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Nr. 3080

 

Sternfinder

 

In den Tiefen der Milchstraße – auf einem Planeten voller Rätsel

 

Christian Montillon / Susan Schwartz

 

 

 

PERRY RHODAN KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Gatas

2. Das Tal der Riesen

3. Lebensecht

4. Mehr als ein Tal

5. Gesang der Toten

6. Schatten und Licht

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner, die ihre Erde und das Sonnensystem hinter sich gelassen haben. In der Unendlichkeit des Alls treffen sie auf Außerirdische aller Art. Ihre Nachkommen haben Tausende Welten besiedelt, zahlreiche Raumschiffe fliegen bis zu den entlegensten Sternen.

Perry Rhodan ist der Mensch, der von Anfang an mit den Erdbewohnern ins All vorgestoßen ist. Nun steht er vor seiner vielleicht größten Herausforderung: Er wurde vorwärts durch die Zeit katapultiert und findet sich in einem Umfeld, das nicht nur Terra vergessen zu haben scheint, sondern in dem eine sogenannte Datensintflut fast alle historischen Dokumente entwertet hat.

Nachdem er in der fernen Galaxis Ancaisin einen Weg fand, die sogenannte Zerozone zu betreten, konnte er diese durchreisen und erreichte ein Zwillingsuniversum, das mit seinem heimischen das sogenannte Dyoversum bildet. In jener Hälfte des Dyoversums findet er tatsächlich Terra wieder – und viele Sonnen und Planeten, die er kennt. Aber nur wenige haben Zivilisationen hervorgebracht, unter anderem die Topsider.

Perry Rhodan gelingt es, ein Bündnis zwischen Menschen und Topsidern zu schmieden. Eine erste Bewährungsprobe durchläuft diese Orion-Allianz mit der Tastung – einem rätselhaften, aber nicht eindeutig feindseligen Vorgang, der sich in einem Rhythmus von über eineinhalb Jahrhunderten wiederholt. Wer ist dafür verantwortlich? Die Suche nach Antworten führt auf den Planeten STERNFINDER ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner erreicht eine gestorbene Welt.

Obyn – Die ehemalige Jinirali erfährt von toten Jülziish.

Eylczenc-Trü-Klybz – Der Kommandant erlebt zu viele Tode.

Asis-Asyv-Griist – Der Mediker muss sterben.

Wege entstehen dadurch,

dass man sie geht.

Anonyme Sammlung

altterranischer Weisheiten,

Kapitel 92: »Franz Kafka«

 

 

1.

Gatas

 

»Gatas? Was soll das heißen, Gatas?«, wiederholte Perry Rhodan, dessen viel zu langen Namen Obyn für sich stets als Perry abkürzte. Es war eine seltsame Sitte, zwei Namen zu tragen oder sie gar zu benutzen. Machten zwei Namen mehr aus demjenigen, der sie trug? Das Ydu war es doch, das zählte.

Aber gut, er war immerhin vollkommen anders als sie: ein zerbrechliches Knochengestell, das sich durch diesen Namen womöglich weitere Stützen nach außen verschaffte. Als wäre er nicht durch diese winzigen Augen mit dem Farbrund, das in viel Weiß schwamm, genügend im evolutionären Hintertreffen! Die hervorstehende Nase bildete zudem ein leichtes Angriffsziel.

Obyn wollte eigentlich gar nicht zuhören, weil sie ohnehin nicht begriff, wovon ihre Begleiter redeten. Aber sie waren zu laut und hatten ihre Translatoren nicht abgestellt. Die Yenranko verstand also durchaus die Worte – nur den Sinn nicht.

»Ich irre mich nicht! Das ist die blaue Riesensonne Verth, die Daten sind eindeutig«, sagte Rico – wenigstens der trug nur einen Namen.

