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Die Ostdeutschen

25 Wege in ein neues Land

DIE OST

DEUTSCHEN

25 Wege
in ein neues Land

Ein Gemeinschaftsprojekt mit credo:film,
RBB-Fernsehen und Berliner Zeitung

Ch. Links Verlag, Berlin

Mit Fotos von Markus Wächter (23) und Paulus Ponizak (2).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Februar 2015 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2014)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Logos
von credo:film für die Reihe
Satz: Susanne Raake, Ch. Links Verlag, Berlin

Inhalt

Frank Junghänel: Der Seelenverkäufer

Robert Schneider ist Chefredakteur der Zeitschrift Super-Illu und will seinen Lesern nicht dauernd erzählen, wie es früher war.

Sabine Rennefanz: Wie schwach ist der Mensch?

Andrea von Malottki arbeitet in der Schweriner Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde. Sie kam eher zufällig dorthin.

Julia Haak: Wasser, Mehl, etwas Salz

Bäcker Thomas Hacker rührt seinen Teig noch wie zu DDR-Zeiten an. Mit dem Begriff Ostschrippe kann er trotzdem nichts anfangen.

Alice Ahlers: Die Rückkehrer

Nach der Wende verloren die Chemiker Christine Wedler und Hans Schick ihre Arbeit. Doch sie kämpften sich zurück und gründeten eine eigene Firma.

Rudolf Novotny: Brust raus, Bauch rein

Heidi Wittwer war früher Stripperin und hieß Yasmyna. Heute leitet sie eine Erotik-Tanzschule bei Leipzig.

Frederik Bombosch: Heimat ist Heimat

In der DDR ist Ingolf Kühn Lastwagen gefahren. Nach der Wende wurde er Airbrush-Künstler – und damit reich.

Karin Bühler: Immer mal überraschen

Felix Menzel ist ein exzellenter Ringer, für Luckenwalde kämpft er in der Bundesliga. Doch davon kann man nicht leben.

Jochen Knoblach: Der sorglose Abenteurer

Rolfeckhard Giermann war mal Handelsattaché der DDR im Irak und Geschäftsmann zwischen den Systemen.

Maxim Leo: König August

Judy Lybke wollte eigentlich Kosmonaut werden. Heute ist er einer der erfolgreichsten deutschen Galeristen und verkauft Kunst bis nach Hollywood.

Susanne Rost: Am liebsten barfuß

Dietmar Frick wäre in der DDR gern Arzt geworden, aber er durfte nicht. Als Musiker hat er seinen Frieden gefunden.

Paul Linke: Hellgrün ist das neue Leben

Für Leopold Jahn aus Probstzella war der Westen immer im Süden. Heute ist er Naturführer und zeigt Touristen den einstigen Grenzstreifen zwischen Thüringen und Bayern.

Lutz Pehnert: Fluche, Seele, fluche

Anne-Katrin Scharlach hat immer gern in der Oberlausitz gewohnt, ist dann aber der Arbeit wegen nach Westfalen gezogen.

Jens Blankennagel: Der Humor Gottes

Janette Obara ist recht allein unter Atheisten.

Sie ist Pfarrerin in der Altmark.

Kerstin Krupp: Die zweite Reihe

Ursula Kleinert hat als junge Frau im Oktoberklub gesungen. Das politische Lied hat sie nie losgelassen.

Susanne Lenz: Auf dem Mittelweg

Siegfried Bülow war einst für die Produktion des Barkas zuständig. Heute ist er der Chef des Leipziger Porsche-Werks.

Nancy Krahlisch: Der Regen wird kommen

Mestlin war einst ein sozialistisches Musterdorf. Nach der Wende ging es bergab, viele Bewohner zogen weg, Verena Nörenberg-Kolbow aber ist geblieben und wurde die Chefin der LPG.

Cornelia Geißler: Mit Leib und Seele

Ingrid Beyer war Kunstfunktionärin in der DDR. Kommunistin ist sie heute noch.

Carmen Böker: Rastlos

Für Autorin Andrea Hanna Hünniger waren die neunziger Jahre ein weißes Jahrzehnt, geprägt von der Schockstarre der Eltern.

Thomas Leinkauf: Eisern Union

Wie der ehemalige Betriebsdirektor Wolfgang Becker zusammen mit der Belegschaft ein Chemnitzer Traditionsunternehmen gerettet hat.

Anne Lena Mösken: Dann war’s das auch

Lutz Pokall war Nachrichtensprecher beim Berliner Rundfunk. Heute verkündet er auf der Galopprennbahn Hoppegarten die Wettquoten.

Katrin Bischoff: Eine Frage des Prinzips

Bianca Urban, die Bürgermeisterin von Märkisch Buchholz, ist eine kompromisslose Frau.

Andrea Beyerlein: Der Evolutionär

Der Journalist Christoph Dieckmann hat in Reportagen und Büchern immer wieder den deutschen Osten vor und nach der Vereinigung beschrieben.

