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Hans-Ulrich Horster

Suchkind 312

Roman

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1

Manchmal meinen wir, das Glück bezwungen zu haben. Wir glauben, es müsse nun immer so bleiben. Aber die Uhr der Zeit läuft lautlos weiter. Und eines Tages schreckt uns ihr Stundenschlag auf, und wir erkennen, dass sich das Glück nicht halten lässt …

Die Uhr der Zeit schlug für Ursula Gothe an einem stillen Septemberabend, als sie die Seiten einer Zeitschrift durchblätterte und plötzlich das Bild eines Kindes sah.

Ursula hielt den Atem an. Sie hatte das Kind nie gesehen, und doch war ihr sein Gesicht so vertraut, als hätte sie noch gestern mit ihm gesprochen.

›Unser Suchkind 312‹ stand über dem Bild. Und daneben: ›Hier der Steckbrief! Name: Haake oder Harke oder Hanke. Vorname: Martina. Geboren etwa 1944, Augen blau, Haar blond.‹

Das traf Ursula wie ein ungeheurer Schlag. Ihr Blick ging zu dem Bild des Kindes zurück. Diese Stirn – ist es nicht Achims Stirn? Diese Augen – sind es nicht Achims Augen? Dieser Mund … und das blonde, fließende, leicht gewellte Haar …

Draußen hupte es. Dreimal kurz. Eine Wagentür klappte. Dann kamen Schritte über den Kies; leichte, gleichmäßige Männerschritte, nicht zu schnell, nicht zu langsam.

Ursula warf erschrocken die Zeitschrift hin und sprang auf. Verstört fuhr sie sich über das Haar. Dann ging sie über die helle Diele zur Haustür. Sie ging wie im Traum. Ihre Beine waren ganz steif.

Es war wie an jedem Tag: Dreimal hupen, das Klappen der Wagentür, die Schritte auf dem Kies. Und wenn dann Dr. Richard Gothe die Diele betrat, stand seine Frau vor ihm.

Aber heute lächelte sie nicht wie sonst, als er sie an sich zog und flüchtig auf beide Wangen küsste.

Er achtete nicht darauf. »Entschuldige, dass ich so spät komme«, sagte er geschäftig. »Ich hatte wieder unheimlich viel zu tun. Ich hoffe, du hast mit dem Essen nicht gewartet.«

»Nein«, antwortete sie, und ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor. »Ich habe schon gegessen.«

Er stellte seine Aktenmappe hin, hängte Mantel und Hut ordentlich an den Garderobenhaken, ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. »Was macht der Junge?«

»Er schläft.« Wieder diese fremde Stimme! »Er hat kein Fieber mehr. Der Arzt sagt, er könne übermorgen aufstehen.«

»Das ist fein.«

Sie nahm seine Worte nicht auf. Sie sah ihm zu, wie er seine Hände umständlich mit der Nagelbürste bearbeitete, und dachte an das Bild. ›Name: Haake oder Harke oder Hanke. Vorname: Martina. Geboren etwa 1944, Augen blau, Haar blond …‹

Richard Gothe griff zum Handtuch. »Du bist ja so still heute! Und so blass!« Er trat zu ihr und betrachtete forschend ihr Gesicht. »Was ist denn los? Du siehst ja aus, als wärst du einem Geist begegnet!«

Ja, sie war einem Geist begegnet. Achims Geist!

Er strich ihr mit seiner kühlen Hand über die Stirn. »Sorgst du dich noch immer so wegen des Kindes?«

Das Kind! Er meinte sein eigenes Kind, den kleinen Helmut, nicht das andere. Von dem wusste er nichts. Von dem durfte er nichts wissen! Sie fröstelte, aber sie nahm sich zusammen.

»Nein, gar nicht! Der Junge ist ja auch schon über den Berg. Wenn er nur ein bisschen kräftiger wäre!«

»Das kommt noch«, tröstete er sie. »Wenn du wüsstest, was für ein Knirps ich in seinem Alter war! Und ich bin doch ein ganz normaler Mann geworden!«

Sie sah ihn an. Ja, er war ein ganz normaler Mann geworden. Nicht übermäßig kräftig, aber mit einer ansehnlichen Figur, gesund und überaus zäh, trotz der Zartheit seiner Hände, und obwohl seine Schultern etwas zu schmal waren. Er war überhaupt in seiner »Normalheit« ein Mann, wie eine Frau ihn sich nur wünschen konnte.

Er zupfte sich die schneeweißen Manschetten zurecht, griff nach seiner prallgefüllten Aktenmappe und folgte ihr ins Esszimmer. »Ich muss nachher nochmal zu Lohmann«, sagte er. »Ein paar Verträge, die noch besprochen werden müssen.«

Sie sah auf die Zeitschrift, die auf dem Teewagen lag. Sie war plötzlich froh, dass er zu Lohmann musste. Sie wollte allein sein. Sie fieberte danach, das Heft zu öffnen und weiterzulesen. Aber sie scheute sich davor, es in seiner Gegenwart zu tun.

Er ließ sich an dem gedeckten Tisch nieder, breitete die Serviette über die Knie und begann zu essen.

Sie setzte sich zu ihm, schenkte Tee ein und tat zwei Stücke Zucker in seine Tasse. »Bist du sehr müde?« Sie fragte das, um etwas zu sagen, um ihre zitternde Unruhe zu bekämpfen.

Er schüttelte den Kopf. Er war niemals müde, wenn er es nicht sein durfte. Heute durfte er es nicht sein, wegen der Besprechung mit Lohmann. Lohmann war wichtig für ihn. Lohmann war der Personalchef der Wiesbadener Kunststoff AG. Er hatte ein Wort mitzureden, wenn es darum ging, den freien Direktorposten neu zu besetzen. Dr. Richard Gothe, Leiter der Exportabteilung, war für diesen Posten vorgesehen, obwohl er erst achtunddreißig Jahre alt war.

»Du«, sagte er, »nimmst du es mir sehr übel, wenn ich schnell noch mal in die Verträge sehe?«

Sie blickte überrascht auf. Richard hasste es, wenn jemand beim Essen las.

Er bemerkte ihr Erstaunen und lachte plötzlich verlegen. »In diesem Falle darfst du natürlich auch lesen.«

Sie sah in sein schmales, etwas zu mageres Gesicht und dachte, wie gern sie ihn mochte, wenn er so war wie jetzt, nicht so steif und korrekt wie sonst, sondern ein wenig heiter und gelockert und ein wenig verlegen. Sie stand auf, holte die Zeitschrift und begann, nervös darin zu blättern.

Er betrachtete sie eine kleine Weile. Er dachte daran, wie gut sie zu ihm passte. Es war eben nicht genug, dass man seine Frau liebte. Die Liebe war ein Rausch, der vorüberging. Für ein erfolgreiches Leben brauchte man mehr. Zum Beispiel dies: Ursula stammte aus einer guten, angesehenen Familie und hatte eine glänzende Erziehung gehabt. Das war wichtig! Gerade für ihn.

Befriedigt zog er die Akte mit den Verträgen aus der Tasche. Während er weiter aß, vertiefte er sich in die Schriftstücke.

Ursula blätterte mit unruhigen Händen die Seiten des Heftes durch. Sie versuchte, so gelassen wie möglich zu erscheinen. Ihr Blick verweilte eine kurze Zeit auf den aktuellen Bildern.

