image

Bernd Schuchter

Jacques Callot

und die Erfindung des Individuums

BERND SCHUCHTER

Jacques Callot

und die Erfindung
des Individuums

image

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2016
© 2016 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at

Coverbild und Innentitel: akg-images / Erich Lessing
Bilder im Innenteil: S. 6 akg-images / Vorstermann n. van Dyck; S. 70 akg-images / François Guénet; S. 126-127 akg-images / Quint & Lox Vor- und Nachsatz und Foto S. 80-81: wikicommons / public domain
ISBN Printausgabe: 978-3-99200-168-2

ISBN e-book: 978-3-99200-169-9

INHALT

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Nachtrag

Epilog

Weiterführende Lektüre

Endnoten

Dank

Für Martin

image

„Warum kann ich mich an deinen
sonderbaren fantastischen Blättern
nicht satt sehen, du kecker
Meister! – Warum kommen mir
deine Gestalten, oft nur durch
ein Paar kühne Striche angedeutet,
nicht aus dem Sinn?“

E.T.A. Hoffmann über
Jacques Callot, aus der Vorrede zu
Fantasiestücke in Callots Manier

Kupferstich von Lucas Vorsterman
nach einem Gemälde von Anthonis van Dyck, 1630, 23,2 x 17,2 cm

I

Jacques Callot fror. Er zog seinen Mantel so gut es ging enger um seinen schmalen Körper, atmete tief aus. Seit Tagen saß Callot im Sattel und ritt mit manchen Umwegen nach Norden. Neben der Kälte kroch nun auch eine klamme Feuchtigkeit in seine Glieder, die Kleider hingen wie nasse Säcke an seinem Körper und es schien, als würden sie über Nacht nie ganz trocken werden. Je näher er der Stadt Breda kam, desto widriger wurde das Klima, wie es für die Spanischen Niederlande bekannt war. Seit Jahren froren die Grachten und Kanäle monatelang zu und der Transport der Waren kam fast gänzlich zum Erliegen. Im Sommer feucht und kühl, im Winter feucht und kalt bis zum Erfrieren. Dazu der Krieg, der nun schon viele Jahre ins Land zog. Darüber ein ewig grauer Himmel, so weit das Auge blicken kann; bis zum Horizont und weiter. Callot fror – und mit ihm ein ganzes Land – Mensch, Tier, Boden.

image

Wie mag sich der Kupferstecher und Radierer Jacques Callot auf seiner Reise in den Norden tatsächlich gefühlt haben? Seit Tagen unterwegs, mit Pferd, mit Kutsche, die holprigen Wege entlang, durch dunkle, nicht endenwollende Wälder, über Hügel und an Bächen vorbei, an ausgebrannten Höfen, von denen nur mehr eine Ruine in der Landschaft stand, vorbei an Feldern, auf denen kein Korn wuchs, da die Knechte und Bauern geflohen waren oder zum Militär gepresst wurden. Eine Reise, die man sich nicht vorstellen kann.

Hinter der nächsten Ecke, dem nächsten Hügel konnte man auf versprengte Militärs oder vagabundierende Söldner treffen, auf Bauernbanden, die sich von den Höfen zurück und in die Wälder verzogen hatten und all jenen auflauerten, die es zu berauben lohnte. So waren die Zeiten damals, als Jacques Callot im Auftrag von Infantin Isabella, also des Spanischen Königshauses, nach Norden, in die belagerte Stadt Breda – die Festung – reiste, um sie auf seine Platten zu bannen. Der lange Krieg, der später der Dreißigjährige genannt werden wird, dauerte erst neun Jahre.

In dieser Zeit wird eine Generation von jungen Männern heranwachsen, die ein Leben lang nichts anderes kennen wird als den Krieg. Ein Leben in Armut, Elend und Mühsal. Und wofür dieses Leiden? Für die Gnade Gottes!

Deus vult. Gott will es. Das ist der Leitspruch, der die Menschen während des Dreißigjährigen Krieges antreibt, ihnen Hoffnung ebenso wie Verzweiflung bringt. Wie Jahrhunderte später sich die Überlebenden der großen Tragödie des 20. Jahrhunderts – die geschundenen Juden, Roma, Sinti und all die anderen –, die in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten gelitten haben, fragen: warum ich, warum wir, so fragten sich die Menschen des beginnenden 17. Jahrhunderts wohl ebenso, warum gerade dieser gütige Gott, zu dem sie ihre Gebete schickten, dieses ganze Leid nur wollen konnte. Oder anders gefragt: Wie konnte er es zulassen?