Petra Ahne: Die Frau mit Plan B

Doris Derfling gründete nach dem Mauerfall mit ihrem Mann ein Fuhrunternehmen. Das ging schief. Heute leitet sie eine Schuldnerberatung in Berlin.

Marcus Weingärtner: Ohne Punkt und Komma

Jürgen Kuttner war zur richtigen Zeit am richtigen Ort der richtige Mann. So ist er zu einer Kultur-Marke in Berlin geworden.

Susanne Lenz: Die Nacht seines Lebens

Harald Jäger ließ am 9. November 1989 den Grenzübergang Bornholmer Straße öffnen.

Anhang

Ein dokumentarisches Gemälde

Von Susann Schimk und Jörg Trentmann, credo:film

Das Land der zwei Schlauchboote

Von Lutz Pehnert, Regisseur

Leben und erleben nach 1989 – ein Fernseh-Event

Christoph Singelnstein, Chefredakteur des Rundfunk Berlin-Brandenburg

Der skeptische Blick

Von Bettina Cosack, Berliner Zeitung

Lebensgeschichten als innerer Programmauftrag

Von Christoph Links, Ch. Links Verlag

Der Seelenverkäufer

Robert Schneider ist Chefredakteur der Zeitschrift
Super-Illu und will seinen Lesern nicht dauernd
erzählen, wie es früher war. An einen Ossi-Code
glaubt er aber trotzdem.

Von Frank Junghänel

Wenn sich Robert Schneider eine Geschichte für die Super-Illu wünschen dürfte, in der alles so zusammenpasst, wie er sich das gern vorstellt, könnte er gleich bei sich selbst anfangen. Schneider ist jung, sympathisch, fotogen, er ist erfolgreich und kommt aus dem Osten. Besser geht’s eigentlich gar nicht. Und dann sitzt er an diesem Freitag mit dem Layouter Roy Grabowski vor dem Monitor und sagt einen Satz, von dem er nie gedacht hätte, dass er ihn einmal sagen würde: »Mach mir doch mal die Dagmar groß.« Die Dagmar. Zwanzig Jahre Super-Illu in einem Wort. Für viele, selbst in der eigenen Redaktion, ist es ein Wort des Grauens. Zwanzig Jahre lang spielte die DDR-Schlagersängerin Dagmar Frederic das Maskottchen der Super-Illu, ungezählt sind ihre Titelbilder, der frühere Chefredakteur war ihr Trauzeuge. Nun, da es eine neue Entwicklung in dem bizarren Erbschaftsstreit gibt, in den sie verwickelt ist, müsse man sie noch mal groß machen, findet sein Nachfolger Schneider. Als dann das Bild der Frau auf dem Schirm erscheint, stöhnt Grabowski nur: Oh Gott. Er dachte, das hätten sie hinter sich.

»Das ist mein erster Frederic-Titel, seit ich hier bin«, verteidigt sich Schneider. »Sie hat mir aber auch nicht gefehlt.« Er schnellt mit seinem Bürostuhl zurück und überrollt dabei um ein Haar Dolly, den Chihuahua-Mischling seiner Freundin Leyla Piedayesh, auf den er heute aufpassen muss, weil das Frauchen, die Chefin des Labels Lala Berlin, für ein paar Tage zu einer Modenschau nach Paris geflogen ist. In der Mittagspause bringt er rasch noch deren Tochter zum Kindergeburtstag. Iranische Freundin, Patchworkfamilie, Paris – das klingt nicht nach dem Fluidum der guten alten Suppen-Illu, wie das Blatt mitunter auch genannt wird.

Als Robert Schneider im April 2011 die Redaktion der Super-Illu übernahm, war er ein Versprechen auf die Zukunft, und das ist er geblieben. Während sein bayerischer Vorgänger Jochen Wolff schon mal im Trachtenjanker in der Redaktion in Berlin-Mitte erschien, trägt Schneider bei der Arbeit ein verschossenes T-Shirt, allerdings mit einem eleganten Schal kombiniert. Das Blattmachen bei einer Boulevardzeitung hat er im Springer-Verlag gelernt, wo er zuletzt als Stellvertretender Chefredakteur für die Bild am Sonntag zuständig war. Seine Mitarbeiter sagen, er sei lockerer als Wolff, aber auch chaotischer. Entscheidungen treffe er oft aus dem Bauch heraus. Doch Spontaneität, so komisch das klingt, mögen Journalisten nicht gern. Am liebsten haben sie Konzepte. Und auf das Konzept, wie es mit der Super-Illu weitergehen soll, warten sie noch immer. Schneider hat am Layout gewerkelt, Schriften verändert, Rubriken eingeführt, den Politikteil aktualisiert. Er kann am Heft so viel herumdoktern, wie er will, er wird die Frage beantworten müssen, wie zeitgemäß eine Illustrierte ist, die sich exklusiv den Ostdeutschen verpflichtet fühlt, da längst eine Generation herangewachsen ist, die sich nicht mehr so einfach nach Ost und West unterscheiden lässt. Seine Generation. Schneider war dreizehn, als die Mauer fiel.