Obyn wurde nicht schlau aus ihm. Von der Statur ähnelte er Perry, also musste er ein Mann sein. Aber für sie war er geschlechtslos. War er überhaupt ein Mensch? Sein Gesicht, die Figur, die fünf Finger – das passte alles. Aber er war völlig haarlos und seine Haut bronzen, mit einem ... ja, metallischen Glanz. Gehörte er etwa einem weiteren fremden Volk an, das nur zufällig dem Perrys ähnelte? Wie viele gab es denn im Universum?

»Wenn ich mich recht erinnere, liegen Gatas und das Verthsystem auf unserer Seite über 68.000 Lichtjahre vom Solsystem entfernt in der Eastside«, fuhr Perry fort. »Unter den Bedingungen der erhöhten Hyperimpedanz auf dieser Seite des Dyoversums ist das eine für unsere Technik derzeit unmöglich zu bewältigende Entfernung!«

Bei den letzten Worten ab »unmöglich« allerdings sah Obyn völlig klar. Es jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein. »Wir können nicht mehr zurück?«

»Doch«, antwortete Rico. »Nur nicht auf herkömmliche Weise.«

»Wie meinst du das? Wie sind wir denn hergekommen? War das nicht so eine Teleportier-Sache von Mulholland?«

»Es wäre jedenfalls eine Option«, sagte der Angesprochene. »Nur, ich war es nicht.«

Obyn dämmerte es. »Die Stele. Ich erinnere mich.« Sie kratzte sich den Arm und ließ irritiert davon ab. Richtig. Sie trug mittlerweile ebenfalls so einen Anzug. Er passte einigermaßen, aber sie fühlte sich sehr unwohl, derart eingehüllt zu sein.

Als Wüstenbewohnerin war sie es zwar gewohnt, vollkommen bedeckt zu sein, doch das waren alles natürliche, gewebte Stoffe, die atmeten, die man fester binden oder lockern konnte. Der Anzug mit dem geschlossenen Helm hielt hingegen alles ab, das von außen kam und sorgte für einen Ausgleich der Umgebungsbedingungen in seinem Inneren, sodass sie sich beinahe »wie zu Hause« fühlen konnte. Dafür war die alte Jinirali dankbar, sonst hätte ihre Reise bereits ein abruptes Ende genommen.

Sie sah, dass Perry und Mulholland genau wie sie geschlossene Helme hatten. Rico hatte keinen Anzug mehr, seinen trug nun Obyn. »Und wieso brauchst du keinen Anzug?«

»Ich bin ein künstliches Wesen.«

»Oh.« Wer Fragen stellte, wurde auf noch mehr Fragen gebracht. Künstlich bedeutete wohl, er war so etwas wie eine Maschine, die nicht atmen musste. Für den Moment beließ sie es dabei.

»Aber die Stele ist mit uns gereist«, stellte Obyn fest. »Warum benutzen wir sie nicht einfach für den Rückweg?«, fragte sie ratlos.

»Weil es erstens eine andere Stele ist und es zweitens nicht funktionieren wird, solange wir nicht wissen, wie wir sie bedienen müssen«, antwortete Perry. Er legte die Hand an das glasartige blaue Material, das eine verschwommene Durchsicht bot. »Außerdem könnte diese Stele lediglich ein Empfänger sein, der nicht senden kann.«

»Aus technologischer Sicht scheint das wenig sinnvoll. Aber vielleicht können wir lernen, sie und ihre Funktionsweise zu verstehen«, meinte Rico.

»Sie sieht genauso aus ...« Obyn legte nun auch die Hand an das Artefakt und zuckte kurz zusammen, als der Handschuh das Tastgefühl übermittelte. Die Stele war kühl, wie sie es in Erinnerung hatte. Aber wenn sie hindurchblickte, sah sie keine Stadt, von der aus ein Wesen, das aus wirbelndem Sand zusammengesetzt schien, auf sie zukam.

»Kein Handbuch. Oder Empfänger, nicht Sender. Ich verstehe das Problem.« Sie sah sich um.

