Buchcover

Henrik Tandefelt

Lauf, Helin, lauf!

 

 

Saga

1

Still fließen

die Morgensterne des Frühlings

wie Tropfen von Milch

in dunklem Wasser

Der Tau spiegelte die nackte Haut für den Bruchteil einer Sekunde in tausend kleinen Splittern, dort, wo der Bach zwischen Salweiden und Hagebuttensträuchern hindurchfloss. Elstern und Dohlen legten ihre Köpfe zur Seite, Enten watschelten schnatternd davon.

Sie trieb im Morgengrauen durch den Park, unter hölzernen Fußgängerbrücken hindurch bis in den unterirdischen Stadtkanal. Dort blieb sie hängen. Die Leiche hatte sich in einem weggeworfenen Fahrrad verhakt.

Studienrat Brunström spazierte mit seinem strammen Mops Darling stromaufwärts. Ein früher Morgen im Juli. Unter Missachtung der Stadtparkverordnung preschte der Hund plötzlich davon. Als Darling mit einem glänzenden Spitzenhöschen zurückkam, kommandierte Studienrat Brunström: »Aus!«, sah sich verschämt um und manövrierte das Höschen mit dem Schuh unter einen dichten Rosenbusch.

*


Neid? Nicht direkt. Vielleicht fühle ich mich ein bisschen allein gelassen. Ingbritt und Lindström haben jetzt dieses Ferienhaus in Småland. Wollen dort einen langen Urlaub verbringen, vielleicht für immer dorthin ziehen. Ich werde mich einsam fühlen.

Aber ich will nicht klagen. Stelle bloß fest, dass ich teilnahmslos und erschöpft bin, fahrig und deprimiert. Nachdem ich fast ein Jahr lang Schikanen und Morddrohungen ausgesetzt war, brauche ich meine besten Freunde. Es ist ja alles vorbei jetzt, aber die Erinnerungen sind allgegenwärtig. Schlafe schlecht, habe Magenschmerzen, muss mein Leben wieder in den Griff bekommen, mich um meinen Beruf kümmern. Er ist es wert. Soll man dankbar sein?

Vielleicht wäre ich zerbrochen, hätte sich Lindström in seiner Eigenschaft als Kriminalkommissar nicht des rassistischen Mobs angenommen, die Sorgen mit mir geteilt, mich gestützt ... Gemeinsam sind wir mit ihnen fertig geworden. So haben wir uns kennen gelernt. Auf Lindström war Verlass gewesen. Zwar hegte er in der Mordsache einen gewissen Anfangsverdacht gegen mich, und das nicht einmal grundlos, aber wir wurden Freunde. Gute Freunde.

Ein bisschen neidisch bin ich natürlich doch. Auch mir würde es gut tun, eine Weile auf dem Land zu wohnen: neue Kraft schöpfen, ein normales Leben führen, mir die Wunden lecken und allmählich mein altes Leben als Josef Friedmann, freiberuflicher Fotograf und Journalist, wieder aufnehmen. Mich auf eine interessante Arbeit konzentrieren, im Chor singen, mein Saxofon blasen, Basketball spielen ... Davon träume ich jetzt.

Träume haben wir alle. Ingbritt träumt schon lange davon, auf den Hochebenen Smålands zu wohnen. Jetzt, nachdem sie gekündigt hat, soll es so weit sein. Abende lang haben sie und Lindström am Küchentisch Landkarten studiert, Fotos verschiedener Traumhäuser angesehen und geredet, geredet, geredet.


Lindströms Sommer war ziemlich schweißtreibend gewesen: voller nervtötender bürokratischer Schikanen und Recherchen für das Reichspolizeiamt – doch jetzt locken lange Ferien. Sämtliche Überstunden und alle mehr oder minder freiwillig angehäuften Urlaubstage reichen so lange, bis die Landschaft die Farben wechselt und die Vögel gen Süden ziehen. Lindström mag den Herbst.


Sein alter Volvo ächzt und stöhnt, als er sich voll beladen über die staubigen Hügel zwischen Idhult und Norra Bråta quält. Der ganze Krempel im Auto gerät auf der Steigung ins Rutschen. Die breite, öde Straße durch Vimmerby wäre in jedem Fall schneller gewesen und nicht so steil, doch von Kisa über Österbymo und Svinhult zu fahren und dann den Kiesweg durch Hamra und Gnöst zu nehmen ist ein Erlebnis für sich und eine hübsche Einstimmung auf das småländische Hochland.

Lindström ist kein Freund breiter Straßen.

Ingbritts Wurzeln liegen in der Nähe von Ingatorp. Die Eltern ihrer Mutter haben dort gelebt. Vom Hof und den glücklichen Sommererinnerungen an Himbeersaft in der Gartenlaube ist nichts geblieben; schnell wachsende Fichten ziehen sich in langen Reihen über Wiesen und Äcker. Ein überwucherter Backsteinhaufen. Verwilderte Rosen. Ein Aluminiumblech auf einem rostigen Eisenrohr berichtet dem Wanderer, dass sich an dieser Stelle einst ein kleiner Bauernhof befand. Mehrere Generationen arbeiteten hier im Steinbruch. Kullshester, 1709–1954, steht auf dem Schild. In den Wäldern Smålands gibt es viele solcher Schilder. Durch einen Zufall hörte Ingbritt eines Tages von einem Hof in dieser Gegend, der zum Verkauf stand.

Direkt vom Eigentümer Gut Finneryd zwischen Ingatorp und Rumskulla

Rostrotes Holzhaus mit weißen Verzierungen und Schnitzereien. Gewisser Renovierungsbedarf. Großes, frei gelegenes Grundstück mit 7.200 m2. Eingewachsener Garten. Äpfel- und Kirschbäume sowie Stachelbeersträucher. Besondere Lage. Sickergrube und eigener Brunnen vorhanden. Erdgeschoss: Diele, Wohnküche mit Feuerstelle, großes Wohnzimmer, kleiner Arbeitsraum, WC und Bad. Offener Kamin und Kachelofen. Obergeschoss: Diele, zwei Schlafzimmer, Kleiderkammer und WC, Kachelöfen.

Kleiner Stall, Schuppen mit Ziegelofen, Holzverschlag, früherer Hühnerstall und Garage in gutem Zustand. An handwerklich geschickte Person günstig abzugeben. 205.000 Kronen oder gegen höchstes Gebot.

