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Bernd Schuchter

Der Braumüller Verlag

und seine Zeit

235 Jahre – eine Verlagschronik

1783–2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018

Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram

„Es ist selten, daß ein Mensch weiß,
was er eigentlich glaubt.“

Oswald Spengler,
Der Untergang des Abendlandes

Inhalt

1. 1783–1815

2. 1815–1848

3. 1848–1884

4. 1884–1903

5. 1903–1915

6. 1915–1919

7. 1919–1938

8. 1938–1948

9. 1948–2008

10. 2008–2018

LITERATURLISTE

1. 1783–1815

Es ist selten, daß ein Mensch weiß, was er eigentlich glaubt. Diese Worte schrieb Oswald Spengler in seinem berühmt gewordenen Monumentalwerk Der Untergang des Abendlandes, das nicht nur eine ganze Generation beeinflusste, sondern – auch das ist wahr – im Jahr 1918 im Wiener Braumüller Verlag erschienen ist. Spengler reißt hier die generelle Problematik allen Geschichtsverständnisses an, denn wann weiß man schon, was man glaubt. Der Engel der Geschichte, den Walter Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte beschwört, in dem er ein Bild von Paul Klee mit dem Titel Angelus Novus meint, starrt mit weit aufgerissenen Augen und ausgespannten Flügeln auf die Vergangenheit.

Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Nun, in den letzten zweihundertfünfunddreißig Jahren hat die Menschheit tatsächlich Trümmer über Trümmer angehäuft, sodass dem Engel der Geschichte wohl noch immer schauderhaft zumute ist. Es stellt sich die Frage, ob es jemals anders war in den kurzen Zeitläuften, seit der Mensch die Herrschaft über die Erde angetreten hat und vom simplen Höhlenmenschen allmählich zum individualistischen Künstler emporgestiegen ist, als dessen Ideal er in der Verkörperung eines Michelangelo oder Leonardo da Vinci in der Hochblüte der Renaissance schließlich gefeiert wurde. Kaum fünfhundert Jahre brauchte der Mensch, um in seinem Selbstverständnis vom Ebenbild Gottes zu einer Kreatur unter Kreaturen abzusteigen, die sich in der Welt sowohl fremd als auch verloren fühlt. Nach dem Ende der Geschichte, das nicht so eingetroffen ist, wie mancher Politikwissenschaftler das vorhergesehen hat, leben wir heute in einer Welt, in der die Menschheit langsam eine Ahnung davon bekommt, dass das Handeln des Menschen vielleicht doch nicht ohne Konsequenz ist. Das Schmelzen der Polkappen und massenhafte Zerstörungen durch immer häufiger werdende extreme Wetterphänomene vermitteln eine Ahnung davon, dass der Mensch vielleicht – holistisch gesprochen, also in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt – doch mehr ein Parasit auf dem Wirtskörper der Erde denn die Krone der Schöpfung ist. Aber Relativismus ist keine Lösung.

Man kann nicht im Großen denken, ohne das Kleine zu sehen. Was ist ein Erdzeitalter gegen die Tragödien und Schicksale, die sich über hundert Jahre in den heftigen Rosenkriegen in England abgespielt haben mögen. Von den meisten davon haben wir keine Nachricht, da es keine Quellen gibt. Was bedeutete es, leibeigener Bauer im Russland Zarin Katharinas zu sein oder Mohawk-Indianer in den Wirren des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges? Was fühlte eine Bäuerin im Pustertal des endenden achtzehnten Jahrhunderts, etwa in Innichen oder in Vierschach, als sie gerade von ihrem dreizehnten Kind entbunden wurde, sofern die Hebamme überhaupt anwesend war und das Bündel Kind nicht einfach während der Feldarbeit auf den Boden plumpste?

Walter Benjamin beschreibt diesen Zwiespalt zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit des Menschen, zwischen Sinn und Sinnlosigkeit ganz nüchtern. „Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens“, sagt ein neuerer Biologe, „stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.“ Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.