Trostlosigkeit umgab sie, wie sie sie nie zuvor erlebt hatte, nicht einmal in der Steinwüste der Yacol. Ein flaches, graues, von gelegentlichen weißen Flecken durchsetztes Land reichte fast bis zum Horizont. Erst dort stieg es an und türmte sich zu einem mächtigen, schroffen schwarzen Gebirge auf.

»Wir sind nicht dort herausgekommen, wo der Staubfürst sich aufhält, den du und ich gesehen haben, Perry. Ist es möglich, dass die Stele sich geirrt und uns falsch gesendet hat?«

»Das müssen wir herausfinden.«

In der Ferne hörte Obyn ein Geräusch, das ihr nicht gefiel. »Was hat dieses Rauschen zu bedeuten?«

»Das muss ein Meer sein«, gab Rico Auskunft.

Meer? Das Wort hatte einen unangenehmen Klang.

»Ihr wisst aber, wo wir sind. Sicherlich müssen wir nur jemanden suchen, den ihr kennt, und ihn um Hilfe bitten«, stellte sie fest.

Perry druckste herum. »So einfach ist das leider nicht. Rico ist überzeugt, diese Sonne zu kennen ...«

»Es ist Verth, daran besteht kein Zweifel!«

»... und auch ich habe den Eindruck – reines Gefühl –, schon einmal hier gewesen zu sein. Aber Gatas, sollte es dieser Planet sein, ist bei uns ganz anders. Viel wärmer, wir könnten ohne Helm frei atmen, und er ist grün, von viel Wasser durchzogen. Es gibt Leben auf ihm. Dieser Planet aber ist ohne Leben. Das sagt auch meine Anzugpositronik.«

»Da ist so ein Maschinending drin?« Obyn staunte und musste es gleich ausprobieren. »Anzug, kannst du mich hören?«

»Ich verstehe dich«, antwortete etwas in ihrem Helm, und dann erblickte sie irgendwelche seltsamen Kritzeleien auf der Innenseite.

»Hör auf damit! Ich sehe ja gar nichts mehr.« Die Erscheinungen verschwanden.

»Anzug, gibt es hier Leben?«

»Soll ich die Ortung aktivieren?«

»Wenn das notwendig ist, um meine Frage zu beantworten – ja, bitte.«

Sie hatte gar keine Zeit, einen weiteren Gedanken zu fassen, da kam schon die Antwort. »Ich kann keine Bioorganismen feststellen.«

Obyn starrte ihre Begleiter an, die geduldig gewartet hatten. »Ich glaube, ich verstehe, was ihr meint. Aber eine Frage habe ich trotzdem noch an dich, Perry. Du sagtest ›bei uns‹. Was ist damit gemeint?«

»Das ist komplizierter«, antwortete er. »Kurz gesagt, es gibt zwei Zweige des Universums. Deswegen bezeichnen wir es als Dyoversum, was ich zuvor ebenfalls erwähnt habe. Es gibt den Zweig, in dem du lebst, und den Zweig, von dem ich komme.«

Obyn dachte darüber nach.

»Deine Körpertemperatur erhöht sich«, stellte das Anzugsystem fest. »Ich reguliere ein wenig die Heizung.«

»Du tust ... was? Nein! Lass alles, wie es ist, am Ende falle ich noch in Starre!«

Obyn war fasziniert von diesem Anzug, der so viel konnte. Wie winzig mussten die Maschinen sein, die all das ermöglichten? Immerhin gehorchte er, es blieb warm, und sie konnte besser nachdenken. »Aber normalerweise gleicht doch kein Zweig dem anderen«, wandte sie ein. »Und doch gibt es viele Übereinstimmungen?«

»Es ist gleich und doch nicht gleich. Wir arbeiten daran herauszufinden, was das genau zu bedeuten hat.«

Sie war froh, dass nicht nur sie unwissend war oder zu wenig verstand. Was mit dem Stamm war, von dem diese Zweige abgingen, wollte sie gar nicht erst nachfragen. »Hat dich auch eine Stele hergebracht?«

»Ähm ... also, das war gewissermaßen ich«, sagte Mulholland.