Der Dreißigjährige Krieg wurde aus konfessionellen Gründen geführt, so sieht es vordergründig aus. Es ging den katholischen Ständen und Kaiser Ferdinand II. im Zuge der Gegenreformation in erster Linie um eine Rekatholisierung der ehemaligen Herrschaftsgebiete, die sich dem neuen Glauben nach Luther angeschlossen hatten. Es ging ihnen um die Vorherrschaft ihrer einen, allein selig machenden Botschaft, vor allem aber war es ihnen um den Grund und Boden zu tun, der ihnen in den Jahrzehnten zuvor durch die reformatorischen Kräfte verloren gegangen war. Die Klöster und Abteien, die zugehörigen Ländereien, die auch immer mit diversen Privilegien verbunden waren, dem Fischereirecht, dem Recht zur Bewirtschaftung der Forste und anderer Regalien1. Neben der Ehre Gottes hatten die alten Eliten in den katholischen Stammländern Österreich und Spanien, die beide von unterschiedlichen Linien der Familie der Habsburger regiert wurden, handfeste ökonomische Gründe, diesen einen, langen Krieg zu führen. Sie wollten ihre ehemals unumschränkten Herrschaftsansprüche neu und dieses Mal für die Ewigkeit zementieren.

Der Krieg selbst begann mit einem markanten Ereignis – dem Zweiten Prager Fenstersturz. Die protestantischen Stände sahen die ihnen im Majestätsbrief von 1609 zugesicherte Religionsfreiheit in Gefahr, woraufhin etwa 200 Ständevertreter am 23. Mai 1618 zur Prager Burg zogen und die drei Beamten des Kaisers aus dem Fenster warfen. Auch wenn sie den Sturz überlebten, so war der Fenstersturz eine Art Fehdehandschuh für den Kaiser, eine Unterminierung seiner Macht, die er sich nicht gefallen lassen konnte. Bereits im August desselben Jahres setzte der Kaiser eine Armee unter der Führung des Grafen Charles Bonaventure de Longueval, Comte de Bucquoy in Marsch; der Dreißigjährige Krieg hatte begonnen.

Deus vult. Der Leitspruch der Herrscher entpuppte sich für die Untertanen und für die Soldaten als bloßes Lippenbekenntnis. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass dieser Krieg – und Kriege gab es in dieser Zeit immer – sich über einen so langen Zeitraum hinziehen würde. Weder davor noch danach waren die Herrscherhäuser so eng miteinander verwandt; es waren Bruderkriege, die in den nächsten Jahren besonders in Deutschland ausgetragen wurden. Umso erstaunlicher scheint die Beharrlichkeit, mit der die Herrscher dieser Zeit über das Leben ihrer Untertanen entschieden. Das einzelne Leben war im Alltag nicht viel wert. Trotz der städtischen Entwicklung der Stände, die versuchten, ihre jeweiligen Rechte zu vertreten. Trotz der auslaufenden Wurzeln des Humanismus und der Renaissance, die von den Intellektuellen Italiens beschworen wurden – Stimmen, die auch in Deutschland gehört, die aber rasch der Staatsräson geopfert wurden.

Der Beginn des Krieges war geprägt von den böhmischen Ständen, die schließlich früh von der Katholischen Liga und Feldherrn Tilly bei der Schlacht am Weißen Berg bei Prag besiegt wurden. Dieser Sieg wurde der Ausgangspunkt einer beispiellosen Rückeroberungspolitik der Habsburger, die ihr Credo nicht mehr länger unter den Scheffel stellten. Unter dem Eindruck der militärischen Überlegenheit versuchten sie, in diesem Bruderkrieg in Europa die endgültige Vormachtstellung zu erringen. Ein utopisches Unterfangen, wie der spätere Kriegsverlauf zeigen sollte. Wir schreiben das Jahr 1620, als die Schlacht am Weißen Berg entschieden wird. Noch könnte die Geschichte Europas eine andere Entwicklung nehmen.

