freude strahlte. Mit kurzen Distanzen wie 60 oder 100 Meter konnte man mich jagen, lange Strecken hingegen machten mir Spaß – leider brauchten wir im Jahr nur zwei Durchgänge für die Note.

»Ich will den Schulrekord brechen«, kündigte ich also vor dem zweiten und letzten 1.000-Meter-Lauf des Schuljahres 1999/2000 an, und ich hatte keine Zweifel, dass ich es schaffen würde, schließlich trennten mich nur sieben Sekunden davon.

Meine Lehrerin war zwar skeptisch, aber ermutigte mich, es zu probieren und mein Bestes zu geben. Sie wusste nicht, dass ich mir längst professionellen Rat von einer langjährigen Joggerin geholt hatte: Mama.

Der Tipp meiner Mutter lautete: langsam anfangen, damit ich am Ende noch Kraft für einen Schlusssprint habe. Mit dieser Strategie fühlte ich mich sicher, es konnte unmöglich etwas schiefgehen.

Nachdem das Startsignal gepfiffen wurde, lief ich langsam los, setzte mich, wie gewohnt, an die Spitze des Feldes und bemühte mich, meine Kräfte gut einzuteilen. Als ich ins Ziel kam, waren offensichtlich noch welche übrig, denn die Uhr verkündete mein schlechtestes Ergebnis: 4:22 Minuten.

Ich hatte nicht nur die Chance auf den Schulrekord verpasst, sondern auch noch dafür gesorgt, dass alle Mädchen mit schlechterer Zeit abschnitten, da sie sich an mir orientiert hatten.

Meine Enttäuschung war groß und in mir brach eine Welt zusammen. Das war’s, ich war einfach keine gute Läuferin und da ich immerhin schon zwölf war, gab ich auf.

Wenige Monate später war es mit der Chance, jemals einen Schulrekord aufzustellen, vorbei, denn meine Eltern und ich zogen um, und in der neuen Schule gab es so etwas nicht. Generell war dort alles anders, denn die Schule befand sich nicht nur in einer anderen Stadt, sondern in einem anderen Land: Österreich.

Der Grund für den Umzug war nicht mein verpatzter Rekordversuch, sondern das Angebot einer neuen Arbeitsstelle für meinen Vater. Der war in meiner Kindheit immer nach Hamburg gependelt und hatte somit fast ausschließlich am Wochenende Zeit für die Familie, was sich nun endlich ändern sollte.

Mein Bruder war bereits volljährig, ausgezogen und kurz davor, seine eigene Familie zu gründen, weshalb er in Schwerin blieb und wir den Weg ins Abenteuer nur zu dritt wagten.

Vom Norden Deutschlands ging es also in den Süden Österreichs, nach Klagenfurt am Wörthersee, wo wir eine kleine Wohnung bezogen.

Gerade 13 geworden, wusste ich so gut wie gar nichts über dieses Land. Ich ging davon aus, dass es überall so aussehen würde wie bei Heidi, mit hohen Bergen und Menschen in Dirndln und Lederhosen. Kultur und Art der Österreicherinnen und Österreicher waren mir fremd. Mein Vater hatte zwar vorher versucht, mich mit österreichischer Musik à la STS auf den Dialekt vorzubereiten, aber in Wirklichkeit gingen wir etwas ignorant und hochnäsig in dieses Unterfangen – ich zumindest.

Schon nach kurzer Zeit wurde mir bewusst, dass auch in Klagenfurt bereits ohne mein Zutun die Zivilisation Einzug gehalten hatte, inklusive Internet und Shopping-Center. Von der erwarteten Hinterwelt konnte gar keine Rede sein. Trotzdem war alles schrecklich anders und die österreichische Mentalität, die ich nicht verstand, sorgte dafür, dass ich mich einsam und fremd fühlte.

Die Realität, die mich in der Schule überrollte, verstärkte dies nur noch, denn bei den Gleichaltrigen handelte es sich bereits um pubertierende Jugendliche. Von einer glücklichen Kindheit als wildes, burschikoses Mädchen wurde ich von heut auf morgen in eine komplizierte, komplexbehaftete Teenagerwelt geworfen, in der Rapper Eminem die Vorherrschaft hatte statt Belville-Mädchen-Lego, an dem ich in meinem neuen Kinderzimmer bastelte. Es galt, ein paar Entwicklungssprünge aufzuholen und das möglichst schnell.