Ingbritt hatte keine Sekunde gezögert und den Großteil ihrer Erbschaft von Tante Signe auf den Kopf gehauen.

»Wie kannst du nur einen Hof für 205.000 Kronen kaufen, ohne ihn dir vorher angesehen zu haben«, maulte Lindström, als er von ihrem Coup erfuhr.

»Ich weiß doch, wie er aussieht, bin als Kind oft dort gewesen. Außerdem habe ich den Preis runtergehandelt«, erklärte Ingbritt treuherzig.

»Hört, hört! Und was hast du schließlich bezahlt?«, brummte Lindström.

»135.000. Das ist er in jedem Fall wert, selbst wenn ein paar Reparaturen anfallen. Und weil du doch so geschickt bist, so gerne tischlerst und selbst gesagt hast, dass du eine Beschäftigung brauchst, bei der du richtig abschalten kannst ...« Ingbritt legte den Kopf zur Seite und blinzelte ihm unter ihrem blonden Pony liebevoll zu. Sie wusste genau: damit hatte sie ihn.

Und natürlich freute er sich. Es würde ganz wunderbar werden, sich tischlernderweise im Wald zu verstecken, jetzt, da er endlich sämtliche Überstunden und angesparten Urlaubswochen in lange, zusammenhängende Ferien umwandeln konnte. Die Polizei in Boköping musste bis auf weiteres ohne ihn klarkommen. Kriminalkommissar Lindström hatte sich freigenommen!


Das Auto rumpelt bei Gnöst über den Kiesweg.

Die Würfel sind gefallen. Das Haus gehört Ingbritt. Er tröstet sich mit dem Gedanken, dass man nicht zwangsläufig übers Ohr gehauen wird, nur weil man ein gutgläubiger Mensch ist. Seine Skepsis verbucht er als Berufskrankheit; gut fünfundzwanzig lange Jahre bei der Polizei in Boköping haben ihre Spuren hinterlassen.

Doch solche Gedanken schüttelt er schnell wieder ab.

Das werden unsere zweiten Flitterwochen, lange Flitterwochen, sagt sich Lindström und legt seine rechte Hand liebevoll auf Ingbritts Oberschenkel.

Das ist genau das, was ich brauche, denkt er, als sie bei Silverån über die Bezirksgrenze fahren. Ein paar Kilometer weiter parkt er den Wagen in der Auffahrt vor ihrem Traumhaus. Ein Blick auf das rostrote Gebäude und Lindströms Laune bessert sich schlagartig.

Hier und jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt.


Die Schulbusse sammeln sämtliche Kinder der Umgebung auf und entleeren ihre lärmende Fracht vor Ekelunds Grundschule und dem Neubau des Åkerdalen Gymnasiums.

Auf den Fahrradwegen und Straßen, die zum Bahnhof führen, drängen sich die Jugendlichen. Auch eine halbe Stunde nach Unterrichtsbeginn sind noch vereinzelt Schüler unterwegs. Zweiunddreißig von ihnen haben in der ersten Stunde Schwedisch bei Arvid Lönnholm.

Elf der zweiunddreißig sind abwesend, was an einem Montagmorgen nicht ungewöhnlich ist. Lönnholm spürt, wie sein Adrenalinspiegel schon um 8.15 Uhr in die Höhe schnellt. Das kann einfach nicht gesund sein. Doch er fährt fort, die Namen aufzurufen und auf der Klassenliste abzuhaken. Die softwaregestützte Anwesenheitskontrolle funktioniert wie üblich: überhaupt nicht.

Dreißig Jahre im Schuldienst wiegen schwer. Ein Sabbatjahr würde Arvid Lönnholm gut tun, aber das kann er sich nicht leisten. Lönnholm ist vielleicht ein bisschen altmodisch, etwas verstaubt, doch sobald ihn die Schüler besser kennen lernen, begreifen sie in der Regel, welches Glück sie mit ihm haben. Sein Spitzname »Onkel« erfüllt Lönnholm zu Recht mit Stolz.

Nach Unterrichtsschluss geht er in sein Büro, das er sich mit seinem Kollegen Brunström teilt, um ein paar Unterlagen zu holen.

Das Schulhalbjahr beginnt zäh, und unter dem neuen Rektor verspricht nichts einfacher zu werden. Ein Pedant, der gern Pädagogik mit Budget verwechselt. Euripides und Dante sind ihm fremd, aber jede Krone umdrehen, das kann er.

Auf dem Weg zu seinem Fahrrad wird Lönnholm von nagender Unruhe befallen; er macht sich Sorgen um die Schüler, die seit Beginn des Halbjahres noch kein einziges Mal zum Unterricht erschienen sind. Sicher, das kommt schon mal vor ...

Vielleicht sollte ich früher in Rente gehen, denkt er und sichert seine Hosenbeine mit Wäscheklammern.


Lindström repariert als Erstes einen kleinen Riss im Schornstein, tauscht Dachplatten aus und erneuert einige Ziegel. Die Elektroinstallationen sind zum Glück in Ordnung.

Nachdem er ein paar kräftige Haken in die Wand geschlagen und sein neues Trainingsgerät, ein Crescent Decca Rennrad, aufgehängt hat, widmet er sich den buckligen Innenwänden, die er mit Isolierpappe, Holzlatten, Steinwolle, Bauplatten sowie neuen unifarbenen Tapeten ausstatten will, die Ingbritt mit einer alten Bürste verzieren wird. Als er die Tapeten entfernt, kommt zunächst mit Heftzwecken befestigte Wellpappe zum Vorschein, hinter der sich schichtweise Zeitungspapier, weitere Pappen und Tapeten verbergen. Wie Jahresringe. Isolation: Fehlanzeige, und in den Ritzen nichts als Moos. Lindströms Laune sinkt bei dem Gedanken an den nächsten Winter beträchtlich.

Die geräumige Küche wird von einer Siebziger-Jahre-Tapete verunstaltet. Ingbritt weigert sich, auch nur einen Fuß in die Küche zu setzen, falls die dunkelrote Tapete mit ihren aufgedruckten Weinflaschen und Bastkörben, den stilisierten Reben und vollbusigen, halb nackten Weinstampferinnen nicht auf der Stelle verschwindet. Die unangenehme Aussicht, künftig sämtliche Küchenarbeiten allein verrichten zu müssen, lässt Lindström auch hier aktiv werden.