Obyn hob die Hand, nun wurden es zu viele Fragen. »In Ordnung. Das genügt fürs Erste. Konzentrieren wir uns auf unser aktuelles Problem.«

Perry streckte plötzlich den Arm aus. »Seht ihr auch da vorne einen Mond aufgehen?«

Er hatte recht. Das war nicht zu übersehen. Ein Gigant, der sich gerade über den Kamm des schwarzen Gebirges schob – und es ganz klein und bedeutungslos werden ließ.

»Gatas hat keinen Mond!«, fuhr Perry fort. »Du musst dich irren, Rico!«

»Ich kann mich nicht irren«, beharrte der Bronzemensch. »Aber ich bin überrascht. Dieser Trabant durchmisst satte 6545 Kilometer.«

»Das ist ja ein Planet«, murmelte Iwán/Iwa. »Fast wie der Mars.«

»Und ich fürchte, das bringt uns gleich in große Schwierigkeiten«, ergänzte Rico.

Ein Donnern, das sich rasch zum Brüllen steigerte, raste heran.

 

*

 

Obyn warf sich zu Boden und grub wie besessen. Der Anzug stieß mehrere Warnungen aus, insbesondere, weil es kein Sand, sondern Steine waren und sie nicht durchkommen konnte. Doch es geschah reflexartig, instinktiv. Sie kannte dieses Geräusch, auch wenn es diesmal kein Sand war. Sondern schlimmer.

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Illustration: Swen Papenbrock

Viel, viel schlimmer.

»Obyn!« Perry versuchte sie hochzuzerren. In diesem Moment schrie sie los, denn sie sah es kommen: Wasser.

Eine gigantische Flutwelle, die bis in den Himmel reichte, rollte ohrenbetäubend brausend heran. Zweimal in ihrem Leben hatte Obyn einen Sandsturm vergleichbaren Ausmaßes erlebt, der vom Himmel nur einen schmalen Streifen übrig gelassen hatte. Zweimal war sie nur äußerst knapp mit dem Leben davongekommen, weil sie es geschafft hatte, tief genug zu graben und bei der Befreiungsaktion nicht zu ersticken.

Doch diese Situation auf Gatas war der schlimmste aller vorstellbaren Albträume – nicht anders, als wenn die Sonne für immer erlöschen würde und ewige Nacht auf Yenren herrschte, was die Verurteilung der Yenranko zur ewigen Starre bedeutete.

Obyn hatte ihr ganzes Leben kaum Angst gekannt, und sie war mit zunehmendem Alter eher furchtloser geworden.

Aber dieses Ereignis überforderte sie. Sie wusste nicht, wie sie dem nassen Tod entgehen sollte, und Wasser in dieser Menge kannte sie ohnehin nicht. Was unter dem Sand in den Kavernen war, ruhte still und tief, ausschließlich Lebensspender, keine tödliche Macht. Aber dieser Wassersturm ... Das war das pure Grauen.

Obyn schüttelte Perrys Hand ab und kroch davon, so schnell sie konnte.

Es vergingen höchstens drei Sekunden, bis die Welle über sie hereinbrach und sie davonriss. Auch Perry, der ihr nachgesprungen war, um sie festzuhalten, wurde fortgeschleudert, eingesaugt von den tobenden Fluten.

Obyn wurde herumgewirbelt, es gab kein Halten, kein Oben oder Unten, ihr wurde schwindlig und übel, und sie schrie. Der Anzug fiel in den Schrei mit ein und untermalte ihn mit flammendem, warnendem Rot, an der Innenseite des Helms erschienen wiederum wirre Symbole.

Das ist das Ende, dachte Obyn und stellte fest, dass sie ganz und gar nicht dazu bereit war. Sie strampelte, doch das mörderische Wasser hatte sie voll in der Gewalt. Die alte Jinirali merkte, dass sie bald das Bewusstsein verlieren würde.