»Mit 2,9 Millionen Lesern ist die Super-Illu die meistgelesene Zeitschrift in Ostdeutschland.« Wie ein Mantra wird dieser Satz in jeder Ausgabe auf der Aufschlagseite rechts oben wiederholt. Die Leser sind das eine, die verkaufte Auflage ist das andere. Und die geht dramatisch zurück. Allein in den letzten fünf Jahren ist sie um ein Viertel gesunken. Derzeit beträgt sie circa 337 000 Exemplare. In den Anfangsjahren waren es fast dreimal so viel. Andere verlieren auch, aber die Super-Illu, die seit 1990 im Burda-Verlag erscheint, hat ein spezielles Problem: Was wird aus der Zeitschrift, die die Ostdeutschen praktisch erfunden hat, wenn es keine Ostdeutschen mehr gibt?

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Das kann einem Robert Schneider auf die Schnelle auch nicht sagen. Jedenfalls will er nicht der Mann von morgen sein, der die Zeitung von gestern macht, selbst wenn es manchmal danach aussieht. Er hat schon Ideen, die Super-Illu zu modernisieren. »Nach 25 Jahren ist es klar, dass wir die Leute nicht mehr allein mit Erwin Geschonneck und Dagmar Frederic unterhalten können«, sagt er mit diesem leichten Akzent, der bei jedem assimilierten Sachsen durchklingt. »Wir müssen nicht dauernd erzählen, wie es früher war. Genauso interessant ist doch, was heute passiert. Es gibt großartige Leute, die aus unserer Region kommen und tolle Sachen machen.« Die Schauspielerin Karoline Herfurth aus dem Kinohit »Fack ju Göhte« fällt ihm dazu ein, Tom Schilling, der Sänger Tim Bendzko. Sein Traum sei es, Schriftsteller wie die Buchpreisgewinner Clemens Meyer und Eugen Ruge für die Illustrierte zu gewinnen. Er ist sehr stolz darauf, dass die Autorin Jana Simon bei ihm einen Text über ihre Großeltern Christa und Gerhard Wolf veröffentlicht hat. Als »Hort der Erinnerung und Reflexion« schwebt ihm die Super-Illu vor, »als Debattenplattform«. Und wenn er aufwacht aus seinem Traum, sieht er die Volksmusikanten Marianne und Michael auf dem Titelbild und dazu die Schlagzeile »Unsere Lebensbeichte«.

Dazu muss man wissen, dass Schneider während der Schulzeit Sänger in einer Band gewesen ist, sie haben damals Britpop gespielt, Oasis, die Charlatans. Paul Weller ist sein Held. Er verpasst kein Konzert von ihm. Bevor er bei der Super-Illu angefangen hat, kannte er nicht einmal Frank Schöbel.

Bevor er bei der Super-Illu angefangen hat, kannte er ja nicht einmal die Super-Illu. Sie hatte bis dahin für ihn keine Rolle gespielt. Seine Eltern lesen sie bis heute nicht. Und so muss sich Robert Schneider nun als Chefredakteur Gedanken darüber machen, warum eigentlich jemand wie er seine eigene Zeitschrift lesen sollte. Einerseits ist das zum Verrücktwerden, andererseits aber auch interessant. Er habe in den drei Jahren bei der Super-Illu mehr über sich und das Land, aus dem er kommt, erfahren als in den drei Jahrzehnten zuvor, sagt Schneider.

Geboren wurde er 1976 in Leipzig, seine ersten Lebensjahre war er in Magdeborn zu Hause, einem südlich der Stadt gelegenen Dorf, das alsbald für die Braunkohle weggebaggert wurde. »Als ich vier war, sind viele Leute nach Leipzig ins Neubaugebiet gezogen. Meine Eltern haben ein kleines Grundstück in Wachau gekauft, einem Dorf in der Nähe, und dort über drei Jahre mit Freunden Stein auf Stein ein Haus gebaut. Die typische DDR-Häuslebauergeschichte.« Sein Vater hatte Maurer mit Abitur gelernt, seine Mutter ist Kindergärtnerin von Beruf. Mit dem Wartburg sei die Familie fast jedes Jahr ins Ausland gefahren. Tschechien, Ungarn, Polen, einmal ging es über Rumänien bis nach Bulgarien. Das Ersparte investierten die Schneiders in den Urlaub, dafür hatten sie bis 1988 keinen Fernseher. Mit sechzehn ist er bei den Eltern ausgezogen, hat Abitur gemacht, wenn auch kein besonders gutes. Journalist wollte er werden, weil er schon als Kind gerne Zeitung las, sagt er. Seine damalige Freundin, »eine Rockerbraut mit hellblauem Käfer«, war zu der Zeit Volontärin bei der Bild-Zeitung in Leipzig, seltsamerweise, wie er heute findet. Eigentlich fühlten sie sich eher in der alternativen Szene wohl. »Zur Bild-Zeitung bin ich gegangen, nicht weil es die Bild-Zeitung war, sondern um mit meiner Freundin zusammen zu sein. Mit ihr war dann relativ schnell Schluss, aber der Job hat mir Spaß gemacht.«