Unter der verhassten Tapete befinden sich mehrere Lagen der Zeitungen ›Vimmerby Tidning‹ und ›Dagen‹. Lindström gönnt sich eine Pause und wirft einen Blick auf die spröden, vergilbten Seiten der ›Vimmerby Tidning‹ vom 29. April 1977:

Landwirt von hydraulischer Holzschneidemaschine tödlich verletzt

Ein schweres Unglück ereignete sich am Samstag in Mariannelund. Aus bisher ungeklärter Ursache geriet der Landwirt Bertil Svärd mit dem Kopf in eine automatische Holzschneidemaschine. Er war auf der Stelle tot.

Seine Frau Ulla befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks in der Küche. Als sie in die Scheune ging, um nach ihrem Mann zu sehen, fiel sie angesichts des entsetzlichen Anblicks sogleich in Ohnmacht. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, kam der Bruder des Verunglückten zufällig vorbei. Er kümmerte sich um seine Schwägerin und verständigte Polizei und Krankenwagen, die sich unverzüglich an der Unfallstelle einfanden. Für den Verletzten kam jedoch jede Hilfe zu spät.

Der Polizei zufolge war es das erste Mal, dass sich ein derartiges Unglück in diesem Bezirk zugetragen hat.

Nach dem späten Mittagessen – verschieden gefüllte Ofenpfannkuchen und ein nach Knoblauch duftender Salat – legt sich Lindström mit einem Buch aufs Bett. ›Männergedichte von der Liebe‹, ein Geschenk von seiner Frau. Eine Viertelstunde später ist er in tiefen Schlaf gefallen.

Das leise Schnarchen, das aus dem Schlafzimmer im ersten Stock dringt, ist auf der überdachten Veranda nicht zu hören. Ingbritt trinkt ihren zweiten Whisky und raucht einen langen, schmalen Zigarillo. Um die Mücken zu verscheuchen. Das Abendlicht schwindet. Die dunkle Wildnis erwacht zum Leben, und es gibt hier so viel mehr Sterne als in der Stadt. Genau wie bei ihren Großeltern. Wie oft hatte sie dort auf der Wiese gemeinsam mit ihrem Hund Ture auf einer Wolldecke gelegen und die Sternschnuppen gezählt. Die Kälte der Erde und die Wärme des Hundes hatten ihr ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit gegeben. Zu dieser Zeit hatte sie Astronomin werden wollen. Sie wurde Mittelstufenlehrerin für Schwedisch und Englisch, später auch für Sozialkunde. Ganz folgerichtig, wenn man auf eine mehrjährige Ehe mit einem Kriminalkommissar zurückblickt.

Über den Wipfeln der Fichten blinkt ein Flugzeug. Es ist stockdunkel.

Inbgritt hat sich lange danach gesehnt, ihren eigenen Lebensrhythmus zu finden und Augen und Ohren Ruhe zu gönnen. Hin und wieder hatte sie in Erwägung gezogen, sich von einer kleineren Schule in Småland anstellen zu lassen. Gewiss, Lehrer wurden schon gesucht, aber in die Jahre gekommene Polizisten? Nein, sie waren wohl oder übel gezwungen, in ihrem Haus in Boköping wohnen zu bleiben. Gefangen in diesem bigotten kleinen Städtchen.

Doch zwanzig Jahre als Mittelstufenlehrerin in Boköping waren genug. Nicht, weil sie die Schüler satt gehabt hätte. Aber sie hatte genug von dieser Schule und von dieser Gemeinde, die vor kurzem erst als ahnungsloser Geldgeber für eine rassistische Jugendclique enttarnt worden war.

Die Signale waren zahlreich und überdeutlich gewesen, aber die Schule hatte nicht eingegriffen, sondern tatenlos zugesehen, wie sich Kinder zu Rassisten entwickelten.

Nachbarn, Kollegen, alle wussten, dass Ingbritt mit dem Kommissar verheiratet war, der die Ermittlungen leitete, und dass sie mit der Person Umgang pflegten, die das Ganze aufgedeckt und »Boköping in den Schmutz gezogen« hatte.

Auch jetzt gab es im Kollegium noch Stimmen, die meinten, man hätte die Angelegenheit auf sich beruhen lassen sollen. Herrgott, wie ihr diese Kollegen zum Hals raushingen!

Während des vergangenen Jahres hatte ihr Beruf viel von seiner Freiheit und Kreativität eingebüßt. Die Atmosphäre in der Schule wurde zusehends roher. Im Herbst hatte sie zwei Stilette beschlagnahmt. Einer ihrer Schüler war auf dem Schulhof von einer Mädchengang aus der Oberstufe überfallen und ausgeraubt worden. Sie selbst war zwar noch nicht als Schlampe tituliert worden, doch war sie es leid, dass sich die Kinder gegenseitig als Tucke, Nigger und Nutte beschimpften.

Als einem ihrer Schüler mit offenkundiger Legasthenie Fördermaßnahmen verweigert wurden, war dies der Tropfen gewesen, der das Fass für sie zum Überlaufen brachte.

Nach und nach hatte sie alle Freude an ihrem Job verloren, sie war ständig krank, bis der Arzt ihr alle Symptome völliger Erschöpfung bescheinigte.

Während sie zu Hause lag, so ausgebrannt, dass sie sich nicht einmal auf eine Frauenzeitschrift konzentrieren konnte, rief ständig der Direktor an und lag ihr in den Ohren, wie schwer es sei, eine Vertretung zu organisieren.

Beim vierten Anruf empfahl sie ihm zur Hölle zu fahren. Kurz darauf reichte sie die Kündigung ein.

»Hast du die Sternschnuppe gesehen? Was wünschst du dir?« Lindström ist aufgewacht. Er steht hinter ihr und stopft seine Pfeife.

»Ach, ich habe gerade an die Schule gedacht.«

»Ich glaube, ich nehme auch einen Whisky. Steht die Flasche in der Küche?«

»Nein, hier auf der Treppe«, sagt Ingbritt.

»Ich hole nur noch ein Glas und eine Kerze.«


Der nächste größere und gut sortierte Supermarkt liegt in Vimmerby. Diesmal kaufen sie außer den üblichen Vorräten rostrote Farbe bei Johansens Färg & Frö und investieren in einen besseren Whisky. Josef Friedmann hat seinen Besuch angekündigt.

