Jonas Tesarz

Psychosomatik in der Schmerztherapie

Reihe Komplexe Krisen und Störungen

Komplexe Krisen und Störungen

Herausgegeben von Prof. Dr. Günter H. Seidler, Heidelberg, PD Dr. Jonas Tesarz, Heidelberg und Prof. Dr. Annette Streeck-Fischer, Göttingen/Berlin

Die Reihe setzt sich zur Aufgabe, wichtige psychische Leidenszustände und Störungen in kurzer, überblickshafter und dennoch tiefgehender und wissenschaftlich-umfassender Weise darzustellen. Dazu gehören auch solche, die in den modernen Diagnoseschemata keine Berücksichtigung (mehr) finden, deren Konzepte für ein tieferes Verständnis dennoch wichtig sind.

Die Bände dieser innovativen Reihe bieten hier klinische Orientierung. Große Bedeutung wird der Phänomenologie und der Theorie zum Verständnis des jeweiligen Störungsbildes beigemessen. Die jeweilige Behandlungslehre gibt eine Übersicht über die jeweils in Frage kommenden therapeutischen Möglichkeiten.

Die Autoren sind meist jüngere, in ihren Fachbereichen aber durchaus ausgewiesene ExpertInnen. Adressaten sind die große Zielgruppe der angehenden FachärztInnen unterschiedlicher medizinischer Fachgebiete, insbesondere PsychiaterInnen und PsychosomatikerInnen und Psychologische und Ärztliche PsychotherapeutInnen.

Die Herausgeber:

Günter H. Seidler, Prof. Dr. med., war Leiter der Sektion Psychotraumatologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppen-Lehranalytiker und EMDR-Supervisor.

Jonas Tesarz, PD Dr. med., arbeitet als Oberarzt und Wissenschaftler am Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik.

Annette Streeck-Fischer, Prof. Dr. med., war Chefärztin der Abteilung »Klinische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen« in Tiefenbrunn, ist Psychoanalytikerin, Ärztin für Kinderpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Hochschullehrerin an der International Psychoanalytic University Berlin (IPU).

Die Einzelbände behandeln folgende Themen:

Digitale Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Jan van Loh) (bereits erschienen)

Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen (Vjera Holthoff-Detto) (bereits erschienen)

Ängste bei Kindern und Jugendlichen (Lydia Kruska, i. Vorb.)

Weitere Bände in Vorbereitung

Impressum

Besonderer Hinweis:

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96152-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11090-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20394-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Geleitwort der Reihenherausgeber

In unserer sich rasch verändernden Welt tauchen häufig Fragestellungen auf, die sich schwer beantworten lassen, und Probleme, mit denen schwer umzugehen ist. Welche Auswirkungen hat etwa die rasant wachsende Internetwelt, in der Virtualität und Realität nicht selten ineinander übergehen, auf die Trieborganisation von Menschen, auf ihre Werte, ihre Wünsche und Beziehungsgestaltungen und damit auch auf die ›Krankheiten‹, die einzelne Individuen entwickeln mögen? Oder: Was ist, wenn der Körper in seinen einzelnen Funktionen versagt und medizinisch durchaus hilfreiche Eingriffe möglich sind, die aber das Leben und Erleben des Betroffenen völlig auf den Kopf stellen? Welche Bedeutungen haben zunehmende Entgrenzungen in Bezug auf Alter, Geschlecht und gesellschaftliches Leben von Menschen, etwa durch Medizin und Gesetzgebung?

Diagnosen für Krankheitsbilder werden nach der jeweils aktuellen Ausgabe der ICD und des DSM vergeben. Für die jüngeren Kolleginnen und Kollegen ist das selbstverständlich; sie sind darin von Beginn ihrer Aus- und Weiterbildung geschult worden. Ältere Kolleginnen und Kollegen wissen, dass es auch anders geht.

Die Orientierung an den großen Manualen bietet ohne Zweifel viele Vorteile. Eine standardisierte Diagnose etwa ist die Voraussetzung für internationale Studien, die dasselbe Krankheitsbild betreffen. Nur mit ihrer Hilfe sind Aussagen über Inzidenz- und Prävalenzzahlen definierter Krankheitsbilder, ihre Verläufe und über die Ergebnisse therapeutischer Interventionen möglich.