Zum Studieren ist er nicht gekommen, es ging auch so. Kollegen wie Kai Diekmann und Franz Josef Wagner zeigten ihm, wie’s geht. »Ich war immer so eine Art Chefredakteurslehrling. Mich hat interessiert, wie man eine Geschichte spannend erzählt.«

In den 25 Jahren seit dem Mauerfall hat er zwanzig Jahre als Journalist gearbeitet und das in einem Dutzend Redaktionen, er war zweimal verheiratet, wurde zweimal geschieden, hat einen siebjährigen Sohn und ist allein in Berlin bisher achtmal umgezogen. Zurzeit wohnt er im Wedding, auch mal schön, »richtig fett Straße«, wie er sagt. Er sucht aber schon wieder was Neues. Man kann sagen, dass er seine Zeit genutzt hat.

Als Robert Schneider von den Leipziger Tagen erzählt, fällt er ab und zu ins schönste Sächsisch zurück. Er sagt, das passiere ihm eigentlich nur, wenn er mit Ostdeutschen zu tun habe. »Ich lasse mich dann eher fallen, bin nicht so kontrolliert.« Es sieht so aus, als sei das mit den verschwindenden Identitäten doch nicht so einfach. Vielleicht sitzt der Ossi-Code, von dem er spricht, wenn er an seine Leser denkt, auch bei ihm tiefer als er das wahrhaben möchte.

Jemand, der sich mit den Ostdeutschen so gut auskennt wie kaum ein anderer, ist der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz aus Halle. In seinem Buch »Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR« beschreibt er, welchen Einfluss familiäre Beziehungen und staatliche Strukturen auf die Entwicklungspsychologie der Menschen in der DDR gehabt haben. Erschienen ist es 1990, im selben Jahr wie die erste Ausgabe der Super-Illu. Wenn man auch sagen muss, dass sie sich von zwei sehr verschiedenen Seiten der ostdeutschen Seele widmen, kommen sie doch zu überraschend ähnlichen Befunden.

Hans-Joachim Maaz sagt, dass er nur zur Super-Illu greife, wenn sie zufällig irgendwo liege. Aber ihm imponiere durchaus deren Idee. Er nennt das nicht Ostalgie, sondern Rückbesinnung. »Dass es dort ein Bemühen gibt, den Alltag in der DDR zu würdigen, hat für mich einen therapeutischen Wert.«

»Ostdeutsche ticken anders«, lautet etwas verkürzt das Fazit des Psychotherapeuten, der viele Jahre Chefarzt im Diakoniewerk Halle gewesen ist und seit seiner Pensionierung in einer Gründerzeitvilla gleich nebenan praktiziert. Die äußerliche Transformation zum Westdeutschen, wenn man es so nennen wolle, sei vor allem bei den Jüngeren vollzogen, sagt Maaz. In der Ausbildung und den Chancen gebe es keine Unterschiede mehr. »Aber sie merken, dass sie von ihren ostdeutschen Eltern etwas mitbekommen haben, das sie in die westlich geprägte Welt einbringen können.« Er denke an Werte wie Bescheidenheit, soziale Auskömmlichkeit, die Fähigkeit, Schwächen einzugestehen, auch Peinliches anzusprechen. Seine Hoffnung ist es, dass sich diese eher östlichen Beziehungsqualitäten in den folgenden Generationen mit westlicher Durchsetzungskraft verbinden und dem Willen, Verantwortung zu übernehmen. Das wäre dann so etwas wie der neue Mensch.

Bei Jochen Wolff, der die Super-Illu einst miterfunden hat, klingt das so: »Die jüngere Generation hat eine dünne Schale. Wenn du da dran klopfst, kommt sofort wieder der Osten zum Vorschein. Es ist inzwischen ein gewisser Stolz auf die Heritage Ost da.« Das ostdeutsche Erbe. Ab und zu schaut Wolff noch in der Redaktion vorbei, um einen Blick auf jenes Erbe zu werfen, das ja irgendwie auch sein Erbe ist. Er strahlt die Gelassenheit eines Menschen aus, der zufrieden mit seinem Werk ist. Eine kleine Galerie in der Redaktion zeigt Fotografien mit Prominenten. Auf einem Dutzend ist Jochen Wolff zu sehen, mit Kohl, mit Steinmeier, mit Thierse, mit Angela Merkel. Die Politiker haben immer sehr gern mit der Super-Illu gesprochen. Für sie ist die Zeitschrift der Draht in den Osten, und allzu unbequeme Fragen müssen sie nicht befürchten.