Was für eine Figur macht der einzelne Mensch eigentlich? Angesichts der Ewigkeit scheint jedes Engagement sinnlos, und dennoch versuchen immer wieder einzelne Menschen, etwas zu unternehmen, etwas auf die Beine zu stellen, und wenn es auch kein Kunstwerk von ewiger Bedeutung ist, so ist es doch eine Unternehmung, ein Beruf, ein Betätigungsfeld, das vielleicht Sinn stiftet, vielleicht Sinn ergibt, vielleicht nur schnöden Mammon bringt, aber dadurch eine Familie ernährt, den Schneider etwa, der den einzigen Anzug näht, der wiederum seine Zugehfrau endlich zahlen kann, die leider das Pech hat, vom Gastwirt, bei dem sie seit Jahren arbeitet, bedrängt und geschwängert zu werden. Der Bastard wird es nicht leicht haben, so ist das Leben. Es sind die Trümmer auf Trümmern, die über die Jahre und Jahrhunderte gehäuft werden.

Aber war in dieser langen Kette des menschlichen Elends nicht jemand, der etwas Schönes, etwas Sinnvolles versucht hat, der weder seinen Nächsten betrogen noch irgendwelche Weiber entjungfert hat? Man muss verzeihen. Wenn man über einen Verlag schreibt, der Jahre später Otto Weiningers Geschlecht und Charakter verlegt hat, gerät man leicht in die Gefahr, die Geschlechter nur mehr in M und W zu unterscheiden und ansonsten der Natur ihr Recht zu lassen – abseits des Engagements und der Leidenschaft etwa für eine Idee oder die Gründung eines Verlags, also einer Einrichtung, deren Ziel es ist, Bücher zu drucken und zu veröffentlichen. Eine Unternehmung, die zu allen Zeiten schon immer ein Wagnis und ein klein wenig auch Hybris war, denn seit Anbeginn der Geschichte wissen die Herrscher dieser Welt, die Kaiser und Könige und später die vielen anderen Menschen der Macht, dass das gedruckte, geflügelte, lyrische, polemische, das literarische Wort gefährlich sein kann, da es das Volk und die Gefolgsleute beeinflussen, verderben, aufhetzen oder wahlweise erheben, inspirieren oder glücklich machen kann.

Eben jenes Wort verbreiten zu wollen als Einzelner, der weder von Geburt noch vom Intellekt zu den Eliten des Landes geschweige der Geschichte gehört, zeugt von ungeheurem Mut. Und dennoch entschließt sich der aus Salzburg stammende Johann Georg Ritter von Mösle 1783, genau das zu tun. Am 26. März des Jahres erhält er die Buchhandelskonzession für ein Verlags- und Sortimentsgeschäft in Wien. Schwerpunkt des Verlags sind rechtsund staatswissenschaftliche Titel. Es ist die Geburtsstunde des bis heute existierenden Braumüller Verlags, derzeit immer noch zuständig nach Wien, Servitengasse 5.

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Johann Mösle bekam 1783 eine Buchhandels- und Verlagskonzession.

Das Jahr 1783 ist ein besonderes für all jene, welche die Freiheit lieben. Das moderne Europa ist nicht denkbar ohne den Sieg und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, die um diese Unabhängigkeit jahrelang gekämpft haben. New Hampshire legt im Jahr 1783 fest, dass alle Menschen gleich und frei geboren seien, auch wenn es zu dieser Zeit freie und noch freiere Menschen gibt. Und Sklaven. Die Entwicklung, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ihr vorläufiges moralisches Ende im zwanzigsten Jahrhundert gefunden hat, nimmt an jenem Abend in New Hampshire ihren Ausgang.

Am 3. September erkennt England die USA als eigenen Staat an, die Geschichte nimmt ihren Lauf. Die Brüder Montgolfier unternehmen im selben Jahr ihren ersten unbemannten Flug mit einem Heißluftballon. Ein paar Monate später begibt sich der erste Mensch mit so einem Ballon – mit königlicher Erlaubnis – in das Reich der Lüfte. Die russische Zarin annektiert die Krim. Simón Bolivar wird geboren, und Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise wird zwei Jahre nach dem Tod des Dichters uraufgeführt. Berlin ist die Stadt, die sich dieses Wagnis zutraut.