Sie überflog die fette Überschrift einer Reportage, betrachtete dann die Modeseite und dachte die ganze Zeit doch nur an das Bild des kleinen blonden Mädchens, das nun bald kommen musste. Das Papier raschelte leise in der Stille, als sie wieder umblätterte. ›Unser Suchkind 312‹!

Da war wieder das Kind, das Martina hieß und Achims Augen hatte!

Noch einmal überflog sie den ›Steckbrief‹. Dann begann sie den Text unter dem Bild zu lesen. Und während sie las, wurden ihre Hände kalt.

»Am 4. März 1945 machte der Dampfer ›Ursula Heinemeyer‹ in Lübeck fest. An Bord befanden sich Flüchtlinge aus Ostpreußen. Unter ihnen die kleine Martina, die während der Fahrt in einem Kinderwagen gelegen hatte. Das Kind trug ein Täfelchen um den Hals, auf dem die Schrift verwischt und schwer entzifferbar war. Neben dem Namen war als Heimatort ›Insterburg‹ angegeben und ferner ›Gut Rositten oder Roselken‹. Dies Wort war jedoch kaum lesbar …«

»Du, Uschi«, Richard klappte den Aktendeckel zu und hob die Teetasse zum Mund, »du gehst doch mit zu Lohmanns? Seine Frau wird sich freuen, wenn du mitkommst.«

Ursula schloss für einen Moment die Augen. Dann hob sie den Kopf. Richard sah in ihrem Blick das hilflose Entsetzen eines Kindes.

Er setzte überrascht die Tasse hin. »Aber Uschi! Was ist denn los?«

Sie starrte ihn stumm an und ließ die Zeitschrift zu Boden fallen.

»Kind, was ist dir denn?« Er sprang auf und trat besorgt neben sie. »Hast du etwas so Aufregendes gelesen?«

Er bückte sich, um die Zeitschrift aufzuheben, aber Ursula kam ihm zuvor. Sie schlug das Heft hastig zu und legte es auf den Tisch. Dann sah sie zu ihm auf. In ihren Augen war noch immer etwas von dem Ausdruck kindlichen Entsetzens. »Es ist nichts, Richard. Nein, ich kann nicht mit. Jetzt nicht! Ich …« Sie erhob sich plötzlich, und ohne weitere Erklärung drängte sie sich an ihm vorbei und lief hinaus.

Er sah ihr verblüfft nach. Was hatte sie nur? Er nahm die Zeitschrift zur Hand und blätterte sie durch. Er überflog die Bilder, die Überschriften, die Reportagen, das Rundfunkprogramm, die Zeichnungen mit dem kleinen lustigen Igel. Er konnte nichts Aufregendes darin entdecken. Nicht einmal über einen Mord stand etwas darin.

Er legte das Heft auf den Tisch zurück und ging seiner Frau nach. Sie stand im Kinderzimmer, über das Bett des Jungen gebeugt. Der Kleine lag in tiefem Schlaf.

Richard zog seine Frau von dem Bett fort. »Sag mal, Uschi, was war das eben mit dir?«, fragte er. »War es wegen des Kindes?«

Sie schien wieder ganz ruhig, aber in ihrer Stimme klang noch die Erregung von vorhin. »Entschuldige, Richard, wenn ich dich erschreckt habe. Ja, es war wegen Helmut. Mir fiel plötzlich ein, dass Anni heute Ausgang hat, und ich dachte auf einmal, dass sie das Fenster im Kinderzimmer offen gelassen hätte. Es ist jetzt abends schon sehr kühl. Der Arzt hat gesagt …« Sie stockte. »Ich kann nicht mit zu Lohmanns«, fuhr sie hastig fort. »Ich kann den Jungen unmöglich allein lassen.«

Er sah sie prüfend an. Sie war ganz blass. Sonderbar, wie Frauen manchmal reagieren, dachte er. Wahrscheinlich wird man niemals ganz klug aus ihnen werden. – Dass sie nun nicht mit zu Lohmanns kam, verstimmte ihn. Er wusste, wie sehr der dicke gemütliche Lohmann Ursula schätzte und wie gern Lohmann es sah, wenn Ursula sich ein wenig um seine Frau kümmerte. Ursula verstand es überhaupt glänzend, die Frauen der älteren Direktoren zu nehmen. Das war für Richard Gothe überaus wichtig. Zu dumm, dass sie nicht mitkonnte! Er zog sie an sich. »Schade, Uschi. Nun muss ich dich allein lassen. Ich hätte vorher anrufen sollen, dann hätte Anni ihren Ausgang auf morgen verlegen können.«

Sie drängte sich in plötzlicher Zärtlichkeit an ihn. »Ach, Richard …« Sie küsste ihn auf den Mund, mit einer Wildheit, die ihn verwirrte.

»Aber Uschi!« Er war fast peinlich berührt. »Was ist heute nur mit dir los?«

O Richard, o Achim, o Achim … ging es ihr durch den Kopf. Sie ließ ihn los. »Nichts!«, sagte sie. »Komm, wir gehen noch ein paar Schritte durch den Garten.«

Er sah auf die Uhr. »Es tut mir leid, mein Kind, aber ich möchte Lohmann nicht warten lassen.«

»Ach ja, natürlich!«

Sie brachte ihn an den Wagen. Nachdem er den Motor angelassen hatte, zog er sich umständlich ein Paar Waschlederhandschuhe an. »Es wird nicht spät werden«, sagte er. »Ich hoffe, dass ich bis zehn zurück bin.«

»Ja, ja«, antwortete sie. Wie lange dauerte es nur, bis er die Handschuhe übergestreift hatte? Wozu überhaupt die Handschuhe? Sie stand neben dem Wagen und sah unruhig die stille Straße hinunter.

Sie dachte: Wenn er doch endlich losführe! Drinnen liegt das Heft auf dem Boden. Und darin ist das Bild von der kleinen Martina. Oder ist es gar nicht Martina? Habe ich mich getäuscht? Ich muss es wissen! Ich muss es sofort wissen! Ich sterbe, wenn ich es nicht sofort weiß! ›Gut Rositten oder Roselken‹? Es hieß anders! Es hieß …

Endlich fuhr er an. »Bis nachher, Uschi!«

Sie wartete nicht wie sonst, bis sein Wagen hinten in die Humboldtstraße eingebogen war. Sie drehte sich um und lief gehetzt durch den Vorgarten auf das Haus zu. Sie stürzte über die Diele ins Esszimmer und riss das Heft an sich. Mit zitternden Fingern blätterte sie darin. Sie konnte die gesuchte Seite nicht gleich finden. In ihrer Erregung riss sie das Papier ein. Hastig blätterte sie weiter. Da!

Das Bild des Kindes verschwamm ihr vor den Augen. Sie starrte aus dem Fenster. Draußen verdämmerte der violette Septemberabend. Das schwarze Laub der Bäume bewegte sich schemenhaft. Sie sprang auf, zog die Vorhänge zu und knipste das Licht an. Dann griff sie wieder nach dem Heft. War es nicht möglich, dass sie sich täuschte? Wie wollte sie das Kind nach einer Zeitschriften-Fotografie erkennen, das Kind, das sie nur als Säugling gesehen hatte, vor fast neun Jahren?

Aber der Name, das Alter, der vermutliche Geburtsort!

Sie suchte die Stelle des Textes, an der sie vorhin durch Richard unterbrochen worden war. »… und ferner ›Gut Rositten‹ oder ›Roselken‹. Dies Wort war jedoch kaum lesbar. Es kann also auch ganz anders geheißen haben.«

»Wir wollen versuchen, diesen Fall zu klären. Bitte, helfen Sie uns dabei. Und wenn Sie etwas wissen, schreiben Sie uns. Wir veranlassen dann alles Weitere.«

Ursula las den Text mehrmals hintereinander. Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Das Gut hieß weder Rositten noch Roselken, sondern Rodeiken. Es lag bei Insterburg, und es war das Gut Onkel Martins gewesen.