Vor ein paar Wochen wurde das Blatt sogar im Plenum des Bundestags erwähnt. Bei der Aussprache zum Stand der deutschen Einheit sagte Roland Claus von der Linkspartei: »Ich habe natürlich keinen Grund, hier Werbung für die Super-Illu zu machen, aber sie wird deshalb im Osten gelesen, weil sich die Leute dort mit ihrem Lebensgefühl wiederfinden.« Darauf rief ein Thüringer CDU-Mann: »Sehr gute Zeitung, Herr Claus!« Schneider konnte sein Glück kaum fassen und hat auf der Leserbriefseite gleich das ganze Redeprotokoll abgedruckt.

Bei der Frederic-Ausgabe haben sie sich inzwischen weiter ins Heft vorgearbeitet. Robert Schneider sitzt die ganze Zeit mit dem Grafiker zusammen, stundenlang. Er kontrolliert die Fotoqualität, prüft den Zeilenabstand, greift auch mal selbst zur Maus, wenn ihm was nicht schnell genug geht, was jeden Layouter wahnsinnig machen würde, nur Roy Grabowski nicht. Es gibt fast keine der 85 Seiten, die der Chefredakteur nicht persönlich betreut. Die Fotos zu einem Interview mit dem Schauspieler Thomas Kretschmann lässt er komplett auswechseln. Sie sind ihm alle zu männlich. »Komm, nimm das«, sagt er zu Grabowski. »Das ist so ein schüchterner Ossi-Blick.« Grabowski, selbst Ostler, weiß nicht, was das sein soll, ein schüchterner Ossi-Blick, aber wenn der Chef es so will. Er ist ja hier nicht nur der Geschichtenerzähler, er verkauft mit jedem Heft auch ein bisschen ostdeutsche Seele.

Jetzt gibt es nur noch ein akutes Problem, den Hals von Dagmar Frederic. »Soll ich Daggi glätten«, fragt die Bildbearbeiterin in Schneiders Richtung. »Früher musste ich sie glatt ziehen wie Sau.« Der Chefredakteur schaut sich das Bild an. Er sagt, er wolle so natürlich wie nur möglich bleiben. Bei der Super-Illu sind neue Zeiten angebrochen.

Wie schwach ist der Mensch?

Andrea von Malottki arbeitet in der Schweriner
Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Sie kam eher zufällig dorthin. Jetzt ist sie dort
Detektivin und Therapeutin zugleich.

Von Sabine Rennefanz

Andrea von Malottki steht auf der Leiter in ihrem Haus bei Schwerin, als sie im Radio plötzlich eine bizarre Liebeserklärung vernimmt.

Andrea von Malottki ist damals 28 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, arbeitet als Bibliothekarin. Ihr Leben in einem Dorf bei Schwerin hat etwas Weltabgewandtes, einen Fernseher haben die Malottkis nicht. Der Tag, an dem die Übertragung aus der Volkskammer im Radio läuft, ist der 13. November 1989. Auf einmal diese Stimme, fast winselnd: »Ich liebe doch alle Menschen.« Andrea von Malottki hört regungslos zu, ein Zitat fällt ihr ein, Hamlet, von ihrem geliebten Shakespeare: »Die Welt ist aus den Fugen.«

Vier Tage zuvor ist die Mauer geöffnet worden, das Land, in dem Andrea von Malottki groß geworden ist, wankt. Nichts scheint mehr sicher zu sein. Wenn jetzt der verhasste Stasi-Chef von Liebe spricht – was kommt als Nächstes?

Das ist inzwischen 25 Jahre her. Andrea von Malottki ahnte damals noch nicht, wie viel sie mit Erich Mielke und seiner Hinterlassenschaft zu tun haben würde, sie ahnte noch nicht, dass Mielkes Akten ihr Leben prägen würden.

Andrea von Malottki steht im Keller der Stasi-Unterlagen-Behörde Schwerin. Vor ein paar Jahren ist das Amt aus dem Stadtzentrum in ein ehemaliges Armeegebäude auf dem Land gezogen, einsam steht der dreistöckige Mehrzweckbau auf einem Feld, zweimal am Tag kommt der Bus vorbei. Nicht gerade ideal für ein Amt, das die Aufmerksamkeit der Menschen braucht.

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Andrea von Malottki führt die Gäste in den Bauch des Gebäudes, um die Aktensammlung zu zeigen. Sie ist blond, freundlich, mit warmen, wachen Augen.

Sie öffnet mit einer Karte die gesicherte Tür zu den Räumen, in dem die Papiere lagern, die nach der Wende aus der Schweriner Stasi-Zentrale gerettet wurden. Tausende Sammelordner stehen in hohen Metallschränken, beschriftet mit geheimnisvollen Abkürzungen wie AIM, AKAG, VPI, ZPDB. Die Stasi benutzte eine eigene Sprache, das musste Andrea von Malottki lernen, als sie 1991 anfing. Inzwischen muss sie nur eine Registriernummer sehen, und ihr fällt ein Schicksal dazu ein. Keiner in der Außenstelle Schwerin ist so lange dabei wie sie. Sie war schon hier, als der spätere Bundespräsident Joachim Gauck Bundesbeauftragter wurde und das Amt so sehr prägte, dass es lange seinen Namen trug. Gauck-Behörde. Inzwischen wird die Behörde von dem ehemaligen Journalisten Roland Jahn geleitet.