Dabei wird der lange Krieg nicht nur Not und Elend über Europa bringen, es wird wie immer auch Profiteure geben, die das Kriegshandwerk für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Profiteure waren naheliegender Weise nicht nur die Büchsenmacher und Kanonengießereien, deren Werkstätten in diesen Jahren nie stillstanden. Kriegsgewinnler waren auch jene Berufssoldaten, die ihr Handwerk quer durch alle Fronten an den jeweils Bestbietenden verkauften. Die Söldnerheere vereinten in ihren Reihen Soldaten aus den unterschiedlichsten Ländern, selbst Muslime aus dem Osmanischen Reich standen auf der Soldliste. Als Beispiel mag ein bayerisches Regiment dienen, von dem man die Zahlen kennt: von 1644 Soldaten waren „534 Deutsche, 217 Italiener, 54 Polen, 51 Slowenen, 26 Griechen, 24 Burgunder, 24 Lothringer, 18 Dalmatier, 15 Franzosen, 14 Böhmen, 11 Spanier, fünf Ungarn, je zwei Kroaten und Schotten, je ein Sizilianer und Ire und sogar 14 Türken.“2

Albrecht Wallenstein, der spätere Herzog von Friedland, war als Heerführer einer der gewieftesten und geschäftstüchtigsten. Gleich nach dem Ausbruch des Krieges erbot er sich dem Erzherzog Ferdinand, dem späteren Kaiser Ferdinand II., auf eigene Kosten ein Heer aufzustellen. Die unglaubliche Summe von 40.000 Gulden investierte Wallenstein in sein Regiment, mit dem er rasch von Sieg zu Sieg eilte. Allein in den ersten Jahren des Krieges sollten weitere Regimenter hinzukommen, sodass er seine Armee von zunächst 18.000 Fußknechten und 6000 Reitern bald auf 62.000 vergrößern konnte, im Jahr 1626 verfügte er bereits über 100.000 Soldaten.3 Er finanzierte seine Armee selbst, und verrechnete die Kosten dann später an den Kaiser weiter. Ein einträgliches Geschäft und auch eine Hybris, die ihm zum Verhängnis wurde. Dem Kaiser war Wallenstein letztlich zu mächtig geworden.

Profiteure des Krieges waren neben den Soldaten und Heerführern sowie den einzelnen christlichen Orden, denen frühere Besitzungen zurückgegeben wurden, auch einige Handwerke, die es vor allem in Kriegszeiten brauchte. Während Berufe wie Maurer, Seiler oder Tischler stagnierten, verdienten sich Metzger und Bäcker eine goldene Nase. Mit ihnen die Landesherren, die den ihnen zustehenden Pflichtanteil an Mehl und Brot, den ihre Untertanen ihnen abzuliefern hatten, mit beträchtlichem Aufschlag und viel Gewinn weiterverkauften. Die breite Bevölkerung litt unterdessen an Hunger. Auch durch die neuartige Einrichtung stehender Heere. Während in früheren Zeiten die Soldaten in den Wintermonaten, in denen witterungsbedingt nicht gekämpft werden konnte, aus der jeweiligen Armee entlassen wurden, gingen die Armeen nun in Winterquartiere, je nachdem, wo sie in Europa gerade standen. Sie blieben im Sold des Heerführers und verbrachten die kalte Jahreszeit mit Warten. Und bluteten nebenbei ganze Landstriche mit ihrem enormen Bedarf an Lebensmitteln aus.

Wallenstein wusste auch das geschickt für sich zu nutzen; er konnte in den Wirren des böhmischen Aufstands etwa 50 Güter kaufen, die später zum Herzogtum Friedland erhoben wurden. Friedland wurde die Basis seines Heeres und der Ort, von dem er Lebensmittel, Waffen, Munition, Schuhe und Uniformen bezog. Die zahllosen Armeeaufträge, die er seinen Untertanen vermittelte, vermehrten deren Wohlstand und Wallenstein selbst profitierte von den Abgaben und Steuern, die er als Landesherr einheben konnte. War die Armee unterwegs, galt das Prinzip, dass sich das Heer von dem Landstrich versorgte, in dem es sich gerade aufhielt. Alles in allem ein großes Geschäft; seinen enormen Finanzbedarf deckte Wallenstein im Übrigen durch den calvinistischen Finanzmann Hans de Witte, der die benötigten Gelder an den europäischen Finanzmärkten lukrierte; so viel also zur Kriegsmacherei aus religiösen Gründen.4

Die Armeen allerdings waren ein Moloch, ein Loch ohne Boden, dessen Bedarf unendlich schien. Eine Landplage wie Heuschrecken, die ein Land nach dem anderen abgrasen und nichts als verbrannte Erde hinterlassen.5