Sie schlug das Heft zu und legte es auf den Tisch zurück.

Nein, es war nicht der geringste Zweifel! Das Suchkind 312 war ihr Kind! Das Suchkind 312 lebte irgendwo in Deutschland. Es wusste nichts von seiner Mutter, die in Wiesbaden, Beethovenstraße 18, als Frau des Dr. rer. pol. Richard Gothe wohnte; es wusste nichts von seinem Vater, den der Krieg in Russland verschlungen hatte. Das Suchkind 312 trug nicht einmal den Namen seines Vaters. Es hieß Hanke, so wie seine Mutter vor ihrer Heirat geheißen hatte. Denn es war ein uneheliches Kind!

›Bitte, helfen Sie uns dabei! Und wenn Sie etwas wissen, schreiben Sie uns …‹

Ursula presste die Hände gegen die Schläfen. ›… wenn Sie etwas wissen, schreiben Sie uns!‹

Oh, sie wusste so viel darüber. Sie wusste alles. Sie war vermutlich die Einzige, die alles wusste!

Sie meinte, plötzlich ersticken zu müssen. Sie riss die Gardinen zurück und öffnete das Fenster. Gierig sog sie die kühle Abendluft ein.

Draußen auf der stillen Straße ging jemand. Ein Mann. Seine Schritte kamen langsam näher.

Ursula fühlte sich beobachtet. Sie löschte das Licht und stand nun im Dunkeln am Fenster.

Die Schritte draußen gingen am Haus vorbei und entfernten sich in der Stille der Nacht. Genau wie die Schritte damals vor zehn Jahren – Achims Schritte. Der Sand des schmalen Weges hatte leise unter seinen Schuhen geknirscht, als seine Gestalt zwischen den Bäumen der Obstwiese von Gut Rodeiken verschwunden war. Damals hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen.

Die Schritte waren verstummt. Kein Laut mehr. Nur der Nachtwind strich wispernd durch die Blätter der Bäume. –

Ursula ist plötzlich nicht mehr in Wiesbaden. Sie ist auf Rodeiken, dem Gut von Onkel Martin. Und sie ist nicht 28, sondern erst 18 Jahre alt. Sie heißt Ursula Hanke und ist vor kurzem von ihren besorgten Eltern aus Mannheim nach Ostpreußen geschickt worden. Sie soll so lange auf dem Gut von Onkel Martin bleiben, bis der Krieg vorbei ist.

Für Ursula, das Stadtkind aus dem Westen, öffnet sich eine neue Welt: die unendliche Weite der ostpreußischen Landschaft, die Schönheit der Seen, die große Stille warmer Hochsommernächte, das Mysterium sonnendurchtränkter Kornfelder um die Stunde des Pan … Und dann die großzügige Gastfreundschaft und die deftige Lebensfreude Onkel Martins, des alteingesessenen ostpreußischen Grundbesitzers.

Gut Rodeiken im Landkreis Insterburg wird für sie eine Insel unerwarteten Friedens und süßer Jungmädchenträume, trotz Krieg und Not und Zerstörung im Westen des Reiches.

Das Leben ist schön, denkt Ursula. Es ist voller Überraschungen, Freuden und kleiner Glückseligkeiten. Es ist schöner als in Mannheim. Es ist schöner, als es je gewesen ist.

Aber das Leben hat der jungen Ursula Hanke noch mehr zu bieten als dies, mehr noch als die stillen Stunden am See, mehr noch als die gelegentlichen Ritte mit dem Onkel über die Felder. Das Leben hat etwas zu bieten, vor dem alles andere zu einer Nichtigkeit verblasst.

Eines Tages kommt Achim Lenau nach Rodeiken. Achim ist Leutnant und Nachrichtenoffizier im Stabe einer Panzerabteilung, die von der Front zur Auffrischung nach Ostpreußen zurückverlegt ist. Achim ist 25 Jahre alt und im Zivilleben Student an der Technischen Hochschule Hannover.

Achim ist groß und schlank, und in seiner knappsitzenden Panzerjacke sieht er aus wie ein fleischgewordener jugendlicher Gott des Sieges.

Onkel Martin hat den Leutnant Achim Lenau sofort in sein Herz geschlossen. Und während der Gutsherr abends mit dem Abteilungskommandeur und dem dicken Stabsarzt auf der Terrasse des Herrenhauses die vorletzten Bestände seines Weinkellers leert, sieht er wohlwollend zu, wie seine Nichte mit dem Leutnant Achim Lenau ein wenig abseits sitzt. Zwischen den beiden jungen Menschen steht ein Schachbrett. Aber die Figuren bleiben unberührt …

Achim sieht Ursula in die Augen: »Wissen Sie, wie das hier ist?«

»Wie ein Paradies!«, antwortet Ursula leise.

Achim lächelt. »Ja, das wollte ich sagen. Und weshalb ist es so? Weil Sie da sind!«

Ursula errötet, aber das kann Achim in der Dämmerung nicht sehen. Ach, nicht weil ich da bin, denkt sie, sondern weil er da ist, deshalb ist es ein Paradies …

Der Stab der Panzerabteilung bleibt acht Tage auf Rodeiken. Jämmerliche, klägliche acht Tage! Was ist eine solche Zeitspanne im Vergleich zu einem ganzen Leben, das 60 oder 70 Jahre währt?

Onkel Martin veranstaltet einen Abschiedsabend für den Kommandeur, den dicken Arzt, den Adjutanten, den Zahlmeister und den Leutnant Achim Lenau. Er hält eine kleine Rede. Er sagt: »Meine Herren, wann immer Sie zu diesem gottgesegneten Fleckchen Erde kommen mögen, kehren Sie auf Rodeiken ein! Sie sind uns immer willkommen – meiner Frau, meiner Nichte und mir. Immer und unter allen Umständen!« Während er zum Abschied sein Glas hebt, sieht er den Leutnant Lenau an. Onkel Martin hat keinen Sohn, das ist sein großer Kummer. Vielleicht hat er deshalb Achim Lenau so in sein Herz geschlossen.

Nachher gehen Achim und Ursula über die Obstwiese hinter dem Gutshaus. Sie haben einander an den Händen gefasst wie zwei Kinder. Sie gehen immer weiter in die wispernde Spätsommernacht. Als sie am Rande der abgeernteten Felder stehen, küssen sie sich.

Achims Hände verlieren sich in Ursulas dunklem Haar.

Sie hat die Augen geschlossen. Sie hat alles um sich vergessen. Sie fühlt den rauen Stoff seiner Panzerjacke. Was sind Seide und Samt gegen diesen Stoff, der ein wenig nach Tabakrauch riecht, ein wenig nach Benzin, und ein wenig nach bitterem Lavendel?

Sie flüstert: »Wann kommst du wieder, Achim?«

»Bald! Wenn mir nichts passiert.«

»Es passiert dir nichts, Achim! Es darf dir nichts passieren!«

»Nein, du hast recht! Es darf mir nichts passieren. Sonst wäre das ganze Leben sinnlos.«

Sie küssen sich in trunkener Leidenschaft.

Als sie sich trennen, steht der Mond schon tief am Horizont. Ursula sieht in seinem bleichen Licht die silbernen Totenköpfe auf Achims Uniform. Sie erschrickt. Die Totenköpfe grinsen sie höhnisch an.