Ein guter Deal: Josef kann eine Weile bleiben und hilft dafür beim Malern. Sofern das Wetter hält, könnten sie das Haupthaus und die kleineren Gebäude innerhalb von vierzehn Tagen bewältigen. Für Josef, dem es in letzter Zeit nicht besonders gut zu gehen schien – eine verspätete Reaktion auf all die Schikanen – die reine Therapie. Obwohl inzwischen fast zwei Jahre vergangen waren, ließ er immer noch die Flügel hängen.


Zuerst wickele ich meine langen Jeansbeine aus dem Wagen, die strumpflos in Sandalen stecken. Dann zwänge ich meinen schwarzen Schopf aus der Türöffnung und schließlich den Rest: 193 magere Zentimeter.

Nachdem ich meine Körperteile sortiert habe, überreiche ich mein Gastgeschenk: einen rauchigen irischen Whisky.

»Habe Verwandte besucht, mit der Finnlandfähre«, erkläre ich. »Und in Ungarn war ich auch«, füge ich hinzu, öffne den Kofferraum, hebe zuerst einen Karton Tokajer und dann Muffins, einen 46-Kilo-Hund aus dem Wagen, der immer mitwill und meistens mitdarf.

»Neues Auto? Na, mal sehen, wie lange der hält.« Lindström mustert meinen bordeauxroten Citroën XM Kombi eher skeptisch.

»Lange, hoffe ich, er fährt sich ganz wunderbar und bietet auch Muffins genug Platz. Nur das Ein- und Aussteigen ist für mich manchmal etwas anstrengend ...«

»Warum bist du auch so ein langer Lulatsch!«

Lindström führt mich zum Gemüsegarten, der umgegraben und von Nesseln und Disteln befreit werden muss. Zeigt mir das Haus, das einen Anstrich benötigt, und die Wände, deren Isolierung ansteht. Ich frage mich, ob es nicht genau das ist, was ich brauche – praktische und ein wenig anstrengende Arbeit.

»Habe rostrote Farbe gekauft, original ›falurött‹. Unglaublich, was Farbe heutzutage kostet.« Meine gemurmelte Bemerkung, die hätte man auch selbst mischen können, wird von ihm geflissentlich überhört.

»Wie geht’s dir eigentlich?«, fragt er. Was soll ich darauf antworten?

Wir machen einen ausgiebigen Rundgang über das Grundstück, besichtigen die Lichtung im Wald, bewundern die hohen Kiefern, besuchen die Quelle, die ein paar hundert Meter entfernt liegt, genießen die Luft, den Duft von Wald, Moos und Pilzen.

Muffins hebt sein Bein zwischen den Stachelbeersträuchern.

Zum Essen gibt es selbstgemachte Bratwürste vom Schlachter in Ingatorp, Kartoffeln in Béchamelsauce, grüne Bohnen und Salat. Später am Abend rührt Ingbritt einen dunklen, klitschigen Schokoladenkuchen zusammen.

»Kommt, wir setzen uns noch ein bisschen vors Haus und betrachten die Sterne«, schlägt Ingbritt vor.

»Ein Kuchen aus dem tiefsten Småland, Negerkuchen hieß das früher«, sagt Lindström.

»Kleiner Verstoß gegen die Political Correctness«, kichert Ingbritt. »Apropos, bekommst du immer noch Drohbriefe?«, fragt sie mich.

»Ab und zu. Ich versuche sie nicht zu beachten«, seufze ich.

»Schaut mal, was ich unter den alten Tapeten entdeckt habe«, sagt Lindström und trägt ein Windlicht nach draußen. »Haufenweise alte Zeitungen, Lokalnachrichten.« Er zeigt einige zerknitterte, vergilbte Zeitungsseiten. Wir lesen uns gegenseitig ein paar Artikel vor und trinken Whisky dazu. Die Abendluft kühlt ab, Ingbritt hüllt sich in eine Decke.

»Hier, hört mal, eine richtig grausige Geschichte«, sagt sie, »29. April 1977. Jemand ist mit seinem Kopf in so einer Holzschneidemaschine stecken geblieben, pfui Teufel, so ein Ding kommt mir jedenfalls nicht ins Haus!«

Wir füllen die Gläser auf und Ingbritt holt einen ihrer langen schwarzen Stinkarillos heraus.

»Das Unglück hat sich gar nicht weit von hier ereignet. Ich weiß genau, wo Hackhult liegt ...«

Für eine Weile wird es ruhig, ein kühler Wind säuselt durch den Wald.

»Wusstet ihr, dass die Bevölkerung in dieser Gegend seit den sechziger Jahren um 1.600 Personen geschrumpft ist? Wird langsam leer hier«, fährt Lindström fort.

»Falls es hier irgendwo spuken sollte, ist Hackhult sicher ein geeigneter Ort. Vielleicht treibt der verstorbene Landwirt dort sein Unwesen ... noch jemand Erdnüsse, Salzstangen?«, fragt Ingbritt.

»Übrigens bin ich kürzlich einem alten Mann aus dieser Gegend begegnet«, berichtet Lindström. »Er hat mir erzählt, dass die Frau des Verstorbenen inzwischen in Vimmerby lebt und mit dem Bruder ihres toten Mannes verheiratet ist.«

»Verbrechen aus Leidenschaft, hach ...«


Lindström schließt sich meinem kleinen Abendspaziergang mit Muffins durch die Dunkelheit an. Zwanzig Minuten später kehren wir nach Hause zurück. Ingbritt hat Tee gekocht und ist auf eine weitere Zeitungsnotiz über Hackhult in der ›Vimmerby Tidning‹ vom 20. Mai 1977 gestoßen:

Forstwirtschaftsunternehmen erwirbt Hof Hackult

Vergangenen Samstag kam der Hof Hackhult in Mariannelund nach einer spannenden Auktion für 2,3 Millionen Kronen unter den Hammer. Das Forstwirtschaftsunternehmen Näsby AB erhielt schließlich den Zuschlag, nachdem eine Privatperson aus Hjältevad lange mitgeboten hatte.

Der Geschäftsführer des Unternehmens, Tony Grenmarker, zeigte sich gegenüber der Vimmerby Tidning hoch zufrieden mit dem Erwerb.

