Cover

Das Buch

Als die russische Psychiaterin Olga Kharitidi eines Tages in einem alten Holzhaus vor den Toren von Nowosibirsk den geheimnisvollen usbekischen Heiler Michael kennen lernt, ahnt sie noch nicht, dass diese Begegnung ihr Leben und ihre Heilmethoden für Traumata und Verletzungen der Seele dramatisch verändern wird. Sie folgt seiner Einladung ins exotische Samarkand und erkundet mit seiner Hilfe die dortigen jahrtausendealten mystischen Geheimnisse über den Umgang mit tiefen emotionalen Wunden. In Michael findet sie einen geistigen Führer in eine andere, faszinierende Welt und lernt durch ihn, wie es möglich ist, tiefe Traumata zu überwinden. Samarkand führt uns nicht nur in das Herz einer sagenumwobenen asiatischen Landschaft, sondern ist mit seinem faszinierend neuen Ansatz zur inneren Heilung zugleich ein bedeutender Beitrag zur experimentellen Psychologie.

Die Autorin

Olga Kharitidi wurde in Sibirien geboren, studierte in Nowosibirsk Medizin und arbeitete dort als Psychiaterin. Auf ausgedehnten Studienreisen erforschte sie die alten Heilungsmethoden Sibiriens und Zentralasiens und konnte so eine neue Methode zur Heilung psychischer Traumata entwickeln. Heute ist sie praktizierende Psychiaterin in den USA, hält weltweit Workshops und Vorträge zum Thema »Trauma-Umwandlung« und lebt in Minneapolis. Ihr Buch Das weiße Land der Seele wurde ein Bestseller.

Olga Kharitidi

Samarkand

Eine Reise in die Tiefen der Seele

Aus dem Englischen von Charlotte Breuer
und Norbert Möllemann

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-0790-9

Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch
List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
I. Auflage April 2005
II. Auflage 2015

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E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Prolog

Ich hatte keine Erwartungen. Ich saß einfach da und schaute ins Feuer, bis ich kaum noch etwas anderes wahrnahm. Nur Sulemas Gesicht tauchte hinter den Flammen ab und zu auf. Ich hörte sie sagen: »Hier erzählt man sich gern Geschichten. Können Sie mir eine erzählen? Erzählen Sie mir die rätselhafteste Geschichte, die Sie kennen.« Sulema hatte diese Bitte sicher nur ausgesprochen, weil sie wollte, dass ich mich wohl fühlte, und dafür war ich ihr dankbar.

»Jetzt?«

»Ja, warum nicht.«

Einen Augenblick lang sann ich über ihren Vorschlag nach, dann fiel mir plötzlich die Geschichte von Hamlet ein, eine Geschichte, die mir seit meiner Schulzeit zu denken gegeben hatte.

»Also gut, ich kenne eine solche Geschichte. Sie beschäftigt mich schon seit Jahren, weil es mir nie gelungen ist, einen endgültigen, erschöpfenden und unzweideutigen Sinn darin zu finden. Diese Geschichte hat sich vor langer Zeit abgespielt.

Es war einmal ein Prinz, der in einem weit entlegenen Land lebte. Der Vater des Prinzen war erst vor wenigen Monaten gestorben. Seine Mutter hatte wenig später seinen Onkel geheiratet, der Onkel wurde König, und der Prinz lebte in dessen Königreich. Er war kein ausgesprochen trauriger Prinz, und er fühlte sich auch nicht besonders einsam. Auf jeden Fall war er nicht verrückt. Doch dann änderte sich eines Tages alles, und auch der Prinz begann, sich zu verändern.

An jenem Tag, genauer gesagt, in jener Nacht, begegnete er dem Geist seines verstorbenen Vaters, der ihm erzählte, wie der derzeitige König, sein eigener Bruder, ihn vergiftet hatte, um das Königreich und die Königin an sich zu reißen. Der Geist des Vaters verlangte Rache, und nachdem der Prinz diese Geschichte gehört hatte, gab es keinen Frieden mehr für ihn.