Jacques Callot war zu diesem Zeitpunkt, als der Krieg in der Schlacht am Weißen Berg seinen ersten Höhepunkt erfuhr, bereits ein in seiner Kunst reifer und als solcher über die Ländergrenzen hinweg anerkannter Künstler. Er war nach vielen Wanderjahren in seine Heimat Lothringen zurückgekehrt und arbeitete in seiner Heimatstadt Nancy vornehmlich im Dienst der Kirche an einem Radierzyklus von Heiligenbildern und anderen Auftragswerken. Hinter Callot lag eine lange, aufregende, oft auch ungewisse Lehrzeit in Italien, nach der er sich ein Leben lang sehnen wird. Bis zu seinem frühen Tod wird ihn die Sehnsucht nach dem Land, in dem die Pomeranzen wachsen, wie Eichendorff später schreiben wird, begleiten. Callot selbst wird Italien, sein Sehnsuchtsland, nicht wiedersehen.

Er wird jung sterben; zu einem Zeitpunkt, als Lothringen, das bis dahin über Jahrhunderte unabhängig gewesen war, an Frankreich fällt. Für Jacques Callot ging damit eine Welt unter. Als der französische Kardinal Richelieu den berühmten Kupferstecher beauftragen wollte, die Belagerung und den Fall von Nancy in Kupfer zu stechen, lehnte Callot empört ab. Eher würde er sich beide Daumen abschneiden, als dass er für den Feind zu seinem Triumphe auch nur einen Finger rühren würde, soll Callot gesagt haben. So wird es kolportiert.

Als Jacques Callot am 14. März 1635 an den Folgen seiner Kunst stirbt, ist der Dreißigjährige Krieg noch lange nicht an sein Ende gekommen. Mit Callot stirbt aber sein wirkungsmächtigster Kritiker, dessen Kunst die Jahrhunderte überdauern wird. Anders als die Willkür der Befehlshaber oder die Launen der Herrscher der damaligen Zeit rührt Jacques Callot mit seinen Stichen unser Inneres an, ein ewig Menschliches, in dem wir uns auch heute erkennen. Von bleibender Dauer sind vor allem seine beiden Radierzyklen Die kleinen Schrecken des Krieges und Die großen Schrecken des Krieges; sie sind das bleibende Vermächtnis von Jacques Callot.

Die Grausamkeit bei Callot ist keine Besonderheit, sie begegnet uns damals wie heute auf Schritt und Tritt. Im Terror eines Napoleon wie in den Gräueln eines Hitler oder Stalin, sie begegnet uns in den wirren Taten des IS oder den abstrusen Rechtfertigungen der Al-Qaida. Die Geschichte des Terrors ist alt, ebenso die Geschichte seiner Widerlegung. Jacques Callot ist kein Held; seine Kupferstiche haben aber eine universelle Gültigkeit. Sein Erbe ist eine Aufgabe für uns, die wir geschichtsvergessen sind. Sein Erbe ist vielleicht ein Weg in eine andere Zukunft.

II

Callot reiste durch ein verödetes Land. Er kam an verlassenen Höfen vorbei, an Wiesen mit nur niedrigem Korn. Auf den Straßen begegnete er Gespenstern, dürren Gestalten, die versuchten, sich in ihre alten Lumpen zu vergraben, um den kalten Wind abzuhalten. In den Städten lungerten die Gestrandeten in den Gassen, die Invaliden, die niemandem mehr von Nutzen waren, dazwischen barfüßige Kinder, verschmutzt und verwahrlost, um die sich niemand zu kümmern vermochte. Callot kannte das sein Leben lang und hatte den traurigen Erscheinungen meist mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid zugesehen, mit einer gewissen Faszination vor den Abgründen der menschlichen Existenz, mit einer gewissen Lust an einer Ästhetik des Hässlichen, die diesen Schemen und Krüppeln, die in das Elend der Städte fluteten, eigen war. Wenn Callot Zeit fand, warf er mit schnellem Strich Skizzen dieses ganzen Leids aufs Papier. Die Festung Breda, die Callots eigentliches Ziel war, lag nun nicht mehr weit entfernt. In den nächsten Tagen würde er sie erreichen. Er nahm sich vor, in seinem Kupferstich auch das ganze Elend der jahrelangen Kämpfe abzubilden, versteckt am Rand vielleicht, wie zufällig hingeworfen in das Porträt der großen Weltgeschichte, der siegreichen Belagerung einer alten, stolzen Festung.