Nun gibt es zahlreiche Lebens- und Erlebensbereiche, die sich in ihrer krankhaften Form der Zuordnung zu lediglich einer ICD- oder DSM-Nummer entziehen. Im Einzelfall kann das sehr unterschiedlich bedingt sein: Ein Leidenszustand kann derart viele Lebensbereiche umfassen, dass es nicht möglich ist, ihn nur einer Person als individuelle Krankheit zuzuschreiben. Es kann aber auch sein, dass eine sich sehr schnell verändernde Welt bislang nicht beschriebene und vielleicht auch nicht mit den bisherigen Ansätzen beschreibbare »Störungsbilder« hervorbringt. Stößt möglicherweise der bisherige Krankheitsbegriff (auch) hier an seine Grenzen?

Mit unserer Buchreihe versuchen wir, uns dieser schwierigen Thematik anzunähern. Es geht uns darum, Leidenszustände oder »Störungsbilder« zu beschreiben, die mit ihren vielen Aspekten nur unzureichend mit lediglich einer – oder additiv mit mehreren – ICD- oder DSM-Nummern abgebildet werden können. Eine sicherlich immer gegebene Nähe zu den entsprechenden Darstellungen in den großen Manualen soll so weit wie möglich deutlich gemacht werden. Es wird aber auch immer einen Bereich geben, der die »offiziellen« Beschreibungen der jeweiligen Störungsbilder hinausgeht.

Die Reihe bewegt sich mit ihren Themen in Grenzbereichen zwischen Normalität und Pathologie. Es geht um Fragen an der Grenze zwischen Medizin, Psychiatrie. Psychotherapie und Gesellschaft, die unser alltägliches Leben bestimmen.

Unser Anliegen besteht darin, mit jedem Band und zu jeder Thematik Anregungen und Informationen zu geben, die einen hilfreichen Umgang mit der jeweils relevanten Problematik geben.

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Annette Streeck-Fischer (Göttingen/Berlin)

Jonas Tesarz (Heidelberg)

Auftakt: Schmerz im Verständnis der Psychosomatik

Schmerz stellt aus psychosomatischer Perspektive ein überaus vielschichtiges Phänomen dar. In ihm können die unterschiedlichsten Aspekte der Psychosomatik zum Ausdruck kommen: das Leib-Seele-Problem, die Differenz zwischen Schmerz, Schmerzerleben und dessen sprachlicher Mitteilung, die kommunikative Funktion von Schmerz, der Einfluss von Schmerz auf die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung, die enge Verzahnung von Schmerz mit biographischen Ereignissen und vieles mehr. All dies führt dazu, dass man Schmerz auch als ein Schlüsselphänomen der Psychosomatik bezeichnen könnte.

Häufig lassen sich komplexe Schmerzsyndrome und somatoforme Schmerzstörungen nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Vielmehr geht man von einem wechselseitigen Interaktionsmuster verschiedenster biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren aus, wie zum Beispiel psychosoziale Regulation genetischer Expression durch Epigenetik. Dieses »bio-psycho-soziale Verständnis« von Schmerz kann auf der einen Seite als eine der größten schmerztherapeutischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Gleichzeitig hat dies jedoch auf der anderen Seite zu einer Vielzahl unterschiedlichster, zum Teil widersprüchlicher biologischer, psychologischer und psychosozialer Therapieansätze geführt. Hinzu kommt ein enormer Wissenszuwachs durch die technischen Fortschritte der letzten Jahre. Angeführt von den Erkenntnissen der Genetik, der Zellbiologie und der Neurophysiologie hat sich unser Blick auf die Mechanismen der Schmerzverarbeitung grundlegend gewandelt. Es wird daher zunehmend schwieriger, die Vielzahl an unterschiedlichen Konzepten und Ideen in ein kohärentes Therapiekonzept zu integrieren. Je mehr man sich mit der Behandlung chronischer Schmerzpatienten auseinandersetzt, umso größer scheint das Risiko zu werden, sich in Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit zu verlieren.

Das Ziel dieses Buches ist es daher nicht, durch weitere Darbietung von Fakten das Wissen und damit die Komplexität zu erhöhen. Ziel ist es, anhand der beiden zentralen Fragen, was Schmerz ist und warum wir Schmerzen haben, dem Leser ein klares und kohärentes Modell an die Hand zu geben, warum Schmerz sich zu einem eigenen Krankheitsbild verselbständigen kann, und daraus fachübergreifende Handlungsempfehlungen abzuleiten. Die zentrale Idee, die diesem Buch zugrunde liegt, basiert auf der Annahme, dass Schmerz das Resultat eines komplexen neuronalen Verrechnungsprozesses zur Abschätzung des Bedrohungsgehalts eines Reizes darstellt, der sich im Laufe der Evolution entwickelt hat, um die Integrität des Organismus zu wahren und ihn effektiv durch seine Umgebung zu navigieren. Dieser Verrechnungsprozess lässt sich am angemessensten im Rahmen eines biopsychosozialen Modells verstehen, in welches Informationen auf verschiedensten Ebenen einfließen.