Er dachte sich einen schlauen Trick aus: Er lud fahrende Schauspieler ein, die dem König und der Königin ein von ihm selbst geschriebenes Theaterstück vorspielen sollten. Das Stück erzählte die Geschichte des Mordes an seinem Vater, und die Schauspieler führten es für die Mutter und den Onkel des Prinzen auf. An der Reaktion des Onkels erkannte Hamlet dessen wahre Schuld, und ihm blieb keine andere Wahl, als fortan verrückt zu spielen.«

»Er wurde getötet, stimmt’s? Der Prinz wird am Ende des Stückes getötet, nicht wahr?«, unterbrach mich Sulema, ohne das Ende abzuwarten.

»Ja, das stimmt. Kennen Sie die Geschichte?«

»Dieser Geist hat ihn getötet, der Geist seines Vaters.«

»Eigentlich nicht …«

»Oh doch. Der Prinz hat angefangen, nach den Spielregeln des Geistes zu handeln. Er hat sich dem Dämon des väterlichen Traumas überlassen, ihn in sich aufgenommen. Er hat es zugelassen, dass der Dämon seine eigenen Erinnerungen mit dem Schmerz seines ermordeten Vaters vergiftete und zu einem Teil des Prinzen wurde. Der Prinz begann, auf Befehl des Geistes zu handeln, und deshalb musste er getötet werden. Er ist ja nicht wirklich verrückt geworden. Er hat nur mit den Mächten des Traumas gekämpft. Ich nehme an, er hat verloren. Er hatte keine Frau, nicht wahr?«

»Nein. Aber er hatte eine Verlobte, die er zärtlich liebte. Als der Prinz immer liebloser und verrückter tat, hat sie sich das Leben genommen.«

»Oh! Gibt es noch mehr Tote in der Geschichte?«

»Ja. Der Vater der Braut und …«

»Oh! Das war ja wirklich ein unersättlicher Geist, dieser Geist des Vaters. Eine gute Geschichte. Der, der sie geschrieben hat, kannte sich in dem Kampf aus.«

Sulema fiel in Schweigen, und ihre zusammengekniffenen Augen schienen durch mich hindurch zu blicken. Über dem Feuer sah ich ihren freundlichen, lächelnden Mund, bis die Flammen wieder höher schlugen und ihr Gesicht verdeckten.

Ich spürte, wie sich meine körperlichen Empfindungen veränderten. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft in meine angespannten Muskeln eindringen und die alten, schmerzhaften Knoten lösen, die sich dort gebildet hatten. Gleichzeitig spürte ich, wie sich meine Erinnerung befreite. Sie verwandelte sich in die Substanz, aus der die Träume sind, und schon bald überfluteten Bilder meinen Kopf. Es waren Bilder im Überfluss, doch nicht im planlosen Chaos; die Bilder waren alle durch eine unsichtbare, tiefgründige Ordnung miteinander verbunden, und meine Wahrnehmung ließ sich von ihr leiten.

Das Feuer flackerte vor sich hin, es hatte eine vollkommen runde Form angenommen, als würde, wie durch ein Wunder, ein Abbild der Sonne vor mir erglühen. Eine Zeit lang starrte ich in sie hinein, bis sich alles rot färbte und die Sonnenscheibe schwarz wurde. Ich schloss die Augen und spürte, wie diese kleine Sonne vor mir pulsierte und sich auf mich zu bewegte. Ich versuchte, ruhig zu sein, ganz ruhig. Dann vernahm ich ein Geräusch, so, als öffnete sich ein Tor, und Michaels Stimme sagte:

»Fürchten Sie sich nicht und denken Sie daran, dass es der Vater ist, der straft, und die Mutter, die vergibt. Ich werde bei Ihnen sein, wenn Sie mich brauchen.«

Kapitel eins

Unvermittelt wachte ich auf. In dem schmalen Krankenhausbett registrierte mein Körper sofort den Wandel meines Bewusstseins, den Wechsel vom Schlaf- in den Wachzustand. Mein Kopf dagegen sträubte sich, den Traum so schnell loszulassen. Eine Weile lag ich verwirrt da, versuchte zu ergründen, ob das Signal, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte, der Schrei der Frau gewesen war, der immer noch in meinen Ohren nachhallte, oder etwas anderes.

Das Klingeln des Telefons hatte mich geweckt. Der Schrei der Frau, der letzte Überrest meines Traums, verflüchtigte sich schnell, ließ sich nicht mehr einfangen, obwohl ich es versuchte. Als ich ans Telefon ging, blieb von dem Traum nur ein ängstliches Gefühl in meinem Herzen zurück.

Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 2.30 Uhr. Ich wurde ins Haupthaus gerufen, um ein psychiatrisches Notgutachten zu erstellen. Das bedeutete, dass ich für den Rest meiner Nacht im Bereitschaftsdienst keinen Schlaf mehr finden würde.

Ich musste über das Krankenhausgelände laufen. Gleichgültige Sterne, die hoch oben am winterlichen Nachthimmel standen, beleuchteten den Weg. Das sibirische Staatskrankenhaus war eines der größten in Nowosibirsk, mit tausend Patienten, die dort Monate, manchmal sogar Jahre verbrachten. Es stand außerhalb der Stadt in der Nähe eines Waldes, weit weg von den Wohngebieten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren ziemlich gut: aus dem Krankenhaus zu fliehen war fast so schwierig, wie aus einem sowjetischen Gefängnis zu entkommen.

Dennoch umgab in den Augen der Menschen, die in der näheren Umgebung wohnten, eine Aura von Gefahr und Geheimnis das Krankenhaus. Hin und wieder tauchten ein paar Jungs auf dem Gelände auf, die sich zuerst gegenseitig Mut machten und sich dann nah genug an die Mauern des Gebäudes heranwagten, um einen Blick durch die vergitterten Fenster zu erhaschen. Nachts war das Krankenhausgelände menschenleer und von tiefer Dunkelheit umgeben. Ich wollte die Strecke zwischen meinem warmen Bereitschaftszimmer und der Notaufnahme so schnell wie möglich zurücklegen. Ich trug nur einen weißen Kittel, keinen Mantel, und versuchte, der nächtlichen Kälte zu entkommen, bevor sie mir in die Glieder kroch.

Ihre Schreie hörte ich, noch bevor ich die massive, eisbedeckte Hintertür zur Notaufnahme öffnete. Sie drangen in meine Ohren, als ich die Tür erreichte, und die ganze Kälte, die sich in der metallenen Klinke gesammelt hatte, brannte wie Feuer in meiner Hand.

»Lasst mich los, bitte! Lasst mich los!« Sie schrie so laut sie konnte. Als ich den warmen Korridor betrat, sah ich sie auf einer schmalen, harten Trage liegen. Ihr Körper war mit breiten schwarzen Lederriemen an der Trage festgebunden, und sie warf verzweifelt den Kopf hin und her. Die beiden neuen Krankenpfleger hatten offenbar wenig Erfahrung mit psychiatrischen Patienten. Bemüht, professionell und unbeteiligt zu wirken, schoben sie die Patientin hastig durch den leeren Krankenhauskorridor, um sie so schnell wie möglich in ein Untersuchungszimmer zu bringen.

Ich folgte den Pflegern und musste mich anstrengen, mit ihnen Schritt zu halten. Als sie um die letzte Ecke bogen und die Trage in den Untersuchungsraum schoben, war von meiner Übermüdung nichts mehr zu spüren.

»Danke. Sie können sie jetzt losbinden. Bitte warten Sie draußen auf mich.«

Die Pfleger sahen mich zweifelnd an. Mit einem entschlossenen Nicken gab ich ihnen zu verstehen, dass ich wusste, was ich tat. Trotz ihrer extremen Erregung wirkte die Patientin keineswegs psychotisch. Ich wusste, dass die Anwesenheit dieser beiden Männer mir nicht helfen, sondern mein Gespräch mit der Patientin eher stören würde. Eilig lösten sie die Riemen, die bereits schmerzende, gerötete Druckstellen an den schmalen Handgelenken der Frau hinterlassen hatten, und verließen auf meinen Wink hin den Raum.

»Ich bin Doktor Kharitidi. Ich bin Psychiaterin. Man hat mich gerufen, um Sie zu untersuchen.«

Die Frau, jetzt überraschend ruhig, versuchte, sich auf der Trage aufzurichten. Ich half ihr, sich auf die Kante der Trage zu setzen, und bedeckte ihre Beine mit einem weißen Laken; die am Rand aufgedruckte Ziffer 8 bezeichnete die Station. Die Frau war offensichtlich benommen. Ich überflog ihre Papiere: neununddreißig Jahre alt, ledig, Selbstmordversuch mit einer Überdosis Tabletten. Laut Bericht des Notarztes war sie nicht ansprechbar, als ihre Nachbarin sie ins Krankenhaus brachte. Der Notarzt hatte sie mit Medikamenten stabilisiert, und nun war es meine Aufgabe zu entscheiden, was als Nächstes mit ihr passieren sollte.

