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George

SOROS

Meine Philanthropie

Philosophie und Praxis
eines Wohltäters

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
My Philanthropy
ISBN 978-1-61039-270-9

Copyright der Originalausgabe 2011:
Copyright © 2011 by George Soros
Published in the United States by PublicAffairs™,
a Member of the Perseus Books Group. All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2013:
© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller
Gestaltung und Satz: Johanna Wack
Lektorat: Claus Rosenkranz

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhalt

Philantrophie

Ich bin sowohl selbstsüchtig als auch egozentrisch und gebe das ohne Bedenken zu. Ich habe aber im Laufe der letzten 30 Jahre eine weitreichende philanthropische Unternehmung aufgebaut, die Open Society Foundations, die früher ein Jahresbudget von rund 500 Millionen Dollar hatte, das inzwischen jedoch in Richtung einer Milliarde klettert. (Insgesamt hat sie seit 1979 circa acht Milliarden Dollar ausgegeben.) Die Aktivitäten der Open Society Foundations erstrecken sich auf alle Teile des Erdballs und decken ein derart breites Spektrum an Themen ab, dass ich darüber selbst überrascht bin. Natürlich bin ich nicht der einzige, der selbstsüchtig und egozentrisch ist – das gilt für die meisten von uns, aber ich bin eben bereit, es zuzugeben. Es gibt auf der Welt zwar viele wirklich wohltätige Menschen, aber nur wenige von ihnen häufen ein so großes Vermögen an, wie man es braucht, um zum Philanthropen zu werden.

Ich habe mich vor der Philanthropie immer gehütet. Meiner Ansicht nach ist die Philanthropie widersprüchlich, sie führt zu viel Heuchelei und zahlreichen Paradoxa. Hier ein paar Beispiele: Die Philanthropie soll eigentlich dem Nutzen anderer gewidmet sein, aber den Philanthropen geht es in erster Linie um ihren eigenen Nutzen. Philanthropie hilft angeblich anderen Menschen, aber oft macht sie die Menschen abhängig und zu Objekten der Wohltätigkeit. Die Anwärter sagen den Stiftungen, was sie hören wollen, und diese machen dann, was der Anwärter möchte.

Aber wenn ich der Philanthropie so kritisch gegenüberstehe, warum widme ich ihr dann einen so großen Teil meines Vermögens und meiner Energie? Die Antwort liegt zum Teil in meinem persönlichen Hintergrund und in meiner Geschichte, zum Teil in dem konzeptuellen Rahmen, der mich mein Leben lang geleitet hat, und zum Teil ist es purer Zufall.

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Die prägende Erfahrung meines Lebens war die Besetzung Ungarns durch die Deutschen 1944. Ich war Jude und noch keine 14 Jahre alt. Durch den Holocaust hätte ich leicht sterben oder bleibende seelische Schäden davontragen können, wäre da nicht mein Vater gewesen, der die Gefahren verstand und der mit ihnen besser zurechtkam als die meisten anderen. Er hatte im Ersten Weltkrieg gewissermaßen ähnliche Erlebnisse und das hatte ihn auf die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg vorbereitet.

Ich erzähle seine Geschichte gern: Er meldete sich freiwillig zur österreichisch-ungarischen Armee und wurde von den Russen gefangen genommen. Als Kriegsgefangener wurde er nach Sibirien gebracht. Im Lager gab er ein handgeschriebenes Literaturmagazin heraus, das an einem Brett ausgehängt wurde und darum Das Brett hieß. Die Verfasser der Artikel versammelten sich immer hinter dem Brett und hörten sich die Kommentare der Leser an. Mein Vater brachte diese handgeschriebenen Seiten mit nach Hause und ich erinnere mich noch, dass ich sie mir als Kind angeschaut habe. Das Brett machte ihn sehr beliebt und er wurde zum Gefangenenvertreter gewählt. Als aus einem benachbarten Lager einige Kriegsgefangene flüchteten, wurde als Vergeltungsmaßnahme der dortige Vertreter erschossen. Anstatt darauf zu warten, dass dies auch in seinem Lager passieren würde, scharte mein Vater eine Gruppe von Gefangenen um sich und organisierte einen Ausbruch. Sie bauten ein Floß, mit dem sie sich bis zum Meer treiben lassen wollten. Es mangelte ihnen allerdings an geografischen Kenntnissen und sie wussten nicht, dass alle sibirischen Flüsse ins Polarmeer münden. Als sie ihren Fehler bemerkten, verließen sie das Floß und machten sich durch die unbewohnte Taiga auf den Rückweg in die Zivilisation. Sie gerieten in die Gesetzlosigkeit der Russischen Revolution und erlebten einige grauenhafte Abenteuer. Das war sein prägendes Erlebnis.