Wenn man alle Akten hintereinander aufstellen würde, dann ergäbe sich eine über 2500 Meter lange Reihe. Allein aus dem Bezirk Schwerin. Im Vergleich zur Datensammelwut des US-Geheimdienstes NSA wirkt das vielleicht wenig, aber die Stasi hatte damals auch noch kein Internet zur Verfügung. »Zum Glück«, sagt Andrea von Malottki.

Am Anfang, in den neunziger Jahren, saß sie oft unten im Keller und las Akten, wie im Fieber, ohne auf die Uhr zu schauen, entsetzt über die Schweinereien, die in dem Land passiert waren, das sie zu kennen meinte. Als stellvertretende Leiterin der Behörde hat sie inzwischen nur noch mit besonderen Fällen zu tun, bei denen sie die Antragsteller berät. Oben im ersten Stock liegt ihr Büro, funktional eingerichtet, Raufaser, Auslegeware, Grünpflanze.

Sie erklärt, wie man einen Antrag formuliert, wie man die Akten liest, was Schwärzungen bedeuten. Auf ihrem Schreibtisch liegt der Fall einer jungen Frau, die den Verdacht hatte, dass ihre Großmutter IM war. Seit einer Gesetzesnovellierung erlaubt das Stasi-Unterlagengesetz, dass Enkel und Kinder sich nach verstorbenen Angehörigen erkundigen können. In dem konkreten Fall fand Andrea von Malottki Akten, die belegen, dass nicht nur die Oma, sondern auch der Opa eifrig Berichte geschrieben hat. »Damit muss die Enkelin nun fertig werden«, sagt sie und trinkt einen Schluck Wasser. Es klingt, als wäre es ihr lieber gewesen, man hätte nichts gefunden.

Andrea von Malottki hat ihr Leben den Akten gewidmet, doch der Weg in die Stasi-Unterlagen-Behörde war eher zufällig. Zu DDR-Zeiten hat sie sich nicht besonders für Politik interessiert. Sie kannte keine Dissidenten, keine Stasi-Mitarbeiter, sagt sie. Als Landsleute die Stasi-Büros in den Bezirksverwaltungen besetzten und Bürgerkomitees gründeten, war sie nicht dabei.

Sie ist in Wismar aufgewachsen, Vater Hafenarbeiter, Mutter Krankenschwester. Als Mädchen las sie viel, vor allem Engländer, Amerikaner, das half gegen das Fernweh. Sie hatte eine gleichaltrige Brieffreundin in Griechenland, mit der sie sich auf Englisch schrieb. Die Briefe, die Bücher, sie fächelten ein wenig Luft in das kleine Land.

Sie studierte dann in Rostock, wurde Lehrerin für Englisch und Deutsch. War sie als Lehrerin, als Staatsangestellte, nicht auch, wie sagt man so schön, systemnah? Andrea von Malottki macht eine Pause, schaut auf, überrascht, dann sagt sie: »So dachte ich damals nicht.« Sie sei gern Lehrerin gewesen, habe sich nicht eingeschränkt gefühlt.

1988 zog sie mit ihrem damaligen Mann, einem Förster, und den zwei kleinen Kindern aufs Dorf. In der nahe gelegenen Schule wurde keine Englischlehrerin gebraucht, also fing Andrea von Malottki in der Schulbibliothek an. Die großen Umwälzungen, die 1989 das Land überrollten, hatten keinen Einfluss auf ihr Leben. Erst im Sommer 1991 änderte sich alles.

Die Stasi-Unterlagen sollten für die Bürger geöffnet werden, eine neue Behörde formierte sich, Personal wurde gebraucht. Eine ehemalige Kollegin sprach Andrea von Malottki an. Das Bewerbungsgespräch fand bei ihr zu Hause auf der Couch statt. Der Bürgermeister des Dorfes warnte sie noch, das sei nichts für Frauen. Nach einer schlaflosen Nacht sagte sie zu.

Aus der Bibliothek, der Welt der Romane, der ausgedachten Geschichten wechselte sie in die Welt der Akten, der wahren Schicksale. Am Anfang kamen vor allem diejenigen, die unter dem Geheimdienst persönlich gelitten hatten. 20 000 Anträge wurden 1992 gestellt, so viele wie nie wieder danach. Am ersten Tag, dem 2. Januar 1992, bildeten sich lange Schlangen vor der Behörde am Demmlerplatz in Schwerin. Die Menschen kamen mit großen Erwartungen, sahen die Mitarbeiter als Stasi-Kenner. »Dabei hatten wir am Anfang auch kaum Ahnung«, erinnert Andrea von Malottki. Sie arbeitete sich schnell ein, musste nicht nur Sachbearbeiterin sein, sondern auch Trösterin, Therapeutin, Detektivin. Den Menschen, so sagt sie, seien die Herzen übergelaufen. Sie mochte die Stimmung damals. Alle in der Behörde waren neu, alle arbeiteten, ohne auf die Uhr zu schauen.