Und das wäre dann unweigerlich das Ende.

 

*

 

Plötzlich fühlte Obyn einen Ruck, und dann ... wurde sie gezogen. Ein weiterer Wirbel? Nein, das war ein Sog in eine ganz bestimmte Richtung.

Wenn sie nur wüsste, in welche! Keinesfalls war dies ein Werk der Flutwelle, dazu geschah alles viel zu gezielt. Vielleicht die Stele, die sie zu sich holen wollte? Die einzige Verbindung zur Heimat?

Dann hob sie sich aus dem aufgewühlten Wasser empor – und schwebte weiter!

»Es tut mir leid, ich musste dich erst suchen, du warst aus meinem Kontrollbereich geraten.«

»Perry? Bist du das gewesen?«

Sie spürte eine Hand an ihrem Arm. Jemand drehte sie, und sie starrte dem Menschen in die graublauen und tiefen, zugleich alterslosen und doch alten Augen.

»Was ...«

»Nachdem Rico dir bei der Versetzung den Anzug übergezogen hatte, habe ich ihn mit meinem gekoppelt, weil du die Bedienung nicht kanntest.« Perry lächelte. »Ich wollte die Verbindung halten, aber diese Springflut hat mich völlig überrumpelt. Sie hat uns alle auseinandergerissen.«

»Ich ...« Obyn tastete mit einem Arm über ihren Anzug. »Mir hätte gar nichts passieren können?«

»So ist es. Der SERUN beschützt dich nicht nur im All, er beschützt dich auch vor dem Ertrinken, dem Erfrieren, dem Verbrennen, vor Verletzungen ... und vielem mehr.«

»Und ...« Sie blickte nach unten. »Und fliegen kann er auch.«

Sie schrie noch einmal. Aber nun vor Begeisterung.

 

*

 

»Leiser!«, sagte Perry und legte eine Hand an den Helm. »Wenn du nicht gar so laut bist, muss mein SERUN nicht dauernd gegenregeln.«

»Ich werde mir Mühe geben«, erwiderte Obyn und schlug einen höheren Tonfall an. Sie wusste mittlerweile, dass alle, die Topsider eingeschlossen, empfindsam auf die Stimmlage der Yenranko reagierten – so wie diese umgekehrt auf das für sie hohe Kreischen der Raumfahrer. »Ich habe mich wieder gefangen und passe auf.« Diese Knochenwesen waren wirklich zerbrechlich.

Allmählich beruhigten sich die Wellen, die schaumgekrönten Berge verliefen zu sanften Hügelchen und umspülten friedlich die Stele, von der nur noch ein Teil aus den Fluten ragte. Das Artefakt war unbeeindruckt geblieben, als hätte es dieser Naturgewalt schon sehr oft standhalten müssen.

Mulholland schwebte heran, von der anderen Seite kam Rico.

»Was kannst du eigentlich nicht, so ohne Anzug?«, fragte Obyn den Bronzemann.

»Wenig«, antwortete er und zeigte ein Lächeln. »Falls es euch interessiert – das war eine Auswirkung der Gezeiten, in diesem Fall eine Springflut von zweiunddreißig Metern Höhe, die einen Anstieg des Meeresspiegels um nicht weniger als zweiundzwanzig Meter verursacht hat. Deswegen dehnt es sich jetzt hier aus. Ausgelöst von dem Gigantmond da oben – was nicht verwundern sollte, so nahe, wie er sich an diesem Planeten befindet.«

Obyn sah nur noch Wasser, so weit das Auge reichte. »Unglaublich«, murmelte sie. Und fügte voller Überzeugung hinzu: »Ich hasse es.«

Wasser war bedeutungsvoll in der Wüste, kostbar und selten. Das, was sie da unter sich sah, war abartig, scheußlich, und sie wollte es nie wieder erleben. Das war nicht ihre Welt und sollte es auch nie werden. Für einen kurzen Moment verspürte sie Heimweh.

