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Die Krise zeigt, wie unbedacht es war, einem heterogenen Wirtschaftsraum eine Einheitswährung zu verordnen, ohne ihn politisch zu einen. Die Eurozone ist nun gespalten in Gewinner und Verlierer. Der Süden ächzt unter dem verheerenden Spardiktat, rechtspopulistische Kräfte machen im Norden mobil. Wir haben es mit einer Krise des Krisenmanagements zu tun: Die Technokraten in Brüssel haben kein demokratisches Mandat, während nationale Regierungen andere Ziele verfolgen als ein europaweites Gemeinwohl.

 Claus Offe kartografiert die Zwickmühlen, in denen die EU steckt. Er plädiert für eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Bürger für Europa gewinnen und das Gefälle in der Eurozone abflachen könnte.

 

Claus Offe, geboren 1940, lehrte Politikwissenschaft und Soziologie in Bielefeld, Bremen, an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Hertie School of Governance

 

 

Claus Offe

Europa in der Falle

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2014 unter dem Titel Europe Entrapped bei Polity Press (Cambridge).

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2691.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-74092-7

www.suhrkamp.de

Für Zygmunt Bauman

 

den Gelehrten und europäischen Bürger

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

I.

Demokratischer Kapitalismus und Europäische Union

II.

Die Natur der Krise

III.

Wachstum, Schulden und Teufelskreise

IV.

Kein Zurück zum Ausgangspunkt

V.

Auf der Suche nach politischer Handlungsfähigkeit

VI.

Motive für das politische Projekt der EU-Integration

VII.

Politische Kräfte und Interessen

VIII.

Die deutsche Führungsrolle? Eine Scheinlösung

IX.

Ausgedünnte demokratische Rechte: Die hässliche Seite des EU-Herrschaftssystems

X.

Umverteilung zwischen Staaten, Klassen und Generationen

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

EP

Europäisches Parlament

ER

Europäischer Rat

ESM

Europäischer Stabilitätsmechanismus (auch: Europäisches Sozialmodell)

EuGH

Europäischer Gerichtshof

Eurostat

Statistisches Amt der Europäischen Union

EVP

Europäische Volkspartei

EZB

Europäische Zentralbank

IWF

Internationaler Währungsfonds

OMT

Outright Monetary Transactions

PIIGS

Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien

S&D

Sozialisten und Demokraten (Fraktion des EP)

UKIP

United Kingdom Independence Party

VAEU

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

VEU

Vertrag über die Europäische Union

WWU

Wirtschafts- und Währungsunion

 

Vorwort

Die Krise und die Ungewissheiten, die der Euro ausgelöst hat, haben in der ganzen Eurozone und darüber hinaus zu hitzigen Debatten und tiefgehenden nationalen und internationalen Konflikten geführt. In diesem schmalen, im Original auf Englisch verfassten Band versucht der Verfasser, die Turbulenzen, die der Euro für Staaten und Gesellschaften der EU und der Eurozone verursacht hat, verständlich zu machen. Der Fokus liegt auf dem Problem der politischen Handlungsfähigkeit: Gibt es soziale und politische Kräfte, inspirierende Ideen oder mit ausreichenden Ressourcen ausgestattete Akteure, die die Europäer aus der Falle, in die sie der Euro geführt hat, befreien könnten? Deutschland ist der Mitgliedsstaat, mit dem der Verfasser am besten vertraut ist; das ist nicht der einzige Grund, warum das Land in dieser Analyse eine besondere Rolle spielt. Das Buch beruht auf einem Aufsatz mit demselben Titel, der 2013 zunächst in den Blättern für deutsche und internationale Politik und dann erweitert 2013 im European Law Journal erschienen ist. Eine Reihe von Kollegen hat mich ermutigt, diesen Aufsatz zu aktualisieren und zu einem Buch auszuarbeiten. Da das Original auf Englisch verfasst wurde, sind Verweise auf die reichhaltige deutschsprachige Literatur zum Thema auf ein Minimum beschränkt.