Wenig später bricht der Abteilungsstab auf. Ursula bleibt auf ihrem Zimmer. Sie mag Achim nicht mehr sehen. Nicht, wie er mit seinen gepanzerten Fahrzeugen davonfährt. Nicht mit den Totenköpfen auf seiner Uniform.

Die nächsten Tage sind grau und leer. Gut Rodeiken hat über Nacht seinen Zauber verloren.

Ach, dieser Krieg, dieser verfluchte Krieg!

Ursula stürzt sich in die Arbeit. Sie möchte alles vergessen, alles! Sie möchte wieder so werden wie vorher, bevor Achim nach Rodeiken kam. Aber sie kann es nicht.

Onkel Martin und Tante Helene fahren nach Königsberg. »Uschikind, du wirst uns vertreten«, sagt Onkel Martin. »Du bist unsere tüchtige kleine Haustochter. In acht Tagen sind wir zurück. Sollten Gäste kommen, tu so, als seist du die Hausfrau!«

Ursula ist froh, allein zu sein, für acht Tage die Verantwortung in dem großen Haus zu haben. Es wird viel Arbeit geben. Und Arbeit ist gut, damit man nicht dauernd an Achim denken muss und darüber nachgrübelt, wohin er wohl mit den gepanzerten Fahrzeugen gefahren ist.

Zwei Tage, nachdem Onkel Martin und Tante Helene mit dem Einspänner zur Bahn gefahren sind, hält ein grauer Wagen vor dem Gutshaus. Ursula läuft auf die Veranda. Einquartierung? Sie mag keine Einquartierung mehr.

Aus dem Wagen springt ein Offizier in schwarzer Panzeruniform.

Ursulas Herzschlag setzt aus. Es ist Achim.

»Du – wie lange bleibst du?«

»Drei Tage! In drei Tagen geht es wieder zur Front!«

»Nach Russland?«

»Lass uns nicht darüber sprechen! Es werden die schönsten drei Tage meines Lebens werden.«

Sie sieht auf die Totenköpfe an seiner Uniform. »Kannst du die Jacke nicht ausziehen?«

Er lacht. »Mit Vergnügen, wenn du mir etwas anderes geben kannst.«

Es werden die schönsten drei Tage seines und ihres Lebens. Achim trägt eine Reithose von Onkel Martin, dazu sein graues Panzerhemd, eine Jacke, die ihm der Inspektor geliehen hat, und einen zerbeulten Hut. Nun sieht er aus wie ein junger Landwirt.

Sie reiten über die kahlen Felder. Das Sattelzeug knarrt leise im gleichmäßigen Trab der schönen Tiere.

Sie hocken an den Ufern der stillen Seen und schauen stumm dem Flug der Wildenten zu.

Sie liegen im Gras am Rande einer Waldlichtung und blicken in den seidigen Septemberhimmel.

Oh, dieser September!

Sie sehen einander in die Augen und lauschen andächtig dem klagenden Ruf des Brachvogels hinter dem Moor. Und dann versinkt alles um sie. Sie stürzen in blinder Trunkenheit in die Bläue des Himmels – sie spüren den warmen Sand des Seeufers zwischen ihren verschlungenen Händen, und später hüllt die Nacht sie ein wie ein Mantel aus dunkelblauem Samt.

Es ist ein kurzer seliger Rausch, der alles vergessen lässt, die unruhige Gegenwart und die dunkle Zukunft. Es ist ein Glück, das durch die Nähe des Todes verklärt wird. Aber sie wissen nichts vom Tode. Sie wollen nichts wissen!

»Liebst du mich?«

»Ja, ich liebe dich! Oh, ich wusste nicht, dass es so etwas gibt! Wusstest du es?«

»Nein. Dass es so schön sein könnte, wusste ich nicht.«

»Warum kann es nicht immer so sein?«

»Es ist Krieg! Aber wenn der Krieg vorüber ist, dann …«

Am Abend des letzten Tages gehen sie durch den Obstgarten. Achim trägt wieder die Uniform mit den blitzenden Totenköpfen auf den Kragenspiegeln. Ursula bleibt stehen und drängt sich an ihn. »Wann kommst du wieder?«

»Bald, wenn mir nichts passiert!«

Sie streicht mit den Händen über den Stoff seiner Uniform. »Es darf dir nichts passieren, Achim, sonst hat das Leben allen Sinn verloren …«

Er zieht sie an sich und küsst sie wild. »Es kann mir nichts passieren, solange du da bist!«

Sie hält die ganze Zeit die Hände über die grinsenden Totenköpfe an seinen Kragenspiegeln.

»Nun muss ich weg«, sagt er schließlich und wartet darauf, dass sie ihn an den Wagen bringt.

Das Herz ist ihr plötzlich schwer und kalt wie ein Stein. Sie presst seine Hände. »Geh«, flüstert sie, »geh allein. Ich bleibe hier. Es ist besser. – Und sieh dich nicht mehr um! Bitte, sieh dich nicht mehr um!«

Er nimmt ihre Hände hoch und küsst sie. Dann wendet er sich ab und geht den schmalen Weg durch den Obstgarten zum Haus zurück. Sie hört seine Schritte auf dem Sand leiser werden. Sie klammert sich an den Stamm des Apfelbaumes, unter dem sie gestanden haben. Sie beißt sich auf die Lippen, um ihn nicht zurückzurufen.

Etwas später hört sie seinen Wagen anfahren. Das Summen des Motors verliert sich in der Ferne. Dann Stille, geheimnisvolle, wispernde Nachtstille über dem weiten Land.

Ihre Fingerspitzen graben sich in die raue Schale des Baumstammes. Sie weiß plötzlich, dass sie Achim nicht wiedersehen wird, dass sie ihn verloren hat, verloren an den alles zerstampfenden Krieg. Aber sie weiß noch nicht, dass sie im nächsten Jahr sein Kind im Arm haben wird.

Ursula Gothe stand noch immer in der Dunkelheit am offenen Fenster. Sein Kind! dachte sie. Ich glaubte, es sei tot. Und nun ist es neun Jahre alt, ein hübsches, ernsthaftes Mädchen, das nichts von seinen Eltern weiß.

Sie schloss das Fenster, knipste das Licht an und schlug wieder das Heft mit dem Suchkind 312 auf. Nun schien es ihr auf einmal, als hätten sich die Züge des verschollenen Leutnants Achim Lenau mit denen des blonden Mädchens auf dem Bild vermischt.

Ursula spürte plötzlich eine wilde Sehnsucht danach, das Kind Martina zu sehen, in seinem Gesicht zu suchen nach allem, was sie früher in dem Gesicht des Leutnants gefunden hatte; das Kind in den Armen zu halten, es zu schützen, ihm Liebe zu geben, ihm zu sagen: Ich bin deine Mutter! Ich glaubte, du seist tot. Nun bist du am Leben, und es hat alles doch seinen Sinn gehabt.

Einen Sinn? Welchen Sinn hat es denn gehabt? Sie dachte an Richard, der jetzt bei Lohmann saß und mit ihm die Verträge besprach. Ob die Verträge so wichtig waren? Ob sie in ihrer Wichtigkeit auch nur zu vergleichen waren mit der Bedeutung dieses kleinen Bildes in der Zeitschrift?

Ich werde es ihm sagen, dachte sie. Heute Abend noch! Wir müssen die kleine Martina zu uns nehmen. Richard kann ihr ein guter Vater sein.