Die Mädchen in meiner neuen Klasse trugen zwar, anders als ich, noch immer Sachen aus der Kinderabteilung, da ihre kindlichen Körper zu dünn für XS waren, hatten jedoch seltsam anmutende Spinnenbeine anstelle von Wimpern, rasierten sich aus unerklärlichem Grund die Beine und kicherten ständig grundlos, wenn Jungs anwesend waren.

Mich verwirrte all das und ich fühlte mich verloren in einem Wirrwarr aus fremder Sprache (nicht nur die Wörter, auch die Grammatik ist in Kärnten nicht mit Hochdeutsch zu vergleichen) und fremder Kultur, in der es zum guten Ton gehört, Deutsche nachzuäffen und sich über sie lustig zu machen.

Mag sein, dass sich in Tourismusorten die Leute mit einem Grinsen begnügen, wenn Deutsche beim Einkaufen eine Tüte statt »ein Sackerl« verlangen. Wenn man jedoch in Betracht zieht, seinen Wohnort dauerhaft dorthin zu verlagern, muss man mit zahlreichen Schikanen rechnen, die man besser widerstandslos über sich ergehen lässt. In meinem Fall betraf das nicht nur Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern auch das Lehrpersonal, das nie verlegen war, den einen oder anderen Witz über Deutsche hervorzukramen, oder meine Art zu reden nachahmte, um sich beim Rest der Klasse beliebt zu machen.

Der Turnunterricht war ein Witz und bestand mehr aus Bewegung und Spiel als aus Sport. Die Zensuren wurden nach Anwesenheit vergeben, wobei man schon oft fehlen oder seine Tage haben musste, um eine Zwei zu bekommen. In der Schule wurde nie wieder von mir verlangt, 1.000 Meter zu laufen. Vielmehr verbrachten wir den Großteil der Zeit mit dem Spielen von Völkerball, wobei mich die Lehrerin des Öfteren ermahnte, den Ball nicht so fest zu werfen, da die anderen Angst hätten, ihn abzubekommen.

Als außerhalb des regulären Unterrichts ein Volleyballkurs ins Leben gerufen wurde, hoffte ich auf eine Chance, mich endlich wieder regelmäßig austoben zu können. Doch weit gefehlt, denn die rege Teilnahme lag in erster Linie an dem jungen, gut aussehenden Lehrer, der das Training organisierte und den sämtliche 13-jährigen Mädchen anhimmelten. Aufgrund dessen verirrten sich auch jene dorthin, die Sport hassten und Angst vor Bällen hatten. Doch nicht nur dadurch wurde mir die Freude vermiest. Ein Junge aus der Parallelklasse wählte mich am ersten Nachmittag mit den Worten: »Dann nehm ich halt die Dicke da« notgedrungen in seine Mannschaft.

Seine Worte waren ein Schlag ins Gesicht und zum ersten Mal war ich gezwungen, mich mit meiner körperlichen Erscheinung auseinanderzusetzen. Anschließend bemerkte er zwar: »Wow, du spielst ja richtig gut«, doch da war es bereits zu spät und ein unbedachter Satz hatte eine ganze Reihe an Gedanken in Gang gesetzt.

Vor Kurzem war ich noch ein beliebtes, sportliches Kind und plötzlich ein unbeliebter, unglücklicher, dicker Teenie.

Wenige Monate später begann ich zum ersten Mal, auf meine Ernährung zu achten, sie umzustellen, Diät zu halten, zu versuchen abzunehmen. Schnell zeigten sich Erfolge, ich verlor ein paar Kilo und bekam Komplimente, was mein angeschlagenes Selbstbewusstsein dringend gebrauchen konnte. Um noch schlanker zu werden, schränkte ich meine Essensauswahl immer mehr ein, ließ Mahlzeiten ausfallen, aß so wenig wie möglich und begann zu joggen.