In diesem Sinne sind chronische Schmerzen auch ein psychosomatisches Phänomen, in welches neben den biologischen Variablen psychische und soziale Faktoren einfließen. Und wenn diese vielleicht in vielen Fällen äthiopathogenetisch nicht ursächlich sind, so sind sie doch stets entscheidende (veränderbare!) Stellgrößen, über welche das Bedrohungslevel so moduliert werden kann, dass die »Alarmanlage Schmerz« wieder zur Ruhe kommt. Hat man die Grundprinzipien dieser Alarmanlage verstanden, dann zeigt sich schnell, dass sich die Vielfalt an Therapien auf einige wenige reduzieren lässt, die zwar in den therapeutischen Ansätzen unterschiedlich ausgestaltet werden, sich im Kern jedoch sehr gleichen. Diese Kernpunkte können als therapeutischer Kompass sicher durch die Therapie und die Behandlungsplanung navigieren.

Die Psychosomatik als die Lehre von den körperlichen, seelischen und sozialen Wechselwirkungen stellt die dazugehörige therapeutische Haltung dar. Denn sie drückt ein zentrales Element des Phänomens »Schmerz« aus: Schmerz ist stets ein Zustand, welcher sowohl auf Körper als auch Psyche gleichzeitig referiert. Ein Schmerz ohne Körper ist genauso wenig denkbar wie ein Schmerz ohne Psyche.

Was ist Schmerz?

Schmerz gehört zu den ältesten Erfahrungen der Menschheit und ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Doch was genau ist Schmerz eigentlich? Möchte man Schmerzen verstehen – und dieses Verstehen stellt nicht selten den Schlüssel für eine erfolgreiche Therapie dar –, so ist es wichtig, ein kohärentes Bild davon zu haben, was Schmerz überhaupt ist, wie er entsteht und warum wir Schmerzen haben. Was genau sind die notwendigen und hinreichenden Eigenschaften dafür, dass eine Empfindung als Schmerz – und nur als Schmerz, also nicht als Hunger, Angst oder Juckreiz – klassifiziert werden kann? Wenn wir beispielsweise von »psychosomatischen Schmerzsyndromen« sprechen, meinen wir dann auch das weite Feld seelischer Schmerzen? Doch was genau ist seelischer Schmerz?

Wie lässt sich Schmerz definieren?

Dieser Problematik nahm sich die im Jahre 1974 gegründete Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (International Association for the Study of Pain, IASP) im Rahmen einer eigens hierfür eingerichteten »Taskforce of Taxonomy«1 an und veröffentlichte 1979 die bis heute gültige und international anerkannte Definition (Pain 6: 249): »Schmerz ist eine unangenehme Sinnes- und Gefühlsempfindung, die mit einer echten oder möglichen Gewebsschädigung einhergeht oder als solche beschrieben wird. . . . Schmerz ist immer subjektiv.« (Merskey & Bogduk, 1994) Diese nun schon mehr als 30 Jahre gültige Definition ist vor allem dadurch bekannt geworden, dass erstmals die Gewebsschädigung als notwendige Bedingung für Schmerzempfindungen zurückgestellt wurde zugunsten des subjektiven Gefühls, dass eine solche Gewebsschädigung vorliege. Damit wurde die Möglichkeit anerkannt, dass körperlicher Schmerz auch ohne objektive Gewebsschädigung auftreten kann, was einen Paradigmenwechsel weg von einer rein mechanistischen Schmerzkonzeption (Schmerz als Folge einer Reizung von peripheren Schmerzrezeptoren bzw. durch strukturelle Schädigung der schmerzleitenden Nervenbahnen) hin zu einem »psychosomatischen« Schmerzkonzept entsprach (Hennings, 2011). In den weiterführenden Erläuterungen zur Definition wird daher ausdrücklich auf den Aspekt der Subjektivität hingewiesen. So heißt es dort wörtlich (Merskey, 1964):