Andrea von Malottki erinnert sich noch an ihren ersten Antragsteller und seine dramatische Geschichte: 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren, in Wismar vaterlos aufgewachsen, 1973 wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, nach drei Jahren von der Bundesrepublik freigekauft. Der Antragsteller hieß Ulrich Schacht, ein Journalist und Schriftsteller. Obwohl er inzwischen in Schweden lebt, hat Andrea von Malottki Kontakt zu ihm gehalten. Seine Lebensgeschichte hat sie sehr beschäftigt. Sie habe sich manchmal gefragt, warum ihr solche kritischen Gedanken nie gekommen sind. Warum hat sie nichts bemerkt? Sie sitzt gedankenverloren auf ihrem Stuhl in ihrem stillen Büro, wirkt in sich versunken. Dann sagt sie: »Von der NSA-Affäre haben wir ja auch lange nichts mitbekommen.«

Die Erfahrung mit zwei Systemen hat sie skeptisch gemacht. Sie sieht in beiden Gutes und Schlechtes, sagt sie. Wenn man länger mit ihr redet, merkt man, dass sie ihre Arbeit nicht als Abrechnung mit einem System betrachtet, sondern als Menschenstudie. Wie schwach ist der Mensch? Wie viel Druck braucht es, bis er einknickt?

Andrea von Malottki berichtet von einer Antragstellerin, die als junge Frau in den Westen ausgereist war und sich als Opfer des Regimes sah. Doch das Einzige, was Andrea von Malottki fand, war eine Verpflichtung als Inoffizielle Mitarbeiterin. Es war nur eine dünne Akte, aber die Frau war IM.

Nützt es dem Land, dass diese illegal gewonnenen Informationen der Stasi immer noch Lebensläufe vergiften können? Wäre eine Schließung der Akten nicht besser, um der Versöhnung willen? Andrea von Malottki überlegt. Sie zitiert den französischen Staatsmann Talleyrand, sie zitiert Gauck, um zu belegen, wie wichtig Transparenz ist. Es sei eine Chance, mit der Diktatur anders umzugehen als nach 1945. »Die Frage ist doch: Wie konnte es gelingen, dass ein Staat 17 Millionen Menschen einsperren kann?«

Aber bringen die Akten Versöhnung? Andrea von Malottki geht nicht direkt auf die Frage ein, sondern erzählt, wie erleichtert Ulrich Schacht damals darüber war, dass keiner seiner Freunde ihn bespitzelt hatte.

Die Zahl der Anträge ist seit den neunziger Jahren stark gesunken, seit 2005 melden sich im Schnitt 2500 Menschen pro Jahr. Oft kommen Menschen ab Mitte 50 oder Rentner, die Fragen klären möchten, für die sie sich früher keine Zeit genommen haben. In der letzten Zeit passiert es häufiger, dass sich Erwachsene an Andrea von Malottki wenden, die als Kind ohne Vater aufgewachsen sind und in den Stasi-Akten nach Spuren suchen wollen. Eigentlich darf man nur die eigenen Akten einsehen. Es gibt aber Ausnahmen, dann ist es erlaubt, die Akten von Angehörigen oder Bekannten einzusehen, um etwas über sich selbst herauszufinden. Einmal ist es Andrea von Malottki gelungen, einen verschollen geglaubten Vater aufzuspüren.

In fünf Jahren soll die Behörde wahrscheinlich geschlossen und die Akten ins Bundesarchiv überführt werden. Andrea von Malottki macht sich keine Sorgen, sagt sie. Es werde sich eine Aufgabe finden.

Sie schaut aus dem Fenster, es ist Nachmittag geworden. In der Behörde herrscht eine fast klösterliche Ruhe. Andrea von Malottki selbst hat übrigens keine Akte.

Wasser, Mehl, etwas Salz

Bäcker Thomas Hacker rührt seinen Teig
noch wie zu DDR-Zeiten an.
Mit dem Begriff Ostschrippe kann er trotzdem
nichts anfangen.

Von Julia Haak

Knubbelig ist das erste Wort, das einem zu Bäcker Hackers Splitterbrötchen einfällt. Knubbelig und riesig. Mindestens doppelt so groß wie bei anderen Bäckern. Übereinander gestapelt liegen sie auf einem Blech und duften atemberaubend. Die Zuckerkruste glänzt leicht.

Wegen dieser Splitterbrötchen ist Bäcker Hacker geradezu berühmt in Berlin. Im Internet kann man Hymnen auf seine Teigteile lesen. Manch einer behauptet, allein deswegen quer durch die Stadt zu fahren und in die Bäckerei in der Stargarder Straße in Prenzlauer Berg zu kommen.