Viele der hier angestellten Überlegungen haben von den Arbeiten von und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen profitiert: Albena Azmanova, Angelo Bolaffi, Hauke Brunkhorst, Manuel Castells, Alessandro Cavalli, Stefan Collignon, Christoph Deutschmann, Henrik Enderlein, Gerd Grözinger, Ulrike Guérot, Jürgen Habermas, Anke Hassel, Christian Joerges, Otto Kallscheuer, Alexander E. Kentikelenis, Ivan Krastev, Agustín J. Menéndez, Ulrich K. Preuß, Fritz W. Scharpf, Wolfgang Streeck, John Thompson, Reinhard Ueberhorst, Jonathan White und Lutz Wingert. Ihnen gilt mein Dank. Dieser gilt in besonderem Maße auch meiner Mitarbeiterin Ines André-Schulze für ihre Hilfe bei der Bearbeitung des Textes.

 

Berlin, im Oktober 2015

 

Claus Offe

 

Einleitung

Die Europäische Union befindet sich an einem Scheideweg: Entweder gelingt eine erhebliche Verbesserung ihrer institutionellen Struktur oder es kommt zu ihrem Zerfall. Der Status quo lässt sich jedenfalls nicht fortschreiben. Darüber, dass es nicht weitergehen kann wie bisher, sind sich so gut wie alle einig, sowohl in Europa selbst wie auch die auswärtigen Beobachter der Situation. Ich stehe insofern keineswegs allein mit der Auffassung da, dass die gegenwärtige Krisensituation – die sich zusammengebraut hat aus einer Finanzmarktkrise, einer Staatsschuldenkrise, einer Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise und einer Institutionenkrise der EU und ihrer demokratischen Qualität – wegen ihrer Komplexität und Ungewissheit beispiellos und dauerhaft besorgniserregend ist.[1] Wenn es nicht schnell (wobei niemand weiß, was in diesem Fall »schnell genug« bedeutet, weil wir nicht wissen, ob wir uns »am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Krise« befinden[2]) gelingt, die Probleme durch eine institutionelle Generalüberholung der EU zu lösen, werden sowohl das Projekt der europäischen Integration als auch die Weltwirtschaft erheblichen Schaden nehmen – von den schweren sozialen Leiden, die die Gesellschaften der europäischen Peripherie schon durchstehen mussten, ganz zu schweigen.

Es erscheinen pro Monat Dutzende akademische Artikel, policy papers und journalistische Beiträge, in denen die Frage erörtert wird, was man tun könne, um die Krise zu »lösen«. Diese Analysen operieren häufig mit den Alternativen »Rückbau oder Vertiefung der europäischen Integration«.[3] Sie präsentieren zwei oder mehr vorgestellte Auswege aus der Krise und sortieren diese dann nach ihrer vermuteten Machbarkeit und den politischen Präferenzen der Verfasser.

Während diese erste Diagnose einer vielgesichtigen Krise weithin geteilt wird, ist eine zweite Beobachtung eher kontrovers: nämlich die, dass die Krise diejenigen Kräfte weitgehend gelähmt und zum Schweigen gebracht hat, die überhaupt fähig wären, Lösungen zu konzipieren, durchzusetzen und so konstruktive Auswege zu eröffnen. Anders als manche marxistische Denker ebenso wie selbstgewisse Technokraten behaupten, bringen Krisen die Kräfte zu ihrer Überwindung nicht immer selbst hervor. Wir beobachten heute das Gegenteil: Solche Kräfte werden durch die Krise nicht geweckt, sondern blockiert. Anstatt eine positive Dynamik des Lernens und des Widerstandes zu entfalten, werden potentielle Akteure der Veränderung durch die Auswirkungen der Krise selbst deaktiviert und entmutigt. Während es Hoffnungen (z. ‌B. auf einen wirtschaftlichen Aufschwung) und Visionen (z. ‌B. die einer föderativen europäischen Republik) oder auch rückwärtsgewandte Voten für eine Rückkehr zum Nationalstaat bzw. den Ausschluss wirtschaftlich schwacher Mitgliedsstaaten aus der Eurozone zuhauf gibt, bleibt doch die Frage offen, ob überhaupt irgendjemand (und ggf. wer) ausreichend legitimiert und mit genügend politischen und wirtschaftlichen Ressourcen ausgestattet ist, um eine Strategie zu entwickeln und umzusetzen, die Europa in eine wünschbare und nachhaltige Zukunft führen könnte. Auch gibt es keinen Konsens darüber, nach welchen Verfahrensregeln dies geschehen könnte. Man kann insofern von einer »Krise des Krisenmanagements« sprechen (wie ich es vor vierzig Jahren in einem anderen Kontext getan habe[4]). Selbst wenn Einigkeit darüber bestünde, was zu tun ist, so bliebe die zweite und schwierigere Frage unbeantwortet: Wer kann die notwendigen Schritte umsetzen? Das Identifizieren wünschenswerter strategischer Ziele hilft uns wenig, wenn niemand bereit und in der Lage ist, sie anzugehen. Solange wir keine Antwort auf diese Frage haben, befinden wir uns nicht nur in einer Krise – wir stecken in einer Falle. Eine Falle lässt sich als eine Situation definieren, die für jene, die darin gefangen sind, unerträglich ist, während gleichzeitig jeder Rück- oder Ausweg blockiert ist, weil es an den hierzu erforderlichen Kräften und Akteuren fehlt.