V.T.: »Aber haben Sie letztlich nicht einen enorm hohen Preis bezahlt?«

T.G.: »Das mag so aussehen, doch wir betrachten den Kauf als langfristige Investition. Da die Weiden an zwei Stellen an Grundstücke unseres Unternehmens angrenzen, werden wir Rationalisierungsgewinne erzielen.«

V.T.: »Sie hatten diesen Grund also schon lange im Auge?«

T.G.: »Das ist richtig. Hackhult stellt eine wertvolle Ergänzung zu unserem bereits bestehenden Grundbesitz dar. Wir waren sehr erfreut, als wir vor ein paar Monaten eine erste Anfrage erhielten, und bereits Ende März konnten wir uns von dem hervorragenden Zustand des Grundstücks überzeugen.«

Durchgeführt wurde die Auktion von Lars-Erik Eriksson aus Eksjö, für Kaffee und Bewirtung zeichneten Majlis und Gullveig Fransson verantwortlich.

»Was sagt ihr dazu? ›Vor ein paar Monaten.‹ Noch bevor das Unglück geschah, haben sie den Grund zum Kauf angeboten bekommen und ihn schon im März in Augenschein genommen! Das, meine Herren, riecht verdammt nach Mord!« Ingbritt triumphiert.

»Ach was! Er wollte den Hof eben verkaufen. Was ist daran so ungewöhnlich?«

»Irgendjemand wusste bereits vor dem Tod des Alten von dem geplanten Verkauf. Gib zu, dass das verdächtig ist«, sagt Ingbritt.

»Einverstanden, um des lieben Friedens willen.« Lindström lacht.

»Lach du nur, ich werde der Sache auf den Grund gehen, und auf deine Hilfe kann ich dabei gut verzichten!«

»Ingbritt hat vielleicht Recht. Der Fall wurde ja offenbar nie richtig aufgeklärt. Es könnte sich lohnen, einen Blick auf die polizeilichen Ermittlungen zu werfen. Wie zum Teufel gerät man mit dem Kopf in eine hydraulische Holzschneidemaschine?«

»Okay, ich werde mit meinen Kollegen in Jönköping sprechen und mit Lennart ...«

»Das lässt du schön bleiben!«, entgegnet Ingbritt. Ihre blauen Augen blitzen. »Ich recherchiere, ihr malert und tischlert!«, kommandiert sie.

Ihr kriminologischer Ehrgeiz ist erwacht.

2

Frei laufende Hühner, Apfelbäume und Stachelbeersträucher. Ein gepflegtes Grundstück. In der geöffneten Garage sind ein Lastenmoped und ein alter hellgrauer Volvo Amazon zu sehen, dessen Lack vollkommen matt ist. Ein Jagdhund bellt in seinem Zwinger.

Lilla Århult, der Nachbarhof. Ingbritt klopft, wartet.

Eine weißhaarige Frau kommt vom Hühnerstall herüber, blaue Schürze, graue Strickjacke und ein Korb Eier.

»Es nützt nichts zu klopfen. Er hat das Radio an, da hört er nichts. Aber kommen Sie doch herein«, sagt sie freundlich. »Unsere neuen Nachbarn? Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach überfalle, aber ich wollte mich endlich mal vorstellen. Ich komme hoffentlich nicht ungelegen?« Ingbritt überreicht lächelnd ihren Hefezopf.

»Ich backe nur noch selten einen Hefezopf, das Rheuma«, sagt die Alte und zeigt ihre knotigen Hände. »Das wäre doch nicht nötig gewesen, vielen Dank«, fügt sie hinzu und macht beinahe einen Knicks.

Helge und Ebon. Olsson auf Lilla Århult sind längst pensioniert, das Weideland ist verpachtet, der Wald wächst und wartet darauf, dass ein Sohn den Hof übernimmt, vermutet Ingbritt.

Aus dem Nebenzimmer dröhnt der Wetterbericht. Ebon stellt den Korb mit Eiern auf die Ablage und die Kaffeekanne auf den Herd. Das elektrische Kochfeld daneben wird offenbar nur selten benutzt. Auf dem Boden stehen ein Vorratsbehälter für das Brennholz sowie eine Schale Milch für die Katze, die sich satt und zufrieden auf der Fensterbank zusammengerollt hat.

Ingbritt nimmt auf dem Sofa unter einem großen Foto von Thorvaldsens Jesusstatue Platz.

Fünf Sorten Gebäck, ein Heidelbeerkuchen, dünnes Porzellan mit blauen Girlanden auf weißem Spitzendeckchen. Ebon streicht mit der Hand über die Tischdecke. Sie ist neugierig. Natürlich will sie wissen, was Ingbritt und ihren Mann nach Småland verschlagen hat, ob es ihnen gefalle, woher sie kämen, ob sie sich hier niederlassen wollten, was ihr Mann von Beruf sei.

Als Ingbritt mit fester Stimme berichtet, die Eltern ihrer Mutter seien aus dieser Gegend, stellt sich heraus, dass Ebon und Helge Olsson sie bereits von früher kannten. So bleibt es Ingbritt erspart, über den Job ihres Mannes zu sprechen. Die meisten Menschen reagieren nervös, wenn sie hören, dass Lindström Kriminalkommissar ist.

Ingbritt erklärt, sie suche eine Stelle als Lehrerin und wolle ihren Wohnsitz ganz hierher verlegen.

Plötzlich verstummt das Radio. Helge betritt den Raum, verwundert.

»Oh, wie haben einen Gast. Von Finneryd?« Seine Stimme ist laut und kräftig. Helge ist ein derber Kerl mit Stiernacken, der aussieht, als brauche er keinen Wagenheber, um einen Reifen zu wechseln, denkt Ingbritt, als er sich schwer auf einen der Stühle fallen lässt.

Langsam tauen sie auf und sind rasch beim Dorfklatsch angelangt. Es dauert nicht lange, bis Helge auf das grässliche Unglück zu sprechen kommt, das sich seinerzeit auf Hackhult ereignet hat.

»Das ging nicht mit rechten Dingen zu«, sagt er nachdenklich. »Jemand kann sich eine Hand oder einen Finger einklemmen, aber den Kopf? Nein.«

»Die Polizei war da, damals ...«, flüstert Ebon, »aber an der Sache war von Anfang an was faul.«

»Bertil war ein tüchtiger Arbeiter, vielleicht ein bisschen eigen und verschlossen, aber tüchtig, das war er zweifellos. Hat sich nie was zuschulden kommen lassen und war ein ehrlicher und sparsamer Geschäftsmann. Ja, er war ein feiner Kerl«, sagt Helge.