In Österreich weiß man davon nichts; der Hof in Wien liegt abseits vom Weltgeschehen, und so sehen das auch die Untertanen. Es werden Bücher verkauft, wenn der Kaiser das will; da unterscheidet sich der Verlag Mösle nicht von den anderen Gewerben. Es ist eine Zeit, in der der Verleger im Vorhinein weiß, welches Geschäft er macht. Der Hof deponiert seine Wünsche und der Verleger liefert die Druckwaren. Er könnte ebenso Schrauben verkaufen, könnte man spotten – im Übrigen ein beliebter Spottvers auf alle Buchhändler im beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert, da die Verleger von den Buchhändlern schon sehr entfremdet sind.

Aber noch ist es nicht so weit. Während sich Johann Georg Ritter von Mösle in seinem Kämmerchen überlegt, was wirtschaftlich zu tun sei, um den adeligen wie wirtschaftlichen Stand halten zu können, wird er insgeheim vom revolutionären Furor angesteckt. Die französische Revolution, die in ihrer Ausprägung die österreichischen Potentaten überrascht, schwappt als Problem auch nach Österreich über. Aber hier bleibt es ruhig; hier wird kein König geköpft. Es ist wohl eine Frage der Mentalität. Seit der letzten Türkenbelagerung kann die Wiener Bevölkerung wohl nichts mehr aus der Ruhe bringen. Die Makel und Kompromisse werden immer abseits und ein anderes Mal geklärt.

Bei Mösle scheint man den revolutionären Atem der Geschichte bereits im Jahr 1787 zu spüren; in diesem Jahr erscheint – vielleicht als reaktionäres Gegenstück gedacht – eine Bibelausgabe mit Kommentaren, die von vier gelehrten Theologen des Pfalzgrafen Sandomir stammen, wie der Übersetzer und Herausgeber in einer Vorerinnerung schreibt. Erstmals in Frankfurt an der Oder im Jahr 1733 in lateinischer Sprache erschienen, wurde die Ausgabe von Berliner Akademikern ins Französische übersetzt – eine Anspielung auf die Tafelrunde des Preußenkönigs Friedrich II., der an seinem Hof in Sanssouci eine Zeit lang die führenden Gelehrten und Geistesgrößen Europas versammelte. Unter ihnen war auch der Herausgeber der bei Mösle erscheinenden Bibel, es handelte sich um niemand Geringeren als François-Marie Arouet, genannt Voltaire, den bekanntesten Philosophen der damaligen Zeit. Es scheint, als wäre Johann Georg Ritter von Mösle durchaus empfänglich gewesen für die Themen der Zeit wie das Streben nach mehr Selbstbestimmung, denen die Denker am Hof Friedrichs verpflichtet waren, als für ein paar Jahre eine andere Art der Machtausübung möglich war, deren Epigone der Habsburgerkaiser Joseph II. mit seinem Ideal des aufgeklärten Absolutismus gewesen ist. Unter den Größen waren so unterschiedliche Temperamente wie der Mathematiker Pierre Louis Moreau de Maupertuis, der für seine Schönheit bekannte Kunstkritiker Francesco Algarotti, der Philosoph und Lebemann Jean-Baptiste de Boyer, von allen nur der Marquis d’Argens genannt, oder der Gottseibeiuns der französischen Frühaufklärung, der Materialist und Visionär Julien Offray de La Mettrie.

Die legitimen Nachfolger der berühmten Tafelrunde waren der Kreis rund um Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, die mit ihrem Projekt der Encyclopédie die Aufklärung, welche die Erleuchtung der Masse zum Ziel hatte, den Weg jedes Einzelnen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie Immanuel Kant später schreiben würde, vorantreiben wollten. Diese Ideen konnten auch an Wien nicht spurlos vorüberziehen.

Es ist schon erstaunlich, dass ein Verlag, der ansonsten brave bis biedere rechts- und staatswissenschaftliche Titel verlegt, ganz andere Dinge im Programm hat. Von der Staatspolizei genauestens beobachtet, wie sich vermuten lässt. Während also in den Werbeannoncen und Affichen Titel wie Sammlung der Gesetze, welche unter der glorreichen Regierung des Kaisers Franz des Zweyten in den sämmtlichen k. k. Erbländern erschienen sind (1793) publiziert wurden, gab es ein zweites Programm, das weitaus weniger kaisertreu war, sondern die Lust an der Provokation gerne auslebte – wenn auch klandestin, wie der Band mit den Bibelkommentaren zeigt.