Nun gut, offensichtlich war dies aber auch nicht die Heimat von irgendjemand anderem. Auch in den Fluten gab es kein Leben. Dieses »Gatas« war absolut tot.

»Wir sollten einen geschützteren Ort aufsuchen«, schlug Perry vor und deutete auf das schwarze Gebirge. »Bis sich die Lage beruhigt hat, die Ebbe eingetreten ist oder wir herausgefunden haben, warum die Stele uns hierher gebracht hat.«

»Wir fliegen dorthin? Mit unseren Anzügen?« Obyn konnte ihre Begeisterung kaum im Zaum halten. Vergessen war die Panik unter Wasser. Sie war trocken, ihr war warm, und sie flog!

»Das ist empfehlenswert mangels Boot, angesichts der Wassertiefe da unten und der Entfernung von mindestens zwanzig Kilometern zum Gebirge«, sagte Rico.

»Worauf warten wir?« Obyn konnte es nicht mehr erwarten. Sie flog!

»Gib mir deine Hand«, sagte Rhodan und streckte ihr den Arm hin. »Und unterwegs erkläre ich dir, wie der SERUN funktioniert.«

 

 

CHYLLITRISS – Phase 1

Leerraum

 

Schreie überall, sirrend und lang gezogen.

Der Lärm der Explosionen schmerzte Eylczenc-Trü-Klybz so sehr, dass er den Kopf nach hinten warf, den Hals rund um den Mund überdehnte und selbst einen gequälten Laut ausstieß. Es war schrecklich – auch die Frage, ob die lange Reise in diesem Augenblick vielleicht ein radikales, unwiderrufliches Ende fand.

Eine entsetzliche Vorstellung.

Aber in dem ganzen Chaos und dem tosenden Lärm blieb einer still ... und gerade von diesem hätte Eylczenc-Trü-Klybz sich Antworten erhofft. Oder zumindest Informationen. »Sternfinder 47!«, rief er, doch das positronische Gehirn der CHYLLITRISS zeigte keine Reaktion. »Sternfinder 47, gib einen Statusbericht des Schiffes!«

Die Bordpositronik meldete sich nicht.

Fast hätte der Kommandant ein drittes Mal gerufen, aber er riss sich zusammen. Er durfte den Mitgliedern seiner Zentralebesatzung kein Bild der Schwäche vermitteln. Besonders während dieser Katastrophe mussten sie seine Stärke sehen und erkennen, dass er die Kontrolle ausübte.

Oder zumindest so tat. Tatsächlich war ihm die Kontrolle längst entrissen worden. Er wusste nur nicht, wie es dazu gekommen war.

Es gab keine neuen Sensorauswertungen. Die Besatzung konnte nicht nach draußen ins All schauen – die CHYLLITRISS trieb irgendwo.

Die Bildschirme der Außenbeobachtung blieben tot und blind. Sowohl die passive Ortung als auch die aktive Tastung waren ausgefallen.

Die Mannschaft blieb blind.

Er blieb blind, und das, obwohl er die Verantwortung für all die Leben an Bord trug, die Geborenen und Ungeborenen.

Wale-Kry-Lölözyn war aus ihrem Sitz geschleudert worden. Sie lag zwei Schritte von ihrer Pilotenkonsole entfernt am Boden. Warum war nicht längst ein Medoroboter gekommen, um ihr zu helfen?

Kommandant Klybz unterdrückte mit Mühe einen jämmerlichen, hochfrequenten Schrei. Zweifellos musste ihm ein Mitglied seiner Zentralebesatzung so wichtig sein wie das andere ... aber dieses war Wale-Kry-Lölözyn! Seine Lebensgefährtin! Die Verwalterin seines Erbguts!

Er verließ seinen Kommandantenplatz. »Sternfinder 47, schick einen Medoroboter!«, rief er, ohne Hoffnung, dass sich dieser Wunsch erfüllen könnte, und ohne mit einer Antwort zu rechnen.