»Das Forstwirtschaftsunternehmen hat den Grund gekauft?«, fragt Ingbritt.

»Die kaufen alles. Wer könnte es sich sonst leisten, Preise zu zahlen, die über Marktniveau liegen?«

»An die werden wir mit Sicherheit nie verkaufen, darauf können Sie sich verlassen!«

»Gab es noch andere Interessenten?«, fragt Ingbritt.

»Aber ja. Jan-Olof aus Högåsa und ein paar andere Kleinbauern aus der Gegend. Einer aus Hjältevad war auch dabei, aber der wollte vermutlich nur den Preis hochtreiben. Ist für das Unternehmen ein teurer Spaß geworden«, sagt Helge mit blitzenden Augen.

»Und die Erben konnten einen Batzen Geld unter sich aufteilen ...«

»Ja, hat sich bestimmt gelohnt für seine Frau und seinen Sohn Anders. War ein aufgeweckter Junge, ist auf die weiterführende Schule gegangen und hat Abitur gemacht. Sie müssen nämlich wissen, dass Bertil vor seiner Ehe schon mal verlobt war.«

Ebon räuspert sich vernehmlich.

»Sie hieß Astrid, ein stattliches, nettes Mädel aus Eksjö.«

Ebon versucht, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, schenkt Kaffee nach und erkundigt sich nach Ingbritts Handarbeitskünsten.

»Sie waren verlobt und wollten heiraten«, fährt Helge indes unverdrossen fort. »Doch irgendetwas kam ihnen dazwischen, und später – Anders war erst zwei Jahre alt – kam sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Armes Ding, so jung, so hübsch ... und gerade erst Mutter geworden ...«

»Das war sicher eine schwere Zeit für Bertil«, lässt Ingbritt nicht locker, und Helge nimmt unverzüglich den Faden wieder auf:

»Während des ersten Jahres, nein, mehrere Jahre lang hatte Bertil eine Freundin, die sich um den Kleinen und um den Haushalt gekümmert hat. Im Sommer waren sie hier und haben Stachelbeeren gepflückt. Netter Bursche, dieser Anders, erinnerst du dich daran, Ebon, wie gern er deinen Himbeersaft getrunken hat?«

»Ja. Anders liebte Himbeersaft!«

»Ja, ja, ein süßer kleiner Racker, aber dann kam ja die neue Frau ...«

»Die war nicht von hier«, schaltet Ebon sich ein, und Ingbritt ahnt, dass Zugereiste grundsätzlich erst mal mit einer gehörigen Portion Argwohn betrachtet wurden. Ebon steht auf und geht zur Standuhr, zieht das Gewicht nach unten und gibt dem Pendel einen Stoß.

»Die glaubte, sich hier als Gutsherrin aufspielen zu können«, schnaubt sie.

»Nach Bertils Tod hat sie sich sofort mit seinem Bruder eingelassen. Später haben sie dann geheiratet, allerdings nicht kirchlich.«

»Und kaum erwarten konnten sie’s, mit dem Verkauf und der Hochzeit. Bertil war ja kaum unter der Erde.«

»Nicht einen Kiefernzapfen hätte der dem Unternehmen verkauft«, sagt Helge kopfschüttelnd. »Das steht fest. Und seine Witwe hat nichts Besseres zu tun, als das Unternehmen zur Auktion einzuladen ...«

»Manche sind eben mit allen Wassern gewaschen«, konstatiert Ebon. »Sofort wieder zu heiraten, und das nach einem so guten und lieben Mann wie Bertil. Seinen eigenen Bruder ... als hätte sie überhaupt nicht getrauert ...«

»Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr von Bertil.«

»Ein guter Kerl«, entgegnet Helge. »Sehr fleißig. Hat den Wald in Ordnung gehalten und den Hof gut bewirtschaftet. Schludrigkeit gab’s bei dem nicht. Ob Traktor oder Auto, immer hat er alles selbst repariert, und getrunken hat er auch nicht.«

»Zwar hat er sich nicht oft in der Kirche blicken lassen«, wirft Ebon ein, »aber andererseits ... Alle wussten, dass Bertil in Ordnung war. Ist auf dem Hof zur Welt gekommen, wie schon sein Vater und sein Großvater.«

Irgendwann verabschiedet Ingbritt sich und verspricht, beim nächsten Mal ihren Mann mitzubringen. Sie hat das Gefühl, dass es sich für eine Frau nicht schickte, den Antrittsbesuch bei den Nachbarn unangekündigt und allein zu absolvieren. Die Etikette verlangte wohl die Gegenwart des Ehemannes.


Das Verschwinden von Helin Aras löst auf dem Åkerdalen Gymnasium eine gewisse Verwirrung aus. An sich war man es gewohnt, dass es die Schüler in puncto Ordnung, Disziplin und vor allem Anwesenheit nicht so genau nahmen, aber Helin war nun schon eine ganze Zeit dem Unterricht ferngeblieben.

Der Rektor folgt den vorgegebenen Richtlinien, das scheint ihm das Sicherste. Er unterschreibt eine Mahnung, die der Familie zugestellt wird. Findet sich die Schülerin daraufhin nicht umgehend wieder ein, wird ihr die finanzielle Unterstützung entzogen.

Trotz dieser beherzten bürokratischen Maßnahme bleibt Helin Aras dem Unterricht weiterhin fern, und auch ihre Familie lässt nichts von sich hören.

Erfüllt von dem Wunsch, ein Exempel zu statuieren, setzt der Rektor das zentrale Ausbildungsförderungsamt vom Ausbleiben der Schülerin in Kenntnis. Damit droht Helin der Entzug ihres Förderbeitrags. Zunächst prüft das Amt, ob hier womöglich ein administrativer Fehler vorliegt oder ein Fremdverschulden vielleicht.

Fehlanzeige.

Helin Aras’ Name findet sich in sämtlichen Unterlagen, die Adresse stimmt. Der Schule liegt weder eine Krankmeldung noch die Mitteilung über einen Schulwechsel vor. Die Schulverwaltung ist ratlos.