»Wie heißen Sie?«

Zum ersten Mal schaute die Frau mich an. Ihr schwarzes Haar war zerzaust. Langsam schob sie es aus ihrem schmalen Gesicht, fasste es, als wollte sie es im Nacken zusammenbinden, doch dann fielen ihre Hände kraftlos zurück auf die Knie. Zweifellos war sie von ihren vergeblichen Bemühungen, sich zu wehren, sehr erschöpft.

»Katherine«, flüsterte sie. Ihre Schreie schienen sie ihren letzten Rest von Energie gekostet zu haben.

»Ich muss Ihnen einige Fragen stellen, Katherine.«

Sie nickte kaum merklich.

Ich setzte mich vor sie auf einen Metallstuhl neben das Waschbecken, dem einzigen Möbelstück in dem kleinen, quadratischen Zimmer.

»Können Sie mir sagen, warum Sie versucht haben, sich etwas anzutun?«

»Es war ein Unfall«, antwortete sie mühsam und wandte sich schwer atmend ab.

Eine Weile schaute ich sie schweigend an. Ich konnte sehen, welcher Kampf sich in ihrem Innern abspielte – zwischen dem tiefen Bedürfnis, sich ihren Kummer von der Seele zu reden und der Angst vor der schrecklichen Schande, die sie ertragen müsste, wenn ihre Demütigung bekannt würde.

»Ich weiß, dass es kein Unfall war. Ich weiß, dass Sie heute Abend versucht haben, sich das Leben zu nehmen, und ich weiß auch, dass Sie es beinahe geschafft hätten. Wenn Ihre Nachbarin Sie nicht gefunden hätte, wären Sie gestorben. Es gibt keinen Grund, warum Sie sich jetzt fürchten müssten, darüber zu sprechen. Sie waren stark genug, die Angst vor dem Tod zu überwinden. Wovor könnten Sie sich noch fürchten?«

Sie hob den Kopf und schaute mich konzentriert an. In ihren Augen lag tiefer Schmerz. Ich sah, wie meine Worte etwas in ihr befreiten. Meine nächste Aufgabe bestand darin, mit dem, was da befreit wurde, umzugehen.

»Das stimmt. Ich wollte sterben. Nein. Ich will sterben. Ich wünschte nur, ich hätte mir das früher überlegt, vor vielen Jahren, und mir damit all die Zeit erspart, die ich mit meinem wertlosen Leben vergeudet habe.« Sie war eher wütend als unglücklich, und ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter.

»Wenn ich diesen Körper vernichte, wird auch alles andere ein Ende haben. Dann wird diese Qual aufhören, und sie werden keine Macht mehr über mich haben. Ich werde es tun, sobald ich hier rauskomme, dann werde ich all dem ein Ende setzen.«

Die letzten Worte hatte sie wieder geschrien, dann ergriff sie den schweren Lederriemen neben sich und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Fast im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und die beiden Pfleger stürmten herein, bereit einzugreifen.

»Es ist alles in Ordnung«, erklärte ich ihnen so ruhig wie möglich, aber diesmal waren ihre Befürchtungen stärker als ihr Vertrauen in meine professionellen Fähigkeiten. Erst als ich meine Worte mit Nachdruck wiederholte, verließen sie wieder den Raum und schlossen die Tür. Ihr plötzliches Erscheinen hatte Katherine zur Ruhe gebracht. Schwer atmend und auf ihrer Lippe kauend saß sie mit eingezogenen Schultern auf der Trage.

»Katherine, bitte sagen Sie mir – die Stimmen, die Sie hören, was verlangen sie von Ihnen?«

Sie sah mich verblüfft an.

»Woher wissen Sie das? Ich habe noch nie jemandem davon erzählt. Sie können unmöglich wissen, dass ich sie höre.«

»Ich habe nur geraten.« Es war nicht nötig, ihr zu erklären, dass sie sich durch ihre Worte selbst verraten hatte. Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt, weil sie eine weitere Entscheidung treffen musste. Deutlich sah ich, wie sie mit sich rang. Sie konnte entweder in Tränen ausbrechen und mir ihr Herz ausschütten oder einen Tobsuchtsanfall bekommen, um ihre Gefühle zu leugnen. Diesmal könnte sie gewalttätig werden. Ich musste eingreifen, bevor sich ihr Verwirrungszustand in eine gefährliche Richtung entwickelte.