Versucht man das Wesen eines Begriffes zu erfassen, dann will man nicht nur wissen, was alle Begriffe dieser Art gemeinsam haben, sondern auch, was sie von anderen unterscheidet. Eine solche analytische Herangehensweise ermöglicht eine auf das Wesentliche reduzierte Definition, insofern als ein komplexer Begriff (Defiendum) durch Angabe einfacherer und fundamentalerer Begriffe (Defiens) erklärt werden kann. Ein Beispiel für diesen reduktiven Ansatz kann am Begriff des Katers veranschaulicht werden: Ein Lebewesen ist genau dann ein Kater, wenn dieses Lebewesen 1.) eine Katze und 2.) männlich ist. Ein Kater ist also notwendigerweise eine Katze (d. h. eine Katze zu sein ist eine notwendige Bedingung dafür, ein Kater zu sein: nichts, was ein Kater ist, ist nicht auch eine Katze). Die Eigenschaft »eine Katze zu sein« ist allein aber noch nicht hinreichend dafür, ein Kater zu sein. Ein Kater ist nämlich (notwendigerweise) auch männlich. Zwar ist »ein Kater zu sein« eine hinreichende Bedingung dafür, dass etwas eine Katze oder männlich ist, jedoch ist keine dieser Bedingungen allein hinreichend dafür, ein Kater zu sein. Erst zusammen sind diese zwei notwendigen Bedingungen hinreichend dafür, ein Kater zu sein.

Eine umfassende und eindeutige Definition basiert somit auf der klaren und unmissverständlichen Ausführung von hinreichenden und notwendigen Eigenschaften des zu definierenden Begriffs. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »Schmerz«: Wenn man herausfinden will, was das Wesen der Empfindung »Schmerz« ausmacht, dann ist es hilfreich, nach den einzeln notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen zu suchen. Analysiert man die gegenwärtige Definition unter diesem Aspekt, so zeigt sich, dass die aktuelle IASP-Definition sich im Wesentlichen auf drei Eigenschaften von Schmerz bezieht (siehe Tabelle 1):

Tabelle 1: IASP-Definition für Schmerz

S ist genau dann Schmerz, wenn

1.

S unangenehm ist.

2.

S eine Sinnes- und eine Gefühlsempfindung ist.

3.

  1. S mit einer echten Gewebsschädigung einhergeht

    oder wenn

  2. S mit einer potentiellen Gewebsschädigung einhergeht

    oder wenn

  3. S beschrieben wird, als wenn es mit einer echten Gewebsschädigung einhergehen würde,

    oder wenn

  4. S beschrieben wird, als wenn es mit einer potentiellen Gewebsschädigung einhergehen würde.

Diese auf den ersten Blick sehr elegant erscheinende Definition der IASP zum Phänomen »Schmerz« wirft bei genauer Analyse jedoch wichtige Fragen auf:

  1. Ist Schmerz notwendigerweise unangenehm?

  2. Was bedeutet es, gleichzeitig Sinneswahrnehmung und Gefühlsempfindung zu sein?

  3. Wie lässt sich eine »mögliche Gewebsschädigung« definieren3 und wie geht man mit der Vielzahl von Schmerzphänomenen um, bei welchen sich keine eindeutige Gewebsschädigung nachweisen lässt?

Es wird sich zeigen, dass die Antworten auf diese Fragen eng verbunden sind mit der Frage, was Schmerz eigentlich ist. Im Folgenden soll daher kurz auf die unterschiedlichen Punkte eingegangen werden.

Ist jeder Schmerz schmerzhaft?