»Vorsicht vor dem Zuckerschock«, sagt Thomas Hacker und lacht. Hacker steht in seiner Backstube. Die Szene wirkt wie gemalt: der stämmige Mann in seiner weißen Bäckerkleidung, hinter ihm ein riesiger gemauerter Ofen, daneben eine Knetmaschine und eine Waage, beide wirken irgendwie historisch. Es ist eng in Hackers Backstube und warm. Holzschieber liegen auf einer Ablage, Mehlsäcke sind zu einem Turm aufgeschichtet. In großen runden Töpfen steht Mohn bereit und Kakaocreme. Auf einem kleinen Kocher köcheln Kirschen, auf einem Tisch liegt ein riesiger Block Butter.

Es ist gerade halb zwölf. Eigentlich könnte Thomas Hacker jetzt Feierabend machen. Die Arbeit ist getan. Überall liegt fertiges Gebäck. Ein Angestellter fegt den Fußboden, der Lehrling macht die Maschinen sauber. Aber Thomas Hacker ist ja nicht nur Bäcker, sondern auch Chef in diesem Laden. Und deshalb fällt nach dem Handwerk immer noch ein wenig Büroarbeit an. Thomas Hacker hat dafür nur einen schmalen Raum neben der Backstube, der mit Schrank, Tisch und Stühlen schon vollgestellt wirkt. Thomas Hacker setzt sich und trinkt erstmal eine Tasse Kaffee.

Nebenan im Laden hängen Urkunden an der Wand. 1991 steht auf Hackers Meisterbrief. Daneben hängt der Brief seines Vaters – ein Beweis dafür, dass dies ein Traditionsunternehmen ist, in zweiter Generation ein Familienbetrieb. Der zweite Beweis: die Einrichtung des Ladens. Die Theke ist altmodisch, die Brote liegen aufeinander gestapelt auf einfachen Metallregalen, die Wandverkleidung ist beschichtet und deshalb abwaschbar. Schön altmodisch alles.

Das könnte natürlich eine Verkaufsmasche sein. Schließlich gibt es diesen Trend zum guten Alten nicht nur bei Backwaren. Aber eben auch dort. Gerade hat die bayerische Hofpfisterei das Land mit 150 Filialen überzogen und bewiesen, dass man mit traditionellen Broten aus Natursauerteig, einem nostalgischen Auftritt und dem Versprechen, Gesundes zu verkaufen, hohe Preise für Backwaren erzielen kann.

Anders bei Bäcker Hacker. In seinem Laden sieht es nicht nur so aus wie früher. Es ist wie früher. Die Hackers haben nach der Wende nicht alles rausgeworfen und neu gemacht. »Im Stil sind wir uns treu geblieben«, sagt Thomas Hacker und umschreibt so das Beharren auf dem Gewohnten. Er hat sogar die alten Maschinen behalten.

Und Thomas Hacker bäckt auch wie früher. Wasser und Mehl, etwas Salz, ein paar Körner, mehr kommt nicht rein in seine Brote und Brötchen. Mit dem Begriff Ostschrippe kann er trotzdem nichts anfangen. »Das macht der Bäcker so«, sagt er einfach. Er ist eben bodenständig. Keine Enzyme, keine Backmischungen und schon gar keine tiefgefrorenen Teiglinge. »Ich habe den Eindruck, die Kundschaft weiß das jetzt wieder zu schätzen«, sagt Hacker.

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Freundlich sieht er aus mit den kurzen Haaren, der Brille und der vor dem Bauch geknoteten Bäckerschürze. Und mit seinem Lächeln. Man kann sich vorstellen, dass die Leute gern ihre Sonntagsbrötchen bei so einem Bäcker kaufen. Seine Kundschaft sei die von früher, sagt Hacker, es gebe aber auch eine neue aus der heutigen Nachbarschaft, Touristen, Passanten, »die ganze Bandbreite eben«. Neulich sei eine ältere Dame gekommen, die habe gesagt, sie habe schon als Kind in dieser Bäckerei eingekauft. Sie habe sich an den Fußbodenbelag erinnern können. »Für sie war die Bäckerei irgendwie ein Stück Identität«, sagt Hacker.

Dass die Leute zahlreich kommen, ist ein relativ neues Phänomen. Hacker sagt, er habe eine harte Zeit hinter sich und noch weiß er nicht, ob er nicht auch eine schwierige vor sich hat. Er hat einen alten 50-Mark-Schein aufgehoben, einen D-Mark-Schein. Das Papier erinnert ihn daran, was mit der Wende kam. »Plötzlich ging’s nur noch ums Geld«, sagt er.

Thomas Hacker ist 45 Jahre alt. Als die Mauer fiel, steckte er gerade im Meisterstudium. Sein Vater hat in dieser Bäckerei 1970 als Geselle angefangen, 1982 übernahm er den Betrieb. Thomas Hacker ist quasi in der Backstube groß geworden. Das Backwarenkombinat sei gar nicht in der Lage gewesen, die Bevölkerung allein zu versorgen. Alles, was die Familie und ihre Angestellten produzierten, seien sie auch losgeworden.