Eine Lage, von der wir alle passiv betroffen sind, kann nicht aktiv gestaltet und unter Kontrolle genommen werden, weil es auf europäischer Ebene an einer Instanz fehlt, die mit ausreichender legitimer Macht ausgestattet wäre. Mario Draghi und andere träumen z. ‌B. öffentlich von einem »europäischen Finanzminister« – aber es gibt keinen europäischen Gesetzgeber mit umfassendem Budgetrecht, der befugt wäre, dessen Haushalt zu verabschieden. Die Diskrepanz zwischen der Reichweite von (europaweiten) Kausalketten und der Reichweite national bzw. »intergouvernemental« befangener Kontrollmöglichkeiten betrifft vor allem die Mitglieder der Eurozone: Sie wurden auf der einen Seite geldpolitisch entmachtet, weil sie ihre nationalen Währungen aufgegeben haben; auf der anderen Seite waren sie nach dem Wortlaut der Verträge daran gehindert, die gemeinsame Regierungsfähigkeit und wirtschaftspolitische Gestaltungskapazität aufzubauen, die ihnen erlauben würde, ihre Interdependenz in einer allerseits erträglichen Weise zu regeln und gleichzeitig die Macht der Finanzmärkte zu kontrollieren. Die Eurozone ist heute ein missgebildetes System aus neunzehn Staaten ohne eigene Zentralbank und einer Zentralbank ohne Staat. Soziologisch betrachtet geht der Horizont der »funktionalen« Integration und der Interdependenzen weit über den der »sozialen« Integration und der Beherrschbarkeit durch Akteure hinaus.

Mit dieser Problematik beschäftigt sich dieser Essay, auch wenn die hier entwickelten Lösungen hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) negative sind. Ich versuche zu zeigen, dass es eine Reihe von Akteuren gibt, deren Ideen und Ressourcen sich definitiv nicht als aussichtsreiche Krisenlösungen empfehlen. Zu ihnen gehören die EZB, der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, die deutsche Bundesregierung, renationalisierte Regierungen der Mitgliedsstaaten, die Bewegung der europafeindlichen politischen Parteien und die Technokraten der Europäischen Kommission. Wenn die dramatischen Verhandlungen der Mitglieder der Eurogruppe vom Juli 2015 über die Bewältigung der griechischen Schulden- und Wirtschaftskrise eines überdeutlich demonstriert haben, dann ist es die Unfähigkeit der versammelten Regierungen, Lösungen zu finden, die zugleich effektiv und nachhaltig sind (im Gegensatz zu absehbar kontraproduktiven und kurzlebigen Scheinlösungen) und die zudem von allen Beteiligten als legitim anerkannt werden können (im Gegensatz zu einer unverhohlenen Nötigung eines Mitgliedsstaates durch einen anderen).