 

Laufen spielte, schon seitdem ich denken kann, eine große Rolle in meiner Familie. Meine Eltern joggten ebenso regelmäßig wie meine Tanten und Onkel. Doch im Mittelpunkt des familiären Lauffiebers stand eh und je ein Mann: mein Opa.

Mein Opa, Gerhard Lange, war 1966 DDR-Staatsmeister im Marathonlauf und in jungen Jahren mit Leib und Seele Leistungssportler. Er liebte das Laufen, woran auch das Ende seiner Sportlerkarriere nichts änderte.

Seine Trainingsläufe waren Fixpunkte, an denen sich der Tagesablauf orientierte. In meinen Kindheitserinnerungen kam er eigentlich immer gerade vom oder ging zum Laufen. Nach seiner Runde durch den Wald kam er immer verschwitzt nach Hause, ging sofort ins Bad, wo er die Sohlen seiner Schuhe in der Badewanne wusch, ehe er sie auf ein Handtuch unter die Heizung stellte, und trank anschließend eine riesige Tasse Früchtetee.

Ich verstand nie, warum er etwas Heißes trank, obwohl er doch offensichtlich schwitzte. Was ich hingegen verstand, war, dass die Tasse ebenso wie der Tee etwas ganz Besonderes sein musste. Sie war ungewöhnlich groß und hatte eine seltsam geschwungene Form mit kitschigem Blumenmuster. Nie sah ich, wie jemand anderes diese Tasse benutzte, sie hatte etwas Magisches an sich und ihr Inhalt war der Zaubertrank, der einen lange laufen lässt.

Die Tatsache, dass mein Opa zu so etwas fähig war, machte mich immer mächtig stolz. Während Freundinnen und Freunde von mir alte Männer als Opas hatten, war meiner ein agiler Marathonläufer, in meinen Augen ein ewiger Champion. Ich hörte mir gerne seine Geschichten übers Laufen an und war beeindruckt von den zahlreichen Pokalen, Medaillen und Urkunden, die in Kartons verstaut waren und auf Wunsch von uns Kindern hervorgekramt wurden.

Manchmal trafen wir ihn im Wald, wenn ich mit meinen Eltern am Wochenende spazieren ging, wobei er immer nur wenige Worte mit uns wechseln konnte, bevor er weiterlief.

»Sonst fang ich an zu schwitzen, mien Deern«, erklärte er mir. (Er pflegt mich bis heute »mien Deern« zu nennen, was Plattdeutsch ist und so viel heißt wie »mein Mädchen«.)

Natürlich machte das absolut keinen Sinn, schließlich tropfte Schweiß aus jeder seiner Poren und sein Geruch war ebenfalls verräterisch. Warum behauptete er dann, vom Stehenbleiben damit anzufangen?

Die Laufwelt war voller Rätsel. Klar war hingegen, dass alle Läufer und Läuferinnen wahre Heldentaten vollbringen. Einmal im Jahr stellten sie diese in Schwerin unter Beweis: beim Schweriner Fünf-Seen-Lauf.

Der Fünf-Seen-Lauf war einer der festen Termine, bei denen die Familie zusammenkam. Während meine Eltern, Tanten und Onkel 10 oder 15 Kilometer zurücklegten, wartete ich mit meinen Großeltern, meiner gleichaltrigen Cousine und meinem Bruder gespannt im Ziel auf deren Ankunft. Opa wählte stets mit uns die Seite als Zuschauer, schließlich musste er niemandem mehr etwas beweisen und dreimal die Woche allein im Wald zu laufen, reichte ihm vollkommen aus. Wir legten uns immer kräftig ins Zeug, um alle anzufeuern, und ich träumte davon, irgendwann auch mal an so einem Lauf teilnehmen zu können. Dieses Gefühl, ins Ziel zu kommen und von allen bejubelt zu werden, musste einfach fantastisch sein.

 

Mit knapp 14 Jahren sollte ich endlich die Gelegenheit dazu haben, doch leider hatte mein erneuter Versuch, das Laufen in mein Leben zu integrieren, nichts mehr mit der romantischen Vorstellung aus Kindertagen zu tun. Statt aus Spaß lief ich einzig und allein, um Kalorien zu verbrennen.