Die Frage drängt sich auf, ob Schmerz notwendigerweise unangenehm sein muss und was »unangenehm« überhaupt bedeutet. Der unangenehme Charakter der Empfindung »Schmerz« wird häufig auch als der sogenannte »Unlustaspekt« der Empfindung bezeichnet. Dass Schmerz Unlustempfindungen hervorruft, heißt nichts anderes, als dass Lebewesen motiviert sind, diesen möglichst rasch zu beseitigen. Auf die sogenannte Störfunktion des Schmerzes, welche wesentliche Hinweise für das Verstehen psychosomatischer Wechselwirkungen geben kann, soll weiter unten nähereingegangen werden. Doch zunächst soll die Frage beleuchtet werden, ob Schmerz immer unangenehm ist. In der Taxonomy of Pain der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) heißt es, dass Sinnesempfindungen, die zwar der Empfindung »Schmerz« ähneln, aber von den Betroffenen nicht als unangenehm empfunden werden, nicht als Schmerz zu bezeichnen sind4. Somit wäre Schmerz zwingend unangenehm. Es stellt sich aber die Frage, wie es sich dann zum Beispiel mit dem Schmerz des Masochisten oder Extremsportlers verhält. Diese scheinen trotz eindeutiger Schmerzäußerung Lust zu empfinden5. Der Unlustaspekt des Schmerzes scheint also sekundär zu einem Lustgewinn zu führen. Genau genommen kommt es nicht zur »Lust im Schmerz«, sondern zum »Lustgewinn durch die Unlust im Schmerz«. Der Schmerz als eine unangenehme Körperempfindung führt nachfolgend zum Lustgewinn (dementsprechend ist es für einen Masochisten reizlos, seine masochistischen Bedürfnisse im Rahmen einer suffizienten Analgesie auszuleben). Es erscheint daher trotz gelegentlicher Einwände gerechtfertigt, den Unlustaspekt als eine notwendige Bedingung für Schmerz zu betrachten6. Der Unlustaspekt des Schmerzes, die Stör- und Unterbrechungsfunktion der Empfindung Schmerz stellt damit eine zentrale Eigenschaft des Phänomens »Schmerz« dar. Gleichzeitig muss aber zur Kenntnis genommen werden, dass Schmerz sekundär positive Empfindungen, wie beispielsweise das Erleben von Wohlgefühl, Zugehörigkeit etc. hervorrufen kann. Eine Eigenschaft, die wesentlich dazu beitragen kann, die Funktion des Schmerzes besser zu verstehen und auf die später eingegangen werden soll.

Was bedeutet es, gleichzeitig Sinneswahrnehmung und Gefühlsempfindung zu sein?

Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) definiert Schmerz als eine Sinnes- und Gefühlsempfindung (sensory and emotional experience). Diese Formulierung erscheint auf den ersten Blick verwirrend: Was bedeutet es, gleichzeitig Sinneswahrnehmung und Gefühlsempfindung zu sein? Um dies besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die offizielle Taxonomie der IASP. Denn hier wird deutlich, dass die postulierte »Hybridstellung« aus Sinnes- und Gefühlsempfindung im Wesentlichen auf dem Aspekt der Körperlichkeit und dem Unlustaspekt von Schmerz beruht. So ist in der Erläuterung zu lesen: »Schmerz ist zweifelsohne eine Sinnesempfindung des Körpers, aber er ist auch immer unangenehm und daher auch eine emotionale Erfahrung.« Der Gedanke, Schmerz sowohl als sensorische als auch als emotionale Erfahrung zu definieren, beruht darauf, dass Schmerz primär eine Körperempfindung (sensation of the body) darstellt und als Sinnesempfindung wahrgenommen wird, diese jedoch aufgrund des ihr zwingend innewohnenden intrinsischen Unlustaspekts (unpleasentness) stets mit einer emotionalen Erfahrung assoziiert ist und daher auch eine Gefühlserfahrung darstellt. Daraus wird ersichtlich, dass sich die Aussage, dass Schmerz eine Sinnes- und eine Gefühlsempfindung ist, viel verständlicher ausdrücken lässt in der Formel, dass Schmerz notwendigerweise eine unangenehme Körperempfindung darstellt. Ein Schmerz, der über den eigenen Körper hinausgeht, ist unsinnig. Die Aussage: »Person A empfindet einen Schmerz an der Straßenecke hinten rechts« erscheint absurd. Statt Schmerz als eine »unangenehme Sinnes- und Gefühlsempfindung« zu deuten, erscheint es sinnvoller, den Körperbezug in den Vordergrund zu stellen. Denn die Art und Weise, wie die Signale des Körpers (aber auch der Körper an sich) wahrgenommen und interpretiert werden, hat einen direkten Einfluss auf das individuelle Schmerzerleben.

Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass es sich nicht zwingend um Wahrnehmungen am wirklich vorhandenen Körper handeln muss, sondern vielmehr um Wahrnehmungen am subjektiv empfundenen Körper. Würde man Empfindungen auf den wirklich vorhandenen Körper eingrenzen, so ließen sich klinische Phänomene wie das des Phantomschmerzes7 nicht sinnvoll in ein solches Schmerzkonzept integrieren (Halligan & Berger, 1999). Um diesem Punkt adäquat Rechnung zu tragen, ist es daher treffender, von einer Leibesempfindung zu sprechen: denn in der phänomenologischen Begriffslehre steht der Begriff »Körper« für das, was objektiv erfasst und gemessen werden kann, während der Leib für den subjektiv gespürten Körper steht. Der Körper ist der Gegenstand, der untersucht, vermessen, gewogen und behandelt werden kann. Der Leib ist dagegen der Körper des Sich-selbst-Empfindens, wie er gespürt, erlebt und gefühlt wird. Körper haben und Leib sein, lautet eine geläufige Kurzformel dazu (Jantzen, 2011). In diesem Sinne sind Schmerzen eine besondere Klasse von unangenehmen Leibesempfindungen, welche am wahrgenommenen – und nicht am tatsächlich vorhandenen Körper erfahren werden. Es ist schwerlich ein nicht-leiblicher Schmerz vorstellbar. Allerdings ist nicht jede unangenehme Leibesempfindung ein Schmerz. Hunger, Durst, Juckreiz sind unangenehme Leibesempfindungen, ohne jedoch Schmerz zu sein. Hierfür braucht es noch eine andere Qualität.