Sie versuchte sich vorzustellen, was für ein Gesicht Richard machen würde, wenn sie ihm alles erzählte. Sie versuchte, sich einzureden, dass er sie lächelnd in den Arm nehmen würde. ›Uschi, warum hast du mir nie davon erzählt?‹

Sie wusste wohl, warum sie ihm nie davon erzählt hatte. Sie kannte seine Korrektheit, seine Auffassung von Moral, die seiner Ansicht nach für den Aufbau einer zusammengebrochenen Gesellschaft unerlässlich war. Da war zum Beispiel die Sache mit Jo, seiner Schwester, der er das Haus verboten hatte, aus Gründen der ›Moral und der Sauberkeit seines Rufes‹. Ursula hatte für die Schwägerin große Sympathien, aber sie opferte sie dem Glück ihrer Ehe. Richard war kein Philister, kein Spießer – aber gewisse Grundsätze waren ihm heilig. Weshalb also hätte sie ihm damals alles erzählen sollen? Das Erlebnis mit Achim lag so fern. Die schrecklichen Geschehnisse auf der Flucht – die wollte sie ohnehin vergessen. Sie hatte ein neues Leben mit Richard begonnen; weshalb sollte sie es mit Dingen der Vergangenheit belasten, die ihn vielleicht gestört hätten?

Vielleicht? Bestimmt hätten sie ihn gestört!

Aber jetzt, da sie erfahren hatte, dass ihr Kind lebte … er musste Verständnis haben. Er liebte sie ja! Und sie liebte ihn.

Voll Ungeduld wartete sie auf seine Rückkehr. Als er dann endlich kam, ging sie ihm mit klopfendem Herzen entgegen. Liebevoll küsste er sie auf beide Wangen. »Was macht der Junge?«, fragte er.

Sie erschrak. An den Jungen hatte sie den ganzen Abend nicht gedacht. »Es geht ihm gut!«, sagte sie. »Er schläft.«

Sie gingen hinüber ins Kinderzimmer und beugten sich über das Bett ihres Sohnes. Er schlief tatsächlich, er schlief den ruhigen tiefen Schlaf der Gesundheit.

Erleichtert richtete sich Ursula auf. »Komm hinüber«, flüsterte sie. »Erzähle mir, wie es war!«

Er blieb noch eine Weile an dem Kinderbett stehen. Sie konnte in seinem Gesicht die Liebe sehen, die er für den kleinen, schmächtigen Sohn empfand. Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer und begann zu berichten, wie er das jedes Mal tat, wenn er ohne sie weggewesen war. Heute tat er es mit ungewohnter Lebhaftigkeit.

»Frau Lohmann lässt herzlich grüßen. Sie bedauerte sehr, dass du nicht mitgekommen warst … Die Lohmanns sind wirklich prächtige Leute. Wir müssen viel mehr in Kontakt mit ihnen bleiben …«

Ursula hörte nur halb hin. Sie überlegte, wie sie den Übergang finden könnte zu dem, was sie ihm sagen wollte.

»Die Tochter heiratet im Herbst«, erzählte er weiter. »Es soll eine große Hochzeit werden, ganz wie früher. Der Schwiegersohn macht einen ausgezeichneten Eindruck. Er ist Jurist. Aus guter Familie. Wir sind selbstverständlich eingeladen. Vermutlich brauchst du dafür ein neues Abendkleid …«

»Ja«, sagte sie, und dann, nach einer atemlosen Pause: »Übrigens, Richard …«

Er unterbrach sie. »Du, Frau Lohmann würde gern mit dir ein paar Einzelheiten besprechen. Bitte, besuch sie doch mal in den nächsten Tagen! Sie verlässt sich sehr auf deinen Geschmack und auf deine Erfahrung. Du musst ihr unbedingt behilflich sein …«

»Ja, Richard!«

»Du, Uschi!« Er lächelte ein wenig verlegen, wie er es immer tat, wenn er von seiner Karriere sprach. »Lohmann hat auch ein paar Worte über die Besetzung der Direktorenstelle fallenlassen. Er sagt, Schulz hätte an sich genau so viel Aussichten gehabt wie ich. Aber Schulz lebt in Scheidung. Es ist da irgendeine dunkle Geschichte. Deshalb kommt er nicht in Frage. Lohmann sagt, sie legen Wert auf einwandfreie Vergangenheit und tadellose private Verhältnisse.«

Eine einwandfreie Vergangenheit!

Ursula sieht sich plötzlich im Abendkleid auf der Hochzeitsgesellschaft im Lohmannschen Hause im Nertotal. Sie sieht die imponierende Gestalt des Generaldirektors, neben ihm seine zarte, etwas scharfgesichtige Frau. Dann die anderen Direktoren mit ihren Frauen. Die Verwandten der Lohmanns, die Verwandten des Bräutigams, der aus einer ›guten Familie‹ kommt. Eine große Hochzeit. Ganz wie früher! Die Herren im Frack. Auch Richard, Leiter der Exportabteilung und künftiger jüngster Direktor des Werkes. Er macht eine gute Figur. – Dann ein Getuschel hinter ihrem Rücken: ›Das ist die Frau von Dr. Gothe. Ja, reizend sieht sie aus. Aber haben Sie schon gehört? Die Sache mit dem Kind? Nein, nicht sein Kind! Das Kind eines anderen! Ein Kriegskind sozusagen! Eine ziemlich dunkle Affäre! Und er versucht krampfhaft, sie geheim zuhalten … Wie peinlich für ihn! Er soll doch Direktor werden. Das kann ihn unter Umständen seine Karriere kosten. Nein, wer hätte so etwas gedacht? Diese charmante Frau, und so eine Vergangenheit! Ob er überhaupt davon gewusst hat, als er sie heiratete, dieser korrekte Mann?‹

Nein! Ursula kann es ihm nicht sagen! Er wird es gar nicht begreifen. Sie wird ihn in eine entsetzliche Lage bringen. Wenn sie nur an Jo denkt – wie er unter der Sache mit Jo gelitten hat. Johanna von Müller, die sich zu Richards Ärger von ihren Freunden ›Jo‹ nennen lässt. Johanna von Müller, auf deren adelige Verwandtschaft er so stolz war und die ihm durch ihre Scheidungsaffäre so viel ›Schande‹ gemacht hat …

Richard Gothe strich seiner Frau zärtlich über den Arm. »Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen. Du wirst der guten Frau Lohmann ein wenig bei den Vorbereitungen helfen, ja? Es ist sehr wichtig, dass wir mit Lohmanns in engem Kontakt bleiben, das weißt du doch.«

Sie atmete tief und zitternd ein.

Ja, das wusste sie, und sie wusste auch, wie ungeduldig er auf die Entscheidung des Aufsichtsrates wegen der Direktorenstelle wartete. Sie lächelte mühsam. »Ja, Richard, du kannst dich auf mich verlassen.« Dann küsste sie ihn. »Ich bin müde und habe ein bisschen Kopfweh. Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich schon zu Bett gehe.«

»Aber gar nicht! Gute Nacht, Liebling.« Er zupfte seine weißen Manschetten zurecht. Dann ging er zum Schreibtisch. Er hatte noch zu arbeiten. –

Ursula schloss leise die Tür, die ihr Schlafzimmer mit dem ihres Mannes verband. Sie wusste, dass das genügte, um ungestört zu bleiben. Gab es eigentlich einen rücksichtsvolleren Mann als ihn?