Meine anfänglich harmlosen Abnehmbemühungen hatten sich nach und nach zu einer Besessenheit gesteigert, mit der ich jede Kalorie bekämpfte.

Das Laufen war nur Mittel zum Zweck und die Entscheidung gerade für diesen Sport fiel mir nicht schwer: Er war einfach auszuführen, ich konnte es allein machen, es kostete nichts und meine Familie begrüßte es ohnehin. Also lief ich.

Als der Termin vom Fünf-Seen-Lauf 2001 näher rückte und klar war, dass wir das Wochenende nutzen würden, um die elfstündige Fahrt nach Schwerin auf uns zu nehmen, war ich entschlossen, die zehn Kilometer in Angriff zu nehmen. Meine Eltern stimmten zu, sie selbst wollten 15 Kilometer laufen.

Die Strecke führt an verschiedenen Schweriner Seen vorbei (an fünf verschiedenen, wie der Name verrät), war anstrengend, aber wunderschön. Ich fühlte mich gut, als ich auf die Zielgerade in den Lankower Bergen einbog, doch statt Jubel und Euphorie löste mein Auftauchen Überraschung aus und so musste ich kurz stehenbleiben, um Opa mit Winken und Rufen auf mich aufmerksam zu machen.

»Ach, mien Deern, du bist schon da«, rief er erschrocken und drückte auf den Auslöser des Fotoapparats.

59:59 Minuten zeigte meine Stoppuhr im Ziel, 1:01:01 Stunden lautete die offizielle (Brutto-)Zeit.

Ich war zwar stolz auf meine Leistung, doch meine Gedanken waren größtenteils damit beschäftigt, eine Ausrede zu finden, um das Essen beim bevorstehenden Grillen im Garten zu vermeiden. Ich weiß nicht, ob ich dem Moment mehr Bedeutung und Aufmerksamkeit beigemessen hätte, hätte ich gewusst, dass diese Zeit für mehr als ein Jahrzehnt mein persönlicher Rekord bleiben würde – wahrscheinlich nicht.

Die Urkunde hängte ich zu Hause in meinem Jugendzimmer auf, die Laufschuhe jedoch kurze Zeit später an den Nagel, ich war einfach zu schwach vom Hungern, um Sport zu treiben.

Zum Glück bekam ich gerade noch so die Kurve und erkannte irgendwann, dass Zufriedenheit und Lebensfreude nicht vom Gewicht abhängig sind, und es nicht guttut, sämtliche Gedanken nur um das Thema Essen beziehungsweise Nichtessen kreisen zu lassen. Das heißt nicht, dass die Sache damit aus meinem Leben verbannt war, aber zumindest in dem Moment gelang es mir, den Teufelskreis der Essstörung zu durchbrechen und mehr Kilos auf den Rippen zuzulassen. Und auch mehr Freude im Leben – die sich jedoch auf andere Art und Weise zeigte, als man vermuten würde.

Für den Rest der Pubertät hatte es sich endgültig mit Sport erledigt und ich widmete mich den Freuden der Gothicszene und des Gruftidaseins: schwarze lange Haare, bleiche Haut, langes, wallendes Gewand, trauriger Gesichtsausdruck, seltsame, melancholische Musik über das Anderssein und freakige Freundinnen und Freude, die vom Rest der Gesellschaft als Aussätzige angesehen wurden und alles dafür taten, dass das so bleiben würde.

Ich wollte mich abgrenzen, auffallen, mich besonders fühlen. In einer Welt von Festivals und Räucherstäbchen konnte es keinen Sport geben, schließlich wäre sonst der schwarze Eyeliner verschmiert und die frisch gefärbten schwarzen Haare hätten bei Kontakt mit Schweiß dunkelblaue Rinnsale auf der Haut hinterlassen – wobei Letzteres auch über zehn Jahre später noch ein Problem ist. Ich wurde faul und unsportlich. Dass in mir mal ein energiegeladenes Sportbündel gesteckt hatte, geriet jahrelang in Vergessenheit und schien aus einem anderen Leben zu stammen.