»Sie können ruhig darüber reden. Sie haben bisher noch nie versucht, sich das Leben zu nehmen. Es ist in Ordnung, wenn Sie jetzt über Ihre Stimmen sprechen. Vor allem, da ich bereits Bescheid weiß.«

»Es ist ein Mädchen, ein ganz kleines Mädchen.« Sie begann zu erzählen. »Sie weint immerzu, unaufhörlich und verzweifelt. Ich höre sie die ganze Zeit, irgendwo in meinem Kopf. Ich kann sie nie sehen, aber ich spüre, dass sie mich jedes Mal, wenn ich sie in den Arm nehmen will, wenn ich sie beschützen will, von sich wegschiebt. Und dann schreit sie mich hasserfüllt an: ›Es ist alles deine Schuld! Es ist alles deine Schuld!‹, schreit sie, und ich kann sie nicht zum Schweigen bringen.«

Beim Reden rang Katherine nach Atem, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Als sie fortfuhr, redete sie immer schneller, ihre Stimme wurde schwächer, höher, verwandelte sich in eine greinende Kinderstimme, und ihr Gesicht wurde zu einem Kindergesicht, dem hilflosen, wütenden, ängstlichen Gesicht eines kleinen Mädchens, das die Fäuste ballte, bereit, jeden zu schlagen, der sich ihm näherte.

»Katherine, ich freue mich, dass Sie jetzt mit mir sprechen, aber bevor wir weitermachen, muss ich noch ein paar Angaben in Ihr Krankenblatt eintragen. Würden Sie mir bitte Ihre Adresse sagen?«

Ich hatte nicht vor, diese Entwicklung eines Doppelbewusstseins weiter zu verfolgen.

Sie verstummte abrupt, dann nannte sie mir mit veränderter Stimme und in der mechanischen Art, die man in Amtsstuben an den Tag legt, ihre Adresse. Weil ich wusste, dass ihre Müdigkeit überhand nehmen würde, beschloss ich, dieses Gespräch so bald wie möglich zu beenden, zumal ich bereits festgestellt hatte, dass sie eine Gefahr für sich selbst darstellte. Ich hatte genügend Anhaltspunkte, sie im Krankenhaus zu behalten. Noch ein paar Fragen, schließlich ein Medikament, um sicherzustellen, dass sie gut schlief, dann würde ich alles erledigt haben. Für ihre weitere Behandlung war der Arzt zuständig, der am nächsten Morgen die Tagesschicht antrat.

»Weil Ihnen diese Stimme sagt, Sie seien an etwas schuld, wollen Sie sich also das Leben nehmen?«

Sie nickte.

»Und Sie sagen, wenn ich Sie jetzt gehen ließe, würden Sie Ihr Vorhaben in die Tat umsetzen?« Ihr stummes Nicken war für mich ein ausreichender Grund, das Gespräch offiziell zu beenden und einen schriftlichen Bericht zu verfassen.

Darin war es nicht unbedingt nötig, den Inhalt ihrer traumatischen Erlebnisse darzulegen, die ihre Depression und die Halluzinationen verursachten. Das Krankheitsbild war eindeutig. Die in ihrem Fall indizierte Behandlung lag auf der Hand. Ich musste die Patientin nur noch über meine Entscheidung in Kenntnis setzen, dann konnte ich mir noch ein paar verdiente Stunden Schlaf gönnen, bevor ich die Morgenvisite durchführte. Aber trotz der verlockenden Aussicht auf Schlaf hatte ich zu meiner eigenen Überraschung keine Eile, die Sitzung zu beenden, sondern führte das Gespräch mit Katherine fort, als wartete ich darauf, dass noch etwas anderes zum Vorschein käme.

Damals erklärte ich es mir damit, dass es irgendwie unaufrichtig von mir sei, einfach aufzustehen und sie in dem Zustand allein zu lassen. So, als hätte ich sie auf hinterlistige Weise dazu verleitet, sich mir anzuvertrauen, um sie mit diesem Wissen gegen ihren Willen dabehalten zu können. Aus diesem Grund blieb ich, und ich hinterfragte meine Entscheidung nicht.