Sie sank auf ihr Bett und vergrub stöhnend das Gesicht im Kopfkissen. Sie sah Achims Augen, und sie sah das Bild des kleinen ernstblickenden Suchkindes. Dann dachte sie an Richard, der drüben an seinem Schreibtisch saß und für das Werk arbeitete. ›Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann‹, hatte er vorhin gesagt.

Großer Gott, was soll sie nur tun? Wohin gehört sie nun? Zu dem Suchkind, dem Kind ihrer ersten Liebe? Oder zu Richard und dem kleinen Helmut, der nebenan den Schlaf der Genesung schläft? Zu allen dreien gehört sie! Aber das geht nicht, wie eben manches im Leben nicht geht, so sehr man es sich auch wünscht.

2

Ursula fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Sie hörte, wie Richard nebenan leise zu Bett ging. Sie hörte die Uhr im Wohnzimmer schlagen. Erst zwölf, dann eins, dann zwei –

Sie stand auf und sah nebenan nach dem Jungen. Was er wohl sagen würde, wenn er plötzlich eine ältere Schwester bekäme? Wäre es nicht gut für ihn, den verwöhnten kleinen Kerl? Ach, es geht ja nicht! Es geht wirklich nicht! Sie muss sich nun entscheiden. Entweder für Richard und Helmut oder für die kleine, unbekannte Martina. Während sie darüber nachgrübelt, weiß sie schon genau, dass es nur eine einzige Entscheidung gibt! Sie muss das Bild in der Zeitschrift vergessen. Um des Glückes ihrer Familie willen und um der Karriere ihres Mannes willen.

Dann schreckt ein neuer Gedanke sie auf. Wenn nun ein anderer das Bild in der Zeitschrift sieht? In jeder Stadt, in jedem Dorf kann man sie lesen. Wenn nun irgendein Bekannter aus jener halbvergessenen Zeit sich plötzlich des Namens entsinnt und der furchtbaren Ereignisse, die sich vor fast neun Jahren im Kreise Insterburg abgespielt haben? Wenn einer nun an die Zeitschrift schriebe:

›Ja, ich habe die Mutter des Kindes gekannt. Sie hieß Ursula Hanke und lebte in den Jahren 1943 und 1944 auf Gut Rodeiken bei Insterburg.‹

Wenn der Suchdienst nach ihr, Ursula Hanke, fahnden würde? Wenn dann Richard davon erfahren würde? Wenn dann doch alles bekannt würde …?

Als die Uhr im Wohnzimmer vier schlug, schlief Ursula immer noch nicht, aber sie hatte einen Entschluss gefasst. Leise erhob sie sich, ging an ihren Schreibsekretär, holte einen Briefblock hervor und schrieb an die Redaktion der Zeitschrift nach Hamburg.

»Sehr geehrte Herren! Zu Ihrer Veröffentlichung Suchkind 312 teile ich Ihnen mit, dass ich die Mutter des Kindes gekannt habe. Frau Hanke hatte das Kind während des Transportes nach Königsberg auf einer Bahnstation einer anderen Frau gegeben, um Milch zu besorgen. Sie versäumte, genau wie ich, den Zug, der ganz plötzlich abfuhr, und hat das Kind nicht wiederfinden können. Sie ist einige Zeit später auf der Flucht umgekommen. Ich war Zeugin ihres Todes. Frau Hanke war Witwe. Sie hatte alle ihre Angehörigen verloren. Ihr Suchkind 312 ist demnach Vollwaise.

Ursula Gothe.«

Sie las das, was sie geschrieben hatte, mehrmals durch. Dann nahm sie einen neuen Bogen und schrieb den Brief noch einmal. Diesmal schrieb sie statt des Namens Hanke den Namen Haake.

Beim Adressieren des Umschlages zögerte sie. Welchen Absender sollte sie angeben? Überhaupt keinen? Sah das nicht verdächtig aus? Aber ihre eigene Adresse konnte sie unmöglich angeben. Sie überlegte eine Weile. Dann schrieb sie: »Absender: Ursula Gothe, bei Frau Johanna von Müller, Wiesbaden, Langgasse.«

Sie klebte den Umschlag zu und legte ihn griffbereit auf ihren Nachttisch.

Als sie am anderen Morgen aufstand, war es im Zimmer ihres Mannes noch still. Sie zog sich eilig an und ging leise hinaus. Sie lief durch den nebligen Morgen die Straße hinunter bis zum nächsten Briefkasten. Als sie zurückkam, hörte sie Richard im Badezimmer hantieren. Leise ging sie in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Sie war müde und zerschlagen. Aber sie fühlte sich von einem schweren Alpdruck befreit.

Der Brief Ursula Gothes lief von der Redaktion weiter zum Suchdienst des Roten Kreuzes. Dort lag er zwei Tage später auf dem Schreibtisch der zuständigen Sachbearbeiterin. Gleichzeitig mit ihm war eine Postkarte eingetroffen, die sich ebenfalls auf das Suchkind 312 bezog. Die Sachbearbeiterin verglich die beiden Mitteilungen.

»Merkwürdig«, sagte sie zu ihrer Kollegin. »Da schreibt uns eine Frau Gothe, die Eltern von Suchkind 312 seien tot. Und zur selben Zeit kommt ein Mann und erhebt Anspruch, der Vater des Kindes zu sein. Ein Mann mit einem ganz anderen Namen. Wenn doch die Leute nicht immer so ins Blaue schreiben wollten!«

»Was schreibt der Mann denn?«, fragte die Kollegin.

Die Sachbearbeiterin las die Postkarte vor. »… Ich habe heute das Bild des Suchkindes 312 in Ihrer Zeitschrift gesehen. Nach den Personalangaben und den Umständen, die Sie beschreiben, bin ich möglicherweise der Vater des Kindes. Bitte, teilen Sie mir umgehend mit, wo sich das Kind befindet und bei welcher Stelle ich den Sachverhalt nachprüfen kann.

Hochachtungsvoll!

Achim Lenau.«

Ursula Gothe versuchte, nicht mehr an das Kind zu denken. Aber es war schwer, das Bild des Kindes zu vergessen. Die ernstblickenden Augen ließen sie nicht los. Ursula zwang sich gewaltsam zu Ruhe und Gelassenheit. Doch eines Morgens wurde alles in ihr aufs Neue aufgerissen. Jo rief an.

»Tag, Uschi! Bist du allein?«

»Ja«, antwortete Ursula.

»Hier ist nämlich ein Brief für dich. Seit wann benutzt du denn Deckadressen? Du wirst doch nicht etwa …? Denk an mein tragisches Schicksal und sieh dich vor!« Jo lachte mit einer weichen, fröhlichen Stimme.

»Ein Brief? Von wem?«, fragte Ursula, obwohl sie es genau wusste.

»Der Absender ist glücklicherweise harmlos«, sagte Jo. »Suchdienst des Roten Kreuzes, Hamburg. Soll ich den Brief öffnen? Ach nein, komm, hol ihn dir. Auf diese Weise kriege ich meine reizende Schwägerin mal wieder zu sehen!«

Ursula überlegte einen Augenblick. »Du kannst ihn ruhig öffnen, Jo. Es ist sicher nur eine belanglose Mitteilung.«

»Wie du willst.«

Ursula hörte das Rascheln von Papier.

»Du«, sagte Jo dann, »so belanglos scheint mir die Mitteilung gar nicht zu sein.«

Ursulas Herz klopfte plötzlich. »Was steht denn drin?«, fragte sie erschrocken.