Irgendwann schaffte es mein Vater, nach Ungarn zurückzukehren, aber als er heimkam, war er ein anderer Mensch geworden. Als er sich freiwillig zur Armee gemeldet hatte, war er ein ehrgeiziger junger Mann gewesen. Durch seine abenteuerlichen Erlebnisse in Russland hatte er jedoch seinen Ehrgeiz verloren und wollte vom Leben nichts anderes mehr, als es zu genießen. Zu seinen größten Freuden gehörte es, seine beiden Kinder großzuziehen. Dadurch wurde er zu einem sehr guten Vater. Auch half er gern anderen Menschen und leitete sie an und er hatte ein Händchen dafür, mit fremden Menschen Bekanntschaft zu schließen. Er legte seinen eigenen Erkenntnissen und seinem Urteilsvermögen zwar einen hohen Wert bei, aber in anderen Belangen war er grundsätzlich kein selbstsüchtiger oder egozentrischer Mensch.

Als die Deutschen am 9. März 1944 Ungarn besetzten, wusste mein Vater genau, was zu tun war. Ihm war klar, dass es unnormale Zeiten waren und dass Menschen, die sich an die normalen Regeln hielten, in Gefahr waren. Er beschaffte falsche Identitäten, und zwar nicht nur für seine engsten Familienangehörigen, sondern für einen größeren Kreis. Von denjenigen, die es sich leisten konnten, verlangte er dafür Geld – manchmal horrend viel –, anderen half er gratis. Ich hatte ihn vorher noch nie so hart arbeiten sehen. Es war seine große Stunde. Sowohl seinen engsten Familienangehörigen als auch den meisten, die er beraten oder denen er geholfen hatte, gelang es, zu überleben.

Das Jahr der deutschen Besetzung, 1944, war mein prägendes Erlebnis. Anstatt uns in unser Schicksal zu ergeben, wehrten wir uns gegen eine Macht, die viel stärker war als wir – und doch behielten wir die Oberhand. Wir überlebten nicht nur, sondern wir schafften es auch, anderen zu helfen. Dies hinterließ bei mir einen nachhaltigen Eindruck und verwandelte eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes in ein heiteres Abenteuer.* Es brachte mich auf den Geschmack, Risiken einzugehen, und unter der klugen Anleitung meines Vaters lernte ich, sie zu meistern – die Grenzen des Möglichen zu erkunden, aber nicht über diese Grenzen hinauszugehen. Es macht mir definitiv Vergnügen, mich harten Realitäten zu stellen, und ich packe gern scheinbar unlösbare Probleme an. Anderen zu helfen verlor für mich zwar nie den positiven Beigeschmack, aber lange Zeit hatte ich kaum Gelegenheit, es zu praktizieren.

Nach den aufregenden Abenteuern der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde das Leben in Ungarn sehr eintönig. Das Land wurde von russischen Truppen besetzt und die Kommunistische Partei etablierte ihre Herrschaft. Ich wollte raus und mit der Hilfe meines Vaters schaffte ich es auch, herauszukommen. Im September 1947 ging ich zum Studieren nach England.

Das Leben in London war eine große Enttäuschung. Ich war 17 Jahre alt, hatte kaum Geld und Verbindungen und war daher einsam und unglücklich. Ich schaffte es zwar, mich durch das College durchzuarbeiten, aber es war keine angenehme Erfahrung. Alle Studenten, deren Eltern in England wohnten, hatten Anspruch auf ein Stipendium von der Bezirksgemeinde. Ich war davon ausgeschlossen, weil meine Eltern nicht mitgekommen waren. Der Weg durchs College war also kein ausgetretener Pfad, aber ich musste ihn gehen.