Umso mehr überraschte es ihn, etwas zu hören, als er neben Wale in die Knie ging.

»Hilfe unterwegs«, schnarrte die Stimme des Bordgehirns – nicht in einem kompletten Satz und schriller als sonst. Aber überhaupt ein Lebenszeichen zu bekommen, erleichterte den Kommandanten.

Wale-Kry-Lölözyns langer Hals war nach hinten überdehnt, die Haut von viel dunklerem Lila als sonst. Der zartblaue Pelzflaum war an einer Stelle mit Blut getränkt. Erschrocken fasste er vorsichtig ihren Kopf, rollte ihn leicht zur Seite. Die Wunde war winzig. Nur wenig Blut war ausgetreten, es gab nirgends die befürchtete dunkelrote Nässe auf dem Boden.

»Lass mich zu ihr«, hörte er eine Stimme.

Er drehte sich um.

Asis-Asyv-Griist, der Chefmediker des Schiffes, beugte sich bereits über seine Patientin.

Der alte Mann war Eylczenc-Trü-Klybz noch nie geheuer gewesen, mit seinen beiden blinden Hinteraugen. Aber er war ein guter Mediker, ohne jeden Zweifel, der Perlgrauen Kreatur der Barmherzigkeit sei Dank!

»Geh schon, geh, Kommandant, ich kümmere mich um sie, als wäre sie meine eigene Leibesfrucht«, sagte der Mediker.

Gut, dass sie das nicht ist, dachte Klybz. In ein verwandtschaftliches Verhältnis mit dem alten Mann wollte er nun wirklich nicht eintreten. »Ich verlasse mich auf dich.«

Während er zurück zu seinem Kommandantenstuhl ging, eilte jemand auf ihn zu. Kruma-Jüryzz-Pattray war der Chefingenieur, für einen Gataser ein erstaunlich kleiner Mann. Sein Hals war verkümmert, er konnte den Tellerkopf nur wenig zu beiden Seiten drehen. Der Mund war als Folge des verkürzten Halses nur unzureichend ausgebildet – zu sprechen fiel ihm schwer, und jedes seiner Worte wurde durch ein Lautsprechersystem aufgenommen und verstärkt. Doch er war ein genialer Ingenieur und Techniker, ohne Zweifel.

»Ich verstehe nicht, warum so viele Systeme an Bord ausgefallen sind, Kommandant«, sagte Pattray, »aber es ist mir gelungen, mit einem kleinen Trick eine Messstation an der Außenseite von Hangarschott 89 anzufunken und auszulesen.« Für seine kleinen Tricks war der Chefingenieur bekannt. Er hatte in jeder denkbaren Lebenslage mindestens einen davon in petto – glaubte man den Bordgerüchten, sogar in den Fällen, wenn er wieder einmal eine Frau zur Fortpflanzung überredete.

»Und?«, fragte Eylczenc-Trü-Klybz. »Was hast du herausgefunden?«

»Wir sind in das Schwerefeld einer riesenhaften roten Sonne geraten«, antwortete Kruma-Jüryzz-Pattray. »Es kann nur Rotfenster-Niy sein.«

»Was?« Der Kommandant wollte nicht glauben, was er da hörte. »Rotfenster-Niy? Das ist unmöglich! Es ist ... wie weit ... ein halbes Lichtjahr von unserem Kurs nach Dryviert entfernt?«

»Sogar mehr als ein halbes Lichtjahr«, sagte der Chefingenieur mit ruhiger Stimme – falls Klybz das richtig interpretierte, denn das Lautsprechersystem verzerrte die emotionale Einfärbung und erschwerte es generell, eine Einschätzung vorzunehmen. »Exakt 0,658 Lichtjahre.«

»Wie können wir so weit vom Kurs abgekommen sein?«

»Ich habe keine Erklärung. Wir müssen Wale-Kry-Lölözyn fragen.«