»Sehr geehrte Frau Gothe«, las Jo vor. »Wir danken Ihnen für Ihre Auskunft bezüglich des Suchkindes Nr. 312. Um den Fall der kleinen Martina Haake so gründlich wie möglich aufzuklären, benötigen wir noch einige Angaben von Ihnen:

Kannten Sie die Mutter näher? Wie hieß das Gut, auf dem Frau Haake gewohnt hat? Können Sie weitere Zeugen für den Tod von Frau Haake benennen? Und wissen Sie genau, dass Frau Haake Witwe war?

Dürfen wir Sie ferner bitten, Ihren Angaben eine eidesstattliche Erklärung über die Richtigkeit beizufügen?

Wir wären Ihnen im Interesse des Kindes für eine baldige Antwort dankbar.

Hochachtungsvoll! Unterschrift.«

Ursula blickte aus dem Fenster in die flammende Septemberpracht des Gartens. Eine eidesstattliche Erklärung? Um Gottes willen, das geht doch nicht! Plötzlich ist alles wie an jenem Abend vor fünf Tagen. Das Bild des kleinen Mädchens taucht wieder vor ihr auf. Angst und Hilflosigkeit überfallen sie. Eine eidesstattliche Erklärung …?

»Du«, hörte sie Jos Stimme in der Muschel, »das ist ja direkt spannend! Ein Suchkind? Das arme Wurm. Was ist das denn für eine Frau Haake?«

Ursula antwortete nicht.

»Bist du noch da, Uschi?«

»Ja.«

»Weshalb sagst du denn nichts?«

Ursula schrak zusammen. »Jo! Kann ich dich gleich mal sprechen?«

»Ja, natürlich! Wir sprechen doch miteinander!«

»Ich meine bei dir?«

»Aber selbstverständlich.«

»Dann komme ich sofort in die Stadt. Ich muss dir was erzählen. Ich brauche deinen Rat!«

Zehn Minuten später saß Ursula in einem Taxi. Während der Fahrt starrte sie auf den lebhaften Betrieb im Kurviertel. Die Wiesbadener Herbstsaison war in vollem Gange. Ein seidiger Septemberhimmel spannte sich fleckenlos über den Kuppeln des Theaters und des Kurhauses. Der Mai und der September, das waren die beiden großen Monate für die elegante Stadt.

Aber Ursula hatte heute keinen Blick für das geschäftige Bild der breiten Wilhelmstraße. Sie dachte an den Brief und die eidesstattliche Erklärung, die man von ihr forderte. Ob Jo einen Rat wusste? Der Gedanke an Jo beruhigte sie ein wenig. Jo konnte sie alles anvertrauen. Jo gehörte zu den Frauen, die über allen hemmenden Konventionen standen.

Johanna von Müller, geborene Gothe, hatte von dem Tage ihrer Scheidung an alle Beziehungen zu ihrem Bruder Richard abbrechen müssen. Denn sie war schuldig geschieden worden, und der Scheidung war ein ausgewachsener Skandal vorausgegangen. Ein Skandal, unter dem Richard Gothe fast mehr gelitten hatte als Jo selber.

Richard Gothe hasste nichts mehr als Familienaffären, die zu peinlichen Klatschereien Anlass gaben. Er hatte seiner Schwester nahegelegt, die Stadt zu verlassen. Nur unter dieser Bedingung wollte er eine lose Familienverbindung mit ihr aufrechterhalten.

Aber Jo hatte ihn ausgelacht. Sie war in Wiesbaden geblieben und hatte zum Entsetzen ihres Bruders in der Langgasse ein offenes Ladengeschäft aufgemacht. »Selbst ist die Frau!«, hatte sie gesagt. »Ich habe es satt, von der Gnade eines Mannes zu leben, und wenn er mein eigener Bruder wäre!«

Sie hatte die Konsequenzen gezogen und auf jede Fühlungnahme mit Richard und seinen Bekannten verzichtet.

Auf Ursula hatte diese selbstbewusste Haltung Eindruck gemacht. Sie hatte die Schwägerin deshalb ab und zu besucht; schon, um ihr zu zeigen, dass sie den strengen Standpunkt ihres Mannes nicht teilte.

Als Ursula das Geschäft betrat, stand Jo mit ihrer Gehilfin hinter dem Ladentisch. Sie war damit beschäftigt, einem älteren, solide aussehenden Ehepaar die Schönheit eines grausig verzierten Weinglases zu preisen. Sie tat das in fließendem Englisch mit leicht amerikanischem Akzent; denn das Ehepaar stammte offensichtlich aus dem amerikanischen Mittelwesten.

Der Mann betrachtete mit Vergnügen Jos schlanke, gepflegte Hände mit den rosa lackierten Fingernägeln. Er nahm nicht nur das Weinglas, er nahm auch noch eine ebenso teure wie scheußliche Porzellantänzerin mit rosa Spitzenröckchen.

Draußen vor Jos Geschäft stand in leidlich geschmackvollen Goldbuchstaben: Johanna Müller – Kunstgewerbe – Souvenirs.

»Gewerbe ja – aber keine Kunst«, hatte Ursula einmal gesagt, und Jo hatte lächelnd erwidert: »Mein liebes Kind, der Krimskrams da vorn ist für die Amis. Sie zahlen hohe Preise und ermöglichen es mir dadurch, mir selber ein paar wirkliche Kunstwerke anzuschaffen. Es ist also ein Gewerbe, das auch der Kunst zugutekommt. Daher der Name Kunstgewerbe.«

Jo brachte ihre Kundschaft bis zur Tür. Dann zog sie die Schwägerin in das Zimmer hinter dem Laden. Sie fasste Ursula bei den Schultern und betrachtete forschend ihr Gesicht. »Du siehst nicht gut aus. Hängt das mit dem Brief zusammen?«

Ursula nickte stumm.

»Komm, setz dich!« Jo reichte ihr den Brief. ›Betrifft Suchkind 312‹ stand gleich in der ersten Zeile.

Ursula las ihn noch einmal durch. Dann sah sie auf. »Es ist mein Kind, Jo!«, sagte sie tonlos.

»Dein Kind?«, schrie Jo. Sie schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund. »Du lieber Himmel! Wieso denn?«

»Es ist am 22. Juni 1944 geboren. Ich habe es im Januar 45 auf der Flucht verloren.«

Aufgeregt riss Jo ihr den Brief aus der Hand. »Aber es heißt doch Haake!«

»Es heißt Hanke!«

»Und Richard …?«

Ursula zuckte die Schultern.

»Natürlich«, sagte Jo. In ihrer Stimme lag etwas wie Spott und Verachtung. »Wie konnte ich nur so dumm fragen!« Sie blickte auf den Brief. »Du hast dem Suchdienst also geschrieben, dass …« Ihr wurde plötzlich klar, in welcher Not ihre Schwägerin war. »Moment, bitte!« Sie ging in den Laden, kam nach einigen Minuten zurück und schloss die Tür hinter sich ab. »Wir sind für die nächste Stunde ungestört. Wenn du willst, kannst du mir alles erzählen.«

Jos weiche, tröstliche Stimme tat Ursula gut. Sie begann leise und stockend zu berichten. Sie erzählte von Rodeiken, von Onkel Martin und Tante Helene, von dem Leutnant Achim Lenau und von den drei glücklichsten Tagen ihres Lebens, mitten im Krieg und angesichts des drohenden Unheils, das damals schon unaufhaltsam heranrückte.