Der Wind fuhr Callot in die Knochen und es kam ihm vor, als würde es gegenwärtig nicht mehr wärmer werden hier im Norden. Es war, als hätte sich die Sonne abgewandt von Europa und seinem Treiben. Wie anders war damals das Licht gewesen, als er als halbes Kind nach Italien gekommen war, diese Farben, diese Helligkeit und diese schmeichelnde Wärme; diese Lust am Fest und am Leben, die er in Florenz, in Rom spüren konnte. Das Licht vor allem, dieses klare, helle Licht wie aus einer vergangenen Zeit; wie sehr sehnte sich Callot nach diesem Licht zurück, seit er nach Nancy zurückgekehrt war. Dagegen war das Leben hier im Norden wie ein endloser Winter, trüb und kalt wie Jahre ohne Sommer.

image

Das Jahr ohne Sommer konnte Callot schon früh ahnen, auch wenn er es nicht so genannt hätte. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts begann in Europa eine kleine Eiszeit, welche die Temperaturen im Jahresmittel um ein, zwei Grad kälter machte. Das reichte später – als die Armeen der verfeindeten Nationen und ihr Tross durch die deutschen Länder zogen – aus, um die Bevölkerung der Landstriche endgültig ins Elend zu stürzen. Als ob es nicht genügt hätte, dass die halben Dörfer entvölkert waren, weil vor allem die jungen Männer zum Kriegsdienst gepresst worden waren; hinzu kam ein menschenfeindliches Klima, das die Felder verdorren, die Dörfer veröden ließ.

Deutschland war kein homogener Staat, der auf ein gemeinschaftliches Ziel hin wirken konnte; die vielen verschiedenen Grafschaften und Herzogtümer kümmerten sich selbstreferenziell um ihr eigenes Fortkommen und wurden in den ersten Jahren des beginnenden Krieges zwischen den Fronten aufgerieben. Dabei genossen gerade die Handwerker und die anderen Stände bis dorthin in den kleinen, deutschen Staaten oft mehr Freiheiten als ihre Brüder in den Nationalstaaten wie Frankreich oder England, die mehr dem Willen des Souveräns unterworfen waren. Im Elend schließlich waren dann alle gleich. Der Dreißigjährige Krieg fand nun einmal in erster Linie auf dem Gebiet der deutschen Lande statt, dementsprechend waren die Folgen. In den Ländern des Habsburgerreiches und weiter waren die Verheerungen in diesen dreißig Jahren weitaus geringer als etwa der Pfalz, Hessen oder Bayern.

Das Jahr ohne Sommer, das im Krieg von den meisten Untertanen im Herzen getragen wurde, fand historisch allerdings erst später statt. Das Jahr ohne Sommer markierte einen Höhepunkt der kleinen Eiszeit im Jahr 1816, als tatsächlich das Klima den größten Schaden anrichtete. Es gab Landstriche in der Ostschweiz, in der selbst im Hochsommer jeden Monat Schnee fiel; es wäre dennoch für die Zeit Callots passend gewesen. Der Name, Jahr ohne Sommer.

Es gab Ernteausfälle, die nicht nur darauf zurückzuführen waren, dass Bauern als Milizionäre zum Militärdienst gezwungen wurden und daher ihre Felder brachlagen. Knapp hundert Jahre später wird Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag den enormen Einfluss des Klimas auf die Entwicklung einer Zivilisation argumentieren. Bei Rousseau endet es mit der schnippischen Essenz, dass eben jedes Volk jene Staatsform bekommt, die es verdient, und ebenso jedes Land dasjenige Volk, das ihm geziemt. Das Gleiche gilt für die Zeit des beginnenden 17. Jahrhunderts, als der junge Jacques Callot seine ersten Schritte in die Welt hinaus macht.

Neben unbebauten Feldern gibt es Flüsse, die ständig über die Ufer treten, Schneefälle, Hagelschauer und immer niedrigere Temperaturen. Das Elend treibt die Menschen in die Städte, wo in der Folge vermehrt Seuchen ausbrechen. Der enge Raum, die vielen Menschen. Es sind nicht nur Geschlechtskrankheiten, welche die Menschen hinraffen. Der Tod ist banal in jener Zeit.

étiquetteLa Carrière