»Warum glauben Sie, dass Sie tatsächlich an irgendetwas schuld sind?«, fragte ich aufs Geratewohl.

»Weil sie Recht hat. Es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld. Ich bin die Einzige, die die Schuld daran trägt.«

»Wenn Sie sagen ›daran‹, was meinen Sie damit?«

Katherine schaute mich an, als wollte sie sich vergewissern, wie ernst ich die Frage meinte. Eine Zeit lang schwieg sie, dann begann sie zu sprechen, diesmal sehr langsam, bedächtig ihre Worte wählend, es war, als hörte sie sich selbst zu, während sie das alles zum ersten Mal laut aussprach.

»Wissen Sie, Frau Doktor, ich schäme mich sehr, darüber zu sprechen. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Es ist alles so schändlich und so hässlich.« Sie wiegte ihren Oberkörper rhythmisch vor und zurück, als wollte sie sich durch die Bewegung zum Fortfahren ermutigen. Ich unterbrach sie nicht mehr. Ich wusste bereits, wovon diese Geschichte handeln würde, und ich ließ ihr Zeit, es endlich loszuwerden.

»Ich bin vergewaltigt worden. Ich war fünf Jahre alt, als es passiert ist. Es war mein Onkel, der Bruder meiner Mutter. Er war damals fünfzehn, und ich war erst fünf. Er nahm mich mit in die Höhle in der Nähe unseres Hauses, und da hat er es getan. Er hat mich schlimm zugerichtet. Ich habe immer noch schreckliche Schmerzen, weil er mir damals eine Hüfte ausgekugelt hat. Ich nehme häufig Schmerzmittel. Ich war erst fünf, aber ich erinnere mich an jede Einzelheit, als wäre es erst gestern geschehen. Und wenn es manchmal scheint, ich hätte angefangen zu vergessen, kommt es in einem Traum zurück. Dann erlebe ich alles noch einmal und fürchte mich wochenlang vor dem Schlafen. Ich habe regelrechte Angstanfälle, die mich überfallen, wenn ich abends ins Bett gehe. Manchmal habe ich Angst, die Augen zuzumachen, Angst, diesen ganzen Tag noch einmal zu erleben, Angst, sein Gesicht über mir zu sehen. Ich war erst fünf Jahre alt, Frau Doktor.«

Sie weinte still vor sich hin. Ihre ganze Wut, die vor allem aus der Anstrengung entstanden war, diese Geschichte von sich fern zu halten, war verflogen. Sie weinte ganz offen und bedankte sich, als ich ihr ein Papiertaschentuch reichte.

»Es quält mich schon mein ganzes Leben lang. Ich bin jetzt neununddreißig Jahre alt, und ich habe seit damals nicht einen einzigen glücklichen Tag erlebt. Sehen Sie mich an. Ich habe nichts, für das es sich zu leben lohnt, mein Leben ist eine einzige Qual. Vor ungefähr einem Jahr hat es angefangen. Da habe ich sie zum ersten Mal weinen hören. Und dann fing sie an zu schreien, ich sei an allem schuld. Dieses Mädchen, das bin ich, ich mit fünf Jahren, ein kleines, fünfjähriges Mädchen, das in der Nähe seines Hauses vergewaltigt wurde. Ich bekam solche Angst, als ich merkte, dass es meine eigene Stimme war, die in mir schrie, dass ich sie nicht zum Schweigen bringen konnte. Können Sie sich vorstellen, Frau Doktor, wie angsteinflößend der Gedanke ist, man könnte den Verstand verlieren? Dieser Gedanke war noch schrecklicher als die Vergewaltigung selbst. Deshalb habe ich niemandem davon erzählt. Es war leichter, den Tod zu wählen, als zuzulassen, dass ich verrückt werde.«

Sie weinte unaufhörlich, benutzte ein Papiertaschentuch nach dem anderen, um sich die Tränen wegzuwischen.