Je länger sie sprach, desto flüssiger formte sie die Sätze. Sie vergaß die Umgebung, in der sie sich befand, sie vergaß, dass Jo neben ihr saß. Die letzten zehn Jahre versanken, und die Vergangenheit stieg wieder auf …

Über den umgepflügten Feldern von Rodeiken ist der September verglüht. Der Oktober betupft den Buchenwald am See mit seinen brennenden Farben. Der klagende Ruf des Brachvogels hinter dem Moor verklingt. Ursula lauscht ihm nach wie einem fernen Zauberklang.

Onkel Martin und Tante Helene sind längst aus Königsberg zurück. Gut Rodeiken rüstet sich für den Winter. Es wird still auf dem Hof. Die Abende werden länger. Nur selten kommen Gäste. Ursula ist froh über die Einsamkeit. Sie mag keine fremden Menschen sehen. Sie will allein sein mit sich und den Briefen. Fast täglich kommt solch ein Brief, vollgeschrieben bis an den Rand mit einer kleinen, schrägen Bleistiftschrift.

Wenn die Briefe kommen, geht Ursula mit ihnen auf ihr Zimmer. Onkel Martin zwinkert seiner Frau zu. »Ich hoffe, du hast damals meine Briefe auch so ernst genommen!«

»Natürlich!«, sagt Tante Helene empört. »Aber so eifrig hast du ja nicht geschrieben.«

Onkel Martin streicht ihr über das angegraute Haar. »Dafür habe ich dich öfter besucht. Weißt du noch …?«

Dann bleiben die Briefe aus. Tagelang. Wochenlang. In Ursula kriecht die Angst hoch.

Onkel Martin betrachtet sie unruhig. Sie ist blass und verstört. Sie isst kaum. Sie macht ihm Sorge.

Onkel Martin sagt: »Kind, es ist Krieg! Und die Feldpost kann nicht immer so funktionieren wie unsere gute alte Reichspost!«

Ursula zieht ihren Mantel an und läuft verzweifelt nach draußen. Ein kalter Herbstwind fegt über die Felder. Die Bäume im Obstgarten sind kahl. Ursula blickt über das weite Land nach Osten. Achim, denkt sie, du musst zurückkommen!

Ihr wird schwindelig. Sie schließt die Augen und hält sich an dem Stamm eines Apfelbaumes fest. Der Schwindel will gar nicht weggehen. Und schlecht ist ihr vor Angst. So schlecht!

Vor Angst?

In diesem Augenblick überkommt sie die Erkenntnis. Großer Gott! Sie horcht in sich hinein. Es ist still in ihr; aber sie fühlt plötzlich, was mit ihr geschehen ist.

Achim, du musst wiederkommen!

Verstört rennt sie zum Haus zurück und schließt sich mit Achims Briefen ein. Wenn Achim nicht zurückkommt? Wenn Achim nicht zurückkommt …

Am Nachmittag klopft Onkel Martin an ihre Tür. »Aufmachen!«, schreit er fröhlich. »Post! Wichtige Post! Aufmachen!«

Ursula dreht den Schlüssel herum und reißt die Tür auf.

Strahlend steht Onkel Martin vor ihr. Er hat einen ganzen Packen Feldpostbriefe in der Hand. »Von einem gewissen Leutnant Lenau«, dröhnt er.

Um Ursula wird es dunkel. Als sie erwacht, liegt sie auf dem Bett, und Onkel Martin betupft ihre Stirn mit einem feuchten Taschentuch. »Kind«, sagt er kopfschüttelnd. »Dass man aus Freude in Ohnmacht fallen kann!«

Ursula lächelt gequält und blickt auf Achims Briefe. Sie reißt den ersten auf.

»Was schreibt er denn?«, fragt Onkel Martin.

Ursula liest einige Sätze vor: »… Wir waren drei Wochen eingeschlossen. Nun haben wir es geschafft. Ich hoffe zu Weihnachten auf Urlaub … Ob ich dann wohl nach Rodeiken kommen darf? Die Reise dahin ist nicht so lang wie nach Hannover. Außerdem habe ich in Hannover niemanden, der mich so interessiert wie die Leute in Rodeiken …«

Onkel Martin lacht behäbig. »Er soll ruhig kommen, der Junge! Wir freuen uns!«

Er steht ächzend auf. »So, nun werde ich dich mit deiner Lektüre allein lassen.«

Nachher sagt Onkel Martin zu seiner Frau: »Stell dir vor, Lenchen, das Kind ist aus lauter Freude über die Briefe von dem Bengel regelrecht in Ohnmacht gefallen!«

Tante Helene runzelt nachdenklich die Stirn. Ein achtzehnjähriges, gesundes Mädchen wird vor Freude ohnmächtig? Das gibt es doch nicht! Das hat es vielleicht vor hundert Jahren mal gegeben. Irgendwas stimmt da nicht.

Eine ganze Weile sitzt sie ihrem Mann wortkarg gegenüber. Dann steht sie auf. »Ich will mal nach dem Kind sehen.«

»Stör sie doch nicht«, brummt Onkel Martin. »Sie ist bei ihren Briefen!«

Aber Tante Helene geht trotzdem.

Sie bleibt ziemlich lange. Als sie zurückkommt, ist ihr Gesicht gerötet. »Martin!«, sagt sie. »O mein Gott, Martin! Uschi … es ist schrecklich. Und wir sind dafür verantwortlich …« Sie bricht in Tränen aus.

Onkel Martin ist erschrocken aufgesprungen. »Was ist denn los, Lenchen? Herrgott, so rede doch!«

»Mein Gott«, schluchzt Tante Helene, »wie sollen wir deinem Bruder vor die Augen treten … Wir hätten sie nicht allein lassen sollen!«

Onkel Martin wird ungeduldig. Ihm dämmert endlich etwas. »Hör auf mit der Flennerei!«, raunzt er seine Frau an. »Sag endlich, was passiert ist, zum Donnerwetter!«

Tante Helene sieht ihn mit verweinten Augen anklagend an. »Sie kriegt ein Kind!«

Eine Weile verschlägt es Onkel Martin den Atem. Dann sagt er etwas, was seiner Frau das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er sagt einfach: »Na, und?«

Tante Helene versteht die Welt nicht mehr. Sie ist von ihrem Mann allerlei Überraschungen gewohnt, aber dies? Ist er denn ganz von Gott verlassen?

Onkel Martin drückt seine verzweifelte Frau in einen Sessel. »Nun pass mal auf, Lenchen!« Er legt die Hände auf den Rücken und geht bedächtig vor ihr auf und ab. »Also sie kriegt ein Kind! Ich gebe zu, in normalen Zeiten wäre das für uns ziemlich peinlich. Die Zeiten, in denen wir leben, sind so unnormal, wie sie noch nie gewesen sind. Unnormal und hart. Man muss mit ihnen fertig werden …«

Tante Helene weint still vor sich hin. »Mein Gott, Martin, wie willst du das deinem Bruder beibringen? Du weißt doch, wie er ist!«

Onkel Martin wird wütend. »Verdammt noch mal, nun mach nicht so ein Getue! Es ist Krieg! Ein verdammt ernster und blutiger Krieg! Da gibt es weiß Gott wichtigere Dinge als den gesellschaftlichen Ruf eines achtzehnjährigen Mädchens! Viel wichtigere Dinge, Lenchen! Zum Beispiel, dass dieser prachtvolle junge Mann heil nach Hause kommt! Und dass wir Uschi über ihre schwere Zeit hinweghelfen!«

Tante Helene schüttelt voller Verzweiflung den Kopf. Immer wieder. »›Prachtvoll‹ nennst du das?«