Kilometer 3

Für einen Herbsttag Mitte Oktober ist es ungewöhnlich heiß. Obwohl es Vormittag ist und die Sonne erst seit wenigen Minuten scheint, staut sich in den Straßen von Graz bereits die stickige Luft, weshalb einige Läufer und Läuferinnen bereits nach drei Kilometern gierig nach den angebotenen Wasserbechern greifen.

So haben sich die unzähligen Trainingskilometer im Hochsommer wenigstens bezahlt gemacht, Wind und Regen fände ich schlimmer.

»Entdecke den Kenianer in dir«, steht auf einem Plakat, das eine junge Frau am Straßenrand in die Höhe hält. Sehr lustig, ich glaube, die Kenianerin in mir ist bereits beim Start davongezischt. Aber was soll’s, muss ich halt mit dem vorliebnehmen, was übrig bleibt. Zumindest die Temperaturen erinnern an Kenia. Ist es dort überhaupt so heiß, wie ich vorurteilsgeprägt glaube?

Ich passiere ein walzertanzendes Pärchen, das gerade im Begriff ist, irgendeinen Rekord im Walzertanzen aufzustellen, indem sie die Marathondistanz drehend bewältigen – als Staffel, jedes Paar nur einen Kilometer. Schon beim Anblick wird mir schwindelig, ich bevorzuge eindeutig den Blick nach vorne.

»Was kommt jetzt in meinem Mentalprogramm? Ach ja: Ich bin ruhig und relaxt. Ich ruhe in mir selbst und konzentriere mich auf den Moment.«

Statt der ruhigen Stimme des Psychologen, von dem das Programm stammt, höre ich nun in Gedanken meine eigene Stimme in Ichform.

»Ich spüre, wie mein Körper in Gang kommt wie eine wohlgeölte Maschine, die sich langsam in Bewegung setzt. Mühelos erreiche ich mein Renntempo und halte mich am Anfang sogar noch etwas zurück. Na ja, mühelos. Was ist schon mühelos? Aber ich liege im Plan, sogar ein wenig drunter.«

Für meine Verhältnisse halte ich mich auch zurück, denn ich lasse andere an mir vorbeilaufen und versuche nicht, mitzuhalten, obwohl ich es natürlich könnte, »das werden sie schon noch sehen!«

Meine Füße sind heute ungewohnt schwer, aber wahrscheinlich liegt das daran, dass es gerade kaum merklich bergauf geht. Das weiß ich, da ich natürlich vorher das Streckenprofil studiert habe, sehen tue ich es nicht. Außerdem ist die gerade Ringstraße echt mühsam.

»Na toll, das ist jetzt schon anstrengend und dabei bin ich erst sechs Kilometer gelaufen. In 17 Kilometern komme ich hier noch mal vorbei und dann? Stopp! Denk bloß nichts Negatives! Ich bin ruhig und relaxt. Ich konzentriere mich nur auf den Moment und im Moment geht’s mir … « Ich horche kurz in mich hinein: Mir ist heiß, mein Hals kratzt ein wenig, mein Puls ist hoch, meine Beine – »Gut! Mir geht es gut!«

Ich schiebe die ungewollten Gedanken und Zweifel beiseite und richte meine Aufmerksamkeit auf die Umgebung und die Leute, die mir entgegenkommen. Wahnsinn, wie fit und locker die alle aussehen. Aber ist ja auch kein Wunder, schließlich sind sie ein paar Kilometer vor mir. Wenn ich da vorne umdrehen kann, sehe ich alle, die hinter mir sind, und die sehen sicher nicht mehr alle so spritzig aus. Außerdem geht es dann endlich bergab.

Der Weg an sich hat wirklich nicht viel Ansehnliches: ein paar Häuser, ein paar Bäume, oh, ein Parkplatz, ein bisschen Wiese, dann ganz viele Bäume und schließlich keine Abwechslung mehr durch Häuser oder gar eine blinkende Ampel.

Was soll’s, ich versuche, die Strecke trotzdem zu genießen, immerhin hätte ich nie gedacht, dass ausgerechnet ich mal einen Marathon laufe.