In dieser schweren Zeit hatte ich zwei Begegnungen mit der Philanthropie, die meine Einstellung gegenüber der Wohltätigkeit für immer geprägt haben. Kurz nach meiner Ankunft in London wandte ich mich an das Jewish Board of Guardians und bat um finanzielle Unterstützung. Sie wurde mir mit der Begründung verweigert, laut Vorschrift dürfe es nur junge Menschen unterstützen, die einen Beruf lernen, aber keine Studenten. Später, als ich schon an der London School of Economics studierte, arbeitete ich zur Weihnachtszeit als Gepäckträger bei der Bahn und brach mir ein Bein. Als ich aus dem Krankenhaus kam, ging ich an Krücken und dachte, dies wäre eine gute Gelegenheit, etwas Geld vom gemeinnützigen Jewish Board of Guardians zu bekommen. Ich erklomm mit meinen Krücken zwei Stockwerke und bat um vorübergehende Unterstützung. Sie wiederholten aber nur ihr Mantra, sie würden nur Lehrlingen helfen, doch abweisen konnten sie mich auch nicht. Sie gaben mir drei Pfund, die kaum für eine Woche reichten. Das ging mehrere Wochen so. Ich musste jedes Mal auf Krücken die Treppen hinaufsteigen, um das Geld abzuholen.

Inzwischen hatte mein Mitbewohner, der meine Geschichte gehört hatte, beschlossen, zum Jewish Board of Guardians zu gehen und zu erklären, er wolle einen Beruf lernen. Er machte die Jobs, die ihm das Board besorgte, zwar nie lange, aber es unterstützte ihn weiterhin. Nach einer Weile wollten sie mich zur Berufsunfallversicherung schicken, von der ich Unterstützung bekommen sollte, aber ich erklärte, dass ich dort nicht hinkonnte, weil ich illegal arbeitete und mein Studentenvisum nicht gefährden wollte. Das stimmte allerdings nicht. Mein befristeter Job bei der Bahn war absolut legal, aber das wussten sie nicht. Sie hatten einen Sozialarbeiter damit beauftragt, mich zu überprüfen, doch er fand es nicht heraus. Als mir das Board weitere Unterstützung verweigerte, fühlte ich mich daher moralisch berechtigt, einen leidenschaftlichen Brief an den Vorsitzenden des Boards zu schreiben, in dem es unter anderem hieß: „Ich werde es zwar schaffen, zu überleben, aber es macht mich traurig, dass das Board, dessen Vorsitzender Sie sind, einem jungen Juden nicht helfen will, der sich ein Bein gebrochen hat und in Not war.“ Das zeigte die gewünschte Wirkung. Der Vorsitzende sorgte dafür, dass ich die drei Pfund pro Woche per Post bekam und keine Treppen mehr steigen musste. Als ich die Krücken nicht mehr brauchte und im Urlaub per Anhalter durch Südfrankreich gereist war, schrieb ich dem Vorsitzenden, ich bräuchte seine Unterstützung nicht mehr, und bedankte mich bei ihm. Ich hatte die Organisation zwar getäuscht, aber ich fühlte mich moralisch im Recht, weil sie Erkundigungen über mich eingeholt hatte und nach Überprüfung meiner Geschichte eigentlich hätte bereit sein müssen, mir zu helfen.

Meine nächste Begegnung mit der Philanthropie hatte ich, als ich nachts in einem Nachtklub kellnerte und tagsüber studierte. Als meine Tutorin das merkte, wandte sie sich an die Quäker, die mir daraufhin einen Fragebogen schickten. Nachdem ich ihn ausgefüllt hatte, schickten sie mir anstandslos einen Scheck über 40 Pfund. Das beeindruckte mich als die angemessene Art, Menschen zu helfen.

Nach dem Crash 2008 konnte ich organisieren, dass fast eine Million New Yorker Schulkinder, deren Eltern von der Wohlfahrt oder Lebensmittelmarken lebten, einen Scheck über 200 Dollar bekamen, ohne irgendwelche Fragen beantworten zu müssen. Ich brachte 20 Prozent der Kosten im Namen des Staates New York auf, damit es als Bundeszuschuss im Rahmen des Anreizpakets gelte konnte. Die Großzügigkeit der Quäker trug somit 60 Jahre später reichliche Früchte und ich fühlte trotz der Angriffe der New York Post, die über die „milden Gaben“ lästerte, wohl damit.