Kurz vorher erscheint bei Mösle ein weiteres interessantes Druckwerk (denn anders kann man diese kleinen „geheimen“ Büchlein nicht nennen). Mit dem Druckort Berlin kommt 1786 von einem gewissen Linguet ein Buch mit dem Titel Die Kakomonade. Ein Nachlaß vom Doktor Panglos, als ein Supplement des Kandide heraus. Das klingt nach einer pseudonymen Schrift von Voltaire selbst, der mit seinem Candide oder der Optimismus ein Werk von Weltrang verfasst hatte, das 1759 unter dem Pseudonym Docteur Ralph erstmals erschienen ist. Auf Deutsch hieß das Buch bei der Herausgabe 1776 Candide oder die beste aller Welten; unter diesem Titel sollte das Buch im deutschsprachigen Raum besonders populär werden. Die Kakomonade bedeutet wohl so viel wie die lärmende, nicht zu überhörende Monade, die wiederum auf Gottfried Wilhelm Leibniz und seine Monadentheorie anspielt, die im Candide persifliert wird. Dort moniert der ewig optimistische Lehrer des Helden Candide, dass man – allem Elend zum Trotz – doch eben in der besten aller möglichen Welten lebe.

Die Nähe Voltaires zum Verlag von Johann Mösle bleibt dennoch auffallend; der Autor des erwähnten Werkes ist wahrscheinlich schon besagter Herr Linguet, also Simon Nicolas Henri Linguet, der als Schriftsteller die Aufklärung verteidigte und vorantrieb, etwa in seinen 19-bändigen Annales politiques, civiles et littéraires, die ihn ins Exil nach Holland trieben und ihm schließlich zwei Jahre Kerkerhaft in der Bastille einbrachten. Auf seiner Flucht hielt er sich jedenfalls unter anderem in Genf bei Voltaire auf, und es ist nicht abwegig, zu glauben, dass sie jene Schrift gemeinsam verfasst haben, da Voltaire anscheinend Kontakt zu Johann Georg Ritter von Mösle pflegte. Wie dem auch sei, Mösle besaß, wenn man so will, durchaus revolutionäres Temperament. Titel wie Der Hofnarr (1784) lassen ein kritisches Potenzial erahnen; aber was erst urteilen über einen so sprechenden Titel wie Briefe aus der Hölle an Herrn Friedl, über die Briefe aus dem Monde, erschienen bei Mösle im Jahr 1785. Natürlich klandestin, gedruckt zu Mohilow in dem neuen Kollegium, was auch immer das zu bedeuten hat. Interessant ist vor allem der Autor, der einen schlechten Ruf hat und über die Jahrhunderte, möchte man sagen, den Lauf der Welt beeinflusst hat. Man mag sich eine Kurzbiografie im heutigen Sinne gar nicht vorstellen, zu viel Werk hat dieser Autor bereits angehäuft. Sein Name ist Belzebub und er ist ein viel beschäftigter Mann in diesen Jahren. In der Ausgabe von 1785 – sofern zumindest das wahr ist – ist seine Profession noch erläutert als Ceremonienmeister und Großschlepträger Sr. Majestät des Satans. Ein verantwortungsvoller Posten, mag man denken, der einem nicht viel Zeit für Privates lässt. Und eine oft jenseitige Aufgabe.

Aber wirkt hier tatsächlich ein Verleger mit aufklärerischem Ideal? Wohl kaum. Die Schriften jener Jahre sind meist Nachdrucke, also in möglichst großer Stückzahl verbreitete Raubdrucke ausländischer Verlage, um das steigende Lesebedürfnis in den österreichischen Erblanden zu befriedigen. Ein durchaus lohnendes Geschäft, vergaß man doch wie zufällig, sowohl den Autoren als auch den Herkunftsverlagen die Tantiemen nachzuschicken.

Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1808 führt Elisabeth von Mösle jedenfalls das Buchhandelsgeschäft allein weiter. Es sind bewegte Jahre seit der Gründung vergangen. Die französische Revolution und ihre nachfolgenden Wirren haben das Kräfteverhältnis in ganz Europa durcheinandergewürfelt, an deren Ende sich der machtbewusste Korse Napoleon Bonaparte zum neuen Herrscher ausruft. Der ehemalige Konsul lässt sich am 18. Mai 1804 zum Kaiser von Frankreich krönen und unterwirft in den Folgejahren fast ganz Europa. In Wien residiert Kaiser Franz I. von Österreich, der sich für zwei Jahre als Kaiser Franz II. zum Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation krönen lässt. Napoleons Truppen siegen von Schlacht zu Schlacht. 1808 ist etwa die Grafschaft Tirol, die bis nach Trient reicht, bereits dem mit Napoleon verbündeten Königreich Bayern einverleibt.

Wie es Herrschern in diesen Zeitläuften ergehen kann, darüber sinniert auch ein anonymer Autor, der mit S** zeichnet, in einer 1790 bei Johann Georg Mößle – wie es auf dem Titelblatt mit scharfem ß heißt – erschienenen Druckschrift, Das Loos der Könige, betrachtet bei Josephs des Zweiten Sarge. Ob diese Betrachtung allerdings ein Grundkurs im damals modernen Machiavellismus war, darf bezweifelt werden. In Frankreich schickt die Revolution sich erst an, ihre Kinder zu fressen, in Wien hat Wolfgang Amadeus Mozart nur noch ein Jahr zu leben. 1790 erlebt seine Oper Così fan tutte ihre Uraufführung, ein paar Monate später erhält Mozart von einem Unbekannten den Auftrag zu einem Requiem. Der klandestine Autor S** nimmt in seiner zweiundvierzigseitigen Betrachtung den Schrecken des Todes vorweg.

Welche Bilder bestürmen meinen Geist? Welche Traurigkeit athmen rings um alle Wände in mein Herz ein? Alles um mich her ist schwarz, und düster! Mein Ohr dröhnt von dumpfen Todesgesängen; mir ist, als herrschte um mich her die Verwesung. Bin ich auch im Tempel des Herrn, oder umschließen mich die Gräber der Todten? Was tönet für ein Name so kläglich aus dem Trauergesange? – Joseph! und noch einmal Joseph! und Herr! gib ihm die ewige Ruhe! –

Diese Eloge wurde auf den am 20. Februar 1790 gestorbenen Sohn von Maria Theresia, Joseph den Zweiten, gehalten, der als aufgeklärter Herrscher zahlreiche Reformen im Reich durchzusetzen versuchte, aber vielfach scheiterte. Im kollektiven Gedächtnis bleibt dieser Herrscher in Österreich vor allem wegen eines Satzes: Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart. Woraufhin das Jahrhundertgenie demütig erwidert haben soll: Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind.

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Wilhelm v. Braumüller 1807–1884

Im Jahr 1807 jedenfalls wurde in Zillbach im damaligen Herzogtum Sachsen-Weimar Wilhelm Braumüller geboren. Die Geschichte des Ortes geht bis ins Jahr 1185 zurück, bis auf die große Vergangenheit scheint kein Glanz bis in die Gegenwart zu reichen. Heute gibt es für die rund 460 Einwohner ein Café, eine Gaststätte, einen Getränkehandel, eine Softwarefirma, ein Nagelstudio, ein Seniorenheim, einen Steinmetzbetrieb, eine Forstbaumschule und eine Schreinerei.

Im gleichen Jahr erscheint bei Mösle in Wien ein Buch von Jacob Kaiserer, das als Vorwehe zu Otto Weiningers Geschlecht und Charakter gelten kann, unter dem kryptischen Titel Merkwürdigkeiten aus der Geschichte des weiblichen Geschlechts.

Wilhelm Braumüller zieht es kaum vierzehnjährig in die Welt; nach dem Tod seines Vaters 1821 geht er in die damalige Residenzstadt Eisenach, um in der Baereke’schen Hofbuchhandlung eine fünfjährige Lehrzeit als Sortiments- und Verlagsbuchhändler zu beginnen. Eisenach empfängt ihn – wie es scheint – mit offenen Armen.

Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärtsDer Kongreß tanzt