Ein Telefongespräch mit der lokalen Oberstufenschule verschafft Klarheit: Helin Aras, 16, existiert. Bei den Lehrern ihrer Schule ist sie wohlbekannt. Ihre monatliche Fördersumme beträgt 200 Kronen. Sie hatte sich für den sozialwissenschaftlichen Zweig beworben und würde bei ihren guten Noten gewiss aufgenommen werden. Helin sei eine stille, unauffällige und ein wenig schüchterne Schülerin. Ein ehrgeiziges und intelligentes Mädchen mit minimalen Fehlzeiten. Die Familie sei kurdischer Abstammung, wahrscheinlich Muslime, vermutet die Vertrauenslehrerin der Schule, die Helins Mutter einmal begegnet war.

Ein Verwaltungsangestellter des Gymnasiums hat eine Tochter in derselben Oberstufe, die sich an Helin Aras nur flüchtig erinnert. Sie sei eine ziemlich langweilige Streberin gewesen und meist ihre eigenen Wege gegangen. Habe mit den anderen Ausländern oft in der Cafeteria gesessen und gelesen.

Auch die Lehrer beschreiben sie als zurückgezogen, etwas altklug, reif für ihr Alter. Ihre Zeugnisse weisen sie als begabte Schülerin aus.

Die Wochen vergehen, der Schulalltag wird immer häufiger durchbrochen von Drogendelikten, Mobbing, Schlägereien, Schikanen, Alkoholmissbrauch, Sachbeschädigung, Ladendiebstahl, Zurschaustellung nazistischer Symbole, Bedrohung von Lehrern und Mitschülern, Tragen von Messern, Vandalismus, Sabotage, sexuellen Übergriffen, akuten Krankheiten, Abgängen, späten Neuzugängen, ständigem Wechsel der von der Schule angebotenen Ausbildungszweige. Eine Flut von Problemen, die das nicht besonders zahlreiche Betreuungspersonal der Schule daran hindert, seinen Aufgaben angemessen nachzukommen.

Hin und wieder versucht die Vertrauenslehrerin, bei der Familie Aras zu Hause anzurufen. Das Freizeichen geht durch, doch niemand hebt ab. Sie schreibt einen Brief und dann noch einen – keine Antwort.

Schließlich setzt sie sich ins Auto, um der Familie am Abend einen unangemeldeten Besuch abzustatten.

Nervös fährt sie zu der Neubausiedlung, wo die wenigen Gastarbeiter, Asylbewerber und Sozialfälle der Gemeinde im vanillefarbenen Dreietagenhaus der kommunalen Immobiliengesellschaft untergebracht sind. Viele Wohnungen stehen leer, was nicht verwunderlich ist. Sie selbst könnte die Miete für eine Wohnung in diesem Neubau niemals aufbringen.

Doch vergeblich. Niemand öffnet, und hinter dem Briefschlitz ist alles dunkel. Sie überlegt kurz, ob sie bei den Nachbarn klingeln soll, doch der ekelhafte Geruch, der aus dem Briefschlitz dringt, hält sie davon ab.

Helin Aras samt ihrer Familie ist und bleibt verschwunden.

Unter Helins früheren Mitschülern verbreitet sich das Gerücht, sie sei mit ihrer Familie zurück in die Türkei gegangen. Der Rektor sieht sich genötigt, das Sozialamt von diesem Umstand in Kenntnis zu setzen.

»Wer weiß«, sagt der Rektor, »vielleicht ist sie in einem paramilitärischen Lager gelandet, um später als Guerillakämpferin nach Kurdistan geschickt zu werden. Davon hat man doch schon gehört, ich meine, dass es so was gibt.«

Ihm selbst – fügt er vorsichtshalber hinzu – stünden solche Verdächtigungen natürlich fern.

Allmählich gerät Helin in Vergessenheit. Sie ist 16 Jahre alt, es besteht keine Schulpflicht mehr. Nun ist es Sache der Eltern, sich der Ausbildung ihrer Tochter anzunehmen. Doch Arvid Lönnholm kann sie nicht vergessen. Es beunruhigt ihn, dass ein so junges Mädchen mir nichts, dir nichts spurlos verschwindet. Ihre ganze Familie scheint wie vom Erdboden verschluckt.

An einsamen Abenden grübelt er, was nur geschehen sein mag. Dann beschließt er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Helin Aras geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, und er kann sie nicht loswerden, ehe er dem Rätsel nicht auf den Grund gegangen ist.

Lönnholm besucht die große, lärmende Oberstufenschule, der auch Helin angehörte. Er irrt durch die Korridore, wird fast über den Haufen gelaufen, bis er das Sekretariat findet und ein Klassenfoto vom vorigen Herbst gezeigt bekommt.

34 Schüler sind auf dem Foto zu sehen. Helin steht ein wenig abseits, ganz rechts außen. Ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen, schlank, früh entwickelt, mit aristokratischer Nase und großen, ernsten, dunklen Augen. Um ihren Hals hängt eine Kette, an der sich ein Medaillon befindet. Kein Kreuz wie bei allen anderen.

Sie lächelt nicht, schaut weder in die Kamera noch zur Seite. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Eine Träumerin, denkt Lönnholm und schätzt sie auf gut 1,60 Meter.

An einem Freitagnachmittag geht er mit diesem Foto zur Polizei und meldet Helin und ihre Mutter als vermisst. Die Polizei würde sich der Sache bestimmt zuverlässig annehmen, doch Lönnholm hat das Gefühl, er sollte auch selbst etwas unternehmen.

*


Den größten Teil des Frühlings hindurch hatte Helin nach Beendigung der Hausaufgaben auf dem Balkon der Dreizimmerwohnung ihrer Familie gesessen. Sie hatte sich gefragt, wie es auf dem Gymnasium wohl werden würde, und ein Buch nach dem anderen gelesen. Die beste Methode, um richtig Schwedisch zu lernen, hatten ihre Lehrer gesagt.

Der Sommer nahte.

Vom Balkon aus konnte sie beobachten, wie die Jungs aus der Nachbarschaft ihre Mopeds frisierten, um an warmen Nachmittagen mit ihren Freundinnen auf dem Rücksitz zum Badestrand zu fahren.