Die Tiefe der aktuellen Krise ist einem zentralen Widerspruch geschuldet: Die Dinge, die im Interesse der Stabilisierung von Union und Eurozone dringend angegangen werden müssen, sind innerhalb der Mitgliedsstaaten gleichzeitig in hohem Maße und offenbar zunehmend unpopulär. Das, was zu tun geboten ist (und worüber sich »im Prinzip« alle einig sind, nämlich irgendeine Art der Neuverteilung von Bürden und Zuständigkeiten innerhalb der EU), können die nationalstaatlichen Eliten, sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie, ihren Wählern nicht »verkaufen«, d. ‌h. erklären und akzeptabel machen. Schließlich sind die politischen Parteien, die diesen »Verkauf« zu organisieren hätten, nach wie vor wesentlich nationale Machterwerbsorganisationen, die im Geiste eines positivistischen Opportunismus den (vermeintlich) »gegebenen« und unabänderlichen Präferenzen der Wähler folgen, anstatt sich veranlasst zu sehen, diese Präferenzen zu prägen, einen Konsens zu bilden und grenzüberschreitende Vertrauensbeziehungen und Solidaritäten zu schaffen. Politische Parteien (und ebenso die Medien) müssten in der Lage sein, argumentativ Präferenzen zu bilden; dann wären sie imstande, verbreitete Ängste, Verdächtigungen, Anschuldigungen der Verlierer und die Deutung von Konflikten in nationalen Kategorien ein Stück weit zu neutralisieren. Eine verbreitete Einstellung, die politische Parteien eher noch bekräftigt als neutralisiert haben, besteht in einer reflexhaften Verdächtigung: Wenn »wir« für »die anderen« solidarische Opfer bringen, dann werden »die« unsere Großzügigkeit nur ausnutzen, sich selbst nicht weiter anstrengen und sich so auf »unsere« Kosten einen unfairen Vorteil verschaffen. Anders gesagt, die »anderen« werden pauschal nicht nur der mangelnden Leistungsfähigkeit, sondern darüber hinaus der bedenkenlosen Selbstbereicherung bezichtigt – eine bequeme Rahmung bzw. Unterstellung, die sich perfekt eignet zur Abweisung von Solidarpflichten. Die Wirtschaftswissenschaften stellen für diese Rahmung das Theorem des moral hazard zur Verfügung: Hilfe verdirbt den Charakter dessen, dem geholfen wird. Die kognitive Voreingenommenheit des Publikums, die von politischen Parteien noch ermutigt wird, läuft auf den Befund hinaus, dass die Probleme auf dem falschen Verhalten der »anderen« beruhen und sich nicht etwa aus der institutionellen Struktur der Eurozone und der EU ergeben; würde dies anerkannt und vermittelt, dann würden sich die Probleme als Probleme darstellen, die »wir alle« zu bewältigen haben.

Woran es demnach in entscheidender Weise fehlt, ist nicht so sehr Geld wie Konsens und geeignete institutionelle Mechanismen der Konsensbildung und der Mobilisierung politischer Unterstützung. Die Diskrepanz zwischen dem, was aus wirtschaftlicher Sicht notwendig ist, und dem, was politische Akteure strategisch für politisch durchsetzbar halten, führt auf beiden Seiten der sich vertiefenden Spaltung Europas zu der inzwischen viel beschworenen »Unregierbarkeit«. Wenn die Eurozone auseinanderbricht, weil deren Eliten dieses Dilemma nicht lösen können, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass auch die gesamte Union scheitern wird. Insofern ist der deutschen Kanzlerin zuzustimmen, wenn sie auch die Tatsache unerwähnt lässt, dass die ungezügelte, außer institutionelle Kontrolle geratene Dynamik der Wirtschafts- und Währungsunion selbst es ist, welche die Gefahr einer europäischen Desintegration heraufbeschwört.

 

 



[1] Das gilt selbst dann, wenn man (wie es hier geschieht) die neuen Krisen des Jahres 2015 aus der Betrachtung ausklammert, nämlich die militärischen Konflikte in der Ukraine und in Syrien, die Flüchtlingskrise und die terroristischen Angriffe islamistischer Kämpfer.

[2] Thompson (2012), S. 61; Rachman (2014) berichtet, dass einige Beobachter aufgrund der neuesten Haushalts- und Finanzdaten Griechenlands schon das Ende der Krise feiern, während andere, wie einer von Europas einflussreichsten Politikern, auf die Frage, ob die Krise wirklich zu Ende sei, antwortete: »Nein, es bewegt sich jetzt von der Peripherie ins Zentrum«; dies bedeute, dass »Sorgen um Italien oder sogar Frankreich jetzt größer werden müssten«.

[3] Platzer (2014).

[4] Offe (1976).