Wie lässt sich eine »mögliche Gewebsschädigung« definieren und wie geht man mit der Vielzahl von Schmerzphänomenen um, bei welchen sich keine Gewebsschädigung nachweisen lässt?

Da eine Gewebsschädigung in der Regel mit Schmerzempfindungen assoziiert ist, wird im Gegenzug die Schmerzempfindung auch gleichzeitig mit einer potentiellen oder drohenden Gewebsschädigung assoziiert. Als Schmerzen sind diejenigen Empfindungen zu bezeichnen – so die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) in ihren Erläuterungen –, die wir mit einer echten oder potentiellen Gewebsschädigung assoziieren8.

Es ist also prinzipiell hinreichend, dass eine unangenehme Leibesempfindung als Gewebsschaden beschrieben wird, um als Schmerz klassifiziert werden zu können. Das heißt, Schmerz fühlt sich an, als ob ein Körperteil aktuell Schaden nähme – unabhängig davon, ob er dies wirklich tut. Gerade bei chronischen Schmerzen lassen sich jedoch häufig keine Hinweise auf eine strukturelle Ursache der Beschwerden finden. Im Allgemeinen betrachten wir es daher als ausreichend, wenn eine Empfindung vom Betroffenen so beschrieben wird, als gehe sie mit einer potentiellen Gewebsschädigung einher.

Auch wenn die aktuelle Definition ausdrücklich darauf hinweist, dass die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation keine notwendige Bedingung dafür darstellt, Schmerzen zu empfinden, so ist die Formulierung »beschrieben wird« nicht ganz unproblematisch und hat Anlass zu Kritik gegeben (Anand & Craig, 1996). Denn postuliert man eine sprachliche Identifikationsfähigkeit als Conditio sine qua non für Schmerzzuschreibungen ohne erkennbare Gewebsschädigung, so bedeutet dies, dass nicht sprachbegabten Wesen wie Tieren, aber auch Säuglingen und einigen Patientengruppen nicht sicher Schmerzen zugeschrieben werden könnten (und zwar dann, wenn eine potentielle Gewebsschädigung fehlt). Für nicht-sprachbegabte Lebewesen, wie zum Beispiel Neugeborene, Locked-in-Syndrom-Patienten9, aber auch für Tiere, hätte dies dramatische Folgen: Die Möglichkeit, »als eine echte oder potentielle Gewebsschädigung beschrieben zu werden« gibt es per definitionem bei nicht-sprachbegabten Wesen nicht. Mit welcher Begründung lässt sich rechtfertigen, dass unangenehme Sinnes- und Gefühlsempfindungen von Neugeborenen und Tieren, welche mit einer echten oder potentiellen Gewebsschädigung einhergehen, Schmerzen sind, wohingegen diejenigen unangenehmen Sinnes- und Gefühlsempfindungen, welche die gleiche phänomenologische Qualität haben, jedoch nicht mit einer echten oder potentiellen Gewebsschädigung einhergehen, keine Schmerzen darstellen? Sobald das Kind ausreichende sprachliche Fähigkeiten erworben hat, würden diese Empfindungen als Schmerzen bezeichnet werden, selbst wenn sich an ihrer phänomenologischen Qualität nichts geändert hätte. Der in den Erläuterungen zur Definition gegebene Hinweis (»Die Unfähigkeit, verbal zu kommunizieren, bedeutet nicht, dass ein Individuum keine Schmerzen haben kann und keine angemessene schmerzlindernde Behandlung benötigt.«) steht damit im Widerspruch zur eigentlichen Definition. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muss nach der gemeinsamen Grundlage einer echten Gewebsschädigung und einer als solche beschriebenen Empfindung gesucht werden.

NozizeptionSchmerzerlebnis10