Auf dem Platz unten an der Tankstelle spielten die Kinder Fußball. Familien packten ihre Autos und machten Ausflüge. Mädchen in Helins Alter lagen auf dem Rasen und sonnten sich, mit oder ohne Bikini-Oberteil. Das würde ihr selbst niemals einfallen. Der Mann im Haus gegenüber stand in Unterhose mit seinem Fernglas hinter der Gardine. Das schwedische Mädchen mit den blondierten Haaren aus der 3B wechselte ungeniert ihre Verehrer, kam und ging in unterschiedlicher Begleitung, oft an ein und demselben Tag. Alte Männer saßen mit ihren Plastiktüten auf den Bänken. Sie hatte beobachtet, wie zwei Jungs aus dem benachbarten Wohnviertel einen der Männer mit dem Messer gezwungen hatten, ihnen seine Tüte zu überlassen. Später hatte sie die beiden im Müllraum gefunden, wo sie in ihrem Erbrochenen lagen und schliefen.

Im Vorort mit den höchsten Mieten, den ärmsten Einwohnern und den saftigsten Wohngeldern der gesamten Gemeinde näherten sich die Ferien.

Helin fühlte sich wohl auf ihrem Balkon, saß im Schatten und las. Sie hatte gerade ›Reise ans Ende der Nacht‹ beendet und wollte sich nun den großen russischen Schriftstellern zuwenden. Ganz oben auf ihrer Liste stand Gogols ›Die toten Seelen‹, danach kam ›Anna Karenina‹ von Tolstoi an die Reihe. Sie war eine leidenschaftliche Leserin und Stammgast in der Bibliothek.

Ihrer Mutter Zozan ging es nicht gut. Sie war kaum in der Lage, das Essen zuzubereiten, war unruhig und voller Angst, seit ihr Mann Bazo sie verlassen hatte. Helin wusste nicht, warum, vermutete einen politischen Grund und vermisste ihn.

*


Lönnholm sitzt im Lehrerzimmer und sinniert, verborgen hinter dem ›Ekemåla-Kurir‹.

Kollegen kommen und gehen, leeren ihre Fächer und hinterlassen Nachrichten in den Fächern der anderen. Einige trinken Kaffee, studieren das Schwarze Brett oder lesen Zeitung, lachen, plaudern und diskutieren.

Helins Verschwinden ist eine Herausforderung. Er spürt, dass er gut Hilfe gebrauchen könnte.

Leider kennt er niemanden bei der Polizei.

Er nimmt seine schwere Aktentasche mit den Klassenarbeiten, schließt die Tür, grüßt den Hausmeister, schließt sein Fahrrad auf und vergewissert sich, dass ihm kein Witzbold die Luft aus den Reifen gelassen hat. Eine Stunde später ist er zu Hause.

Als die Nudeln »al dente« sind, fällt es ihm ein: Es hatte da eine Kommilitonin auf der Pädagogischen Hochschule gegeben. Eine bedeutend jüngere Frau, die er sehr gemocht, ja, in die er sich verguckt hatte, ohne ihr je seine Gefühle zu gestehen. Hamlin war ihr Name. Ingbritt Hamlin. Lönnholm glaubt, sich daran zu erinnern, dass Ingbritt aus Stockholm gekommen war und, schmerzlich genug, einen Polizisten geheiratet hatte, der ihm jetzt vielleicht weiterhelfen konnte. Es fragt sich nur, wie sie jetzt wohl hieß und wo sie wohnte.

Aus einer staubigen Schachtel zieht Lönnholm alte Studienunterlagen. Am Kursfoto hatte er Adresse und Telefonnummer seiner heimlichen Liebe befestigt. Mithilfe eines alten Studentenverzeichnisses sowie dem Einwohnermeldeamt gelingt es ihm, sie ausfindig zu machen. Sie wohnt in Boköping und ist mit Kriminalkommissar Knut Lindström verheiratet.

Lönnholm zögert. Was würde Margot denken, wenn er nach langjähriger Ehe den Kontakt zu einer Jugendliebe wieder aufnahm? Lönnholm ruft sich eine alte Volksweisheit in Erinnerung: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.


Von der Polizei in Västerås erfährt Lönnholm, dass sich das Revier in Boköping mehr oder minder in Auflösung befindet und Knut Lindström einen langen Urlaub in Småland angetreten hat, nach dessen Beendigung im Herbst er eine neue, noch nicht näher benannte Stelle in Vesterås übernehmen werde. Lönnholm spricht mit einem Kollegen des Kommissars, einem freundlichen Mann, der ihm mitteilt, die Familie Lindström habe irgendwo in den Wäldern nördlich von Mariannelund in der Gemeinde Eksjö einen Hof erworben.

Nicht weit von Ekemåla entfernt.

Lönnholm sucht erfolglos im Telefonbuch, wohnt jedoch lange genug in Småland, um zu wissen, dass die Einwohner dort stets bestens über die Umzüge ihrer Nachbarn informiert sind. Er brauchte bloß nach Mariannelund zu fahren und sich durchzufragen, gleich nächsten Freitag.

Nicht allzu früh am Vormittag macht er sich auf den Weg.

Die Seen leuchten in der dunkelgrünen Landschaft tintenblau, die Luft ist klar und kühl – eine Wohltat nach dem langen und ungewöhnlich warmen Sommer. Sein Herz pocht, als er, den Kopf voller Erinnerungen, seinen sandfarbenen Golf durch die hügelige Landschaft lenkt.

Bei Äspenes Bäckerei hält er an und kauft sich etwas Proviant.

Nachdem er Ingatorp passiert hat, fragt er sich, was er sagen und bei wem er sich nach dem Weg erkundigen soll. Konditorei Brödstugan hat geöffnet, doch Ingbritt und Knut Lindström gehören offenbar nicht zu den Stammkunden. Er fährt zum nächsten Supermarkt, doch nein, auch hier ist kein neu hinzugezogenes Paar namens Lindström bekannt. Dasselbe bei Konsum.

Grübelnd steuert Lönnholm die Tankstelle neben der Kirche an. Dort kennen sie einen Sommergast, der Knut Lindström heißt, wissen aber nicht, ob er Polizist ist.

»Nehmen Sie den Weg nach Linneryd, dann weiter geradeaus, wo der Asphalt aufhört. Da, wo der Asphalt wieder beginnt, geht’s nach links. Dort muss es sein. Am besten, Sie klopfen irgendwo und fragen noch mal nach. Auf Holmsved ist immer jemand zu Hause, aber da sind Sie dann schon zu weit gefahren«, klärt ihn ein fröhlicher junger Mann in der Reifenwerkstatt auf. Lönnholm denkt daran, dass die Winterreifen seines Golf schon sehr abgefahren sind. Bald kommt der erste Nachtfrost, dann der Schnee. Höchste Zeit, neue Reifen zu kaufen.