Ich hatte das Gefühl, dass sie mir die Wahrheit sagte. Aber ich hatte schon ähnliche Situationen erlebt, in denen Frauen schluchzten, von Selbstmord sprachen, von längst vergessenen und plötzlich wieder erinnerten Vergewaltigungen erzählten, nur weil sie auf sich aufmerksam machen wollten oder manchmal auch, weil sie drogensüchtig waren und eine Dosis Stoff brauchten. Ich musste also auf der Hut sein. Ich legte Katherines Krankenblatt weg, stand auf und trat auf sie zu. Ich legte meine Hand auf ihren Kopf und sagte: »Es ist in Ordnung. Vertrauen Sie mir. Alles wird sich ändern. Sie haben bereits angefangen, etwas zu ändern. Sie müssen nur noch etwas Geduld haben und sich damit auseinander setzen.«

Wieder begann sie zu schluchzen wie ein kleines Mädchen. Ich sah ihr in die Augen, und in diesem Augenblick waren alle meine Zweifel verflogen, aber mit ihnen war auch meine Gelassenheit dahin. Dort, hinter den vom Weinen geröteten Augen, hinter den weit geöffneten Pupillen, kniete ein hilfloses, kleines, fünf Jahre altes Mädchen auf dem Boden, zerbrochen von all dem Schmerz und der Verwirrung. Und es war niemand da, der ihr beistehen konnte.

Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl, nahm ihr Krankenblatt noch einmal zur Hand, tat so, als würde ich darin lesen, und dachte darüber nach, wie oft und wie extrem mein Beruf mich schon an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht hatte. Derselbe Gedanke war mir am Morgen zuvor durch den Kopf gegangen, als ich einen schizophrenen Patienten in meine Station aufgenommen hatte. Der Mann war im Krankenhaus bekannt, ein ehemaliger Künstler, sanft und intelligent, der allmählich unter der destruktiven Macht seiner Krankheit zusammenbrach. Diesmal wurde er mit neuen Symptomen eingewiesen. Er war von der Polizei auf den Eisenbahnschienen aufgegriffen worden, wo er einem fahrenden Zug entgegengelaufen war. Ich kannte ihn gut. In meinem Sprechzimmer hing sogar ein Bild von ihm, ein Bild, das er vor vielen Jahren während seines ersten Aufenthalts im Krankenhaus in einer einmaligen Technik gemalt hatte.

»Wissen Sie, Frau Doktor, heute stehe ich allein gegen die ganze Welt. So fühle ich mich, und so wird es von nun an immer sein«, hatte er gesagt.

»Herr Lawrow, in der Vergangenheit hatte ich den Eindruck, dass wir einander gut verstehen. Ich will versuchen, Sie auch diesmal zu verstehen. Würden Sie mir bitte helfen und mir erklären, was genau Sie beabsichtigten, als sie dem Zug entgegengingen?«

»Sehen Sie, es gibt ein Rätsel, das ich unbedingt lösen muss. Seit fünf Jahren gelingt es mir nicht zu begreifen, was mit mir geschieht. Gut möglich, dass ich noch am Leben bin, aber es ist ebenso gut möglich, dass ich längst tot bin und nur zwischen dem Tod und irgendetwas anderem festhänge. Und es kann durchaus sein, dass alles, was ich erlebe, eine Art Illusion ist, die mir als Prüfung auferlegt wird. Was für eine Prüfung das ist, weiß ich allerdings nicht.«

»Und was wollten Sie auf den Eisenbahnschienen?«

»Wenn der Zug durch mich hindurchgefahren wäre, ohne dass sich etwas geändert hätte, dann hätte ich mit Sicherheit gewusst, dass ich tot bin; wenn er mich getötet hätte, wäre mir klar gewesen, dass ich vorher gelebt habe. Ich wollte mir Klarheit verschaffen.«

Um Zeit zu gewinnen und darüber nachzudenken, ob diese ungewöhnliche Geschichte einen seltenen Fall von nihilistischem Wahn darstellte und ob das wiederum eine Folge seiner Depressionen sein konnte, sagte ich zu ihm: »Aber Sie sind am Leben, Herr Lawrow. Glauben Sie mir, Sie leben. Das ist ganz offensichtlich.«

»Was ist daran so offensichtlich?«

Seine Antwort unterbrach mich in meinen Überlegungen und veranlasste mich, ihm meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Er schaute zu der Wand hinüber, wo sein Bild hing, und betrachtete es eine Weile. Es war ein Meisterwerk. Unter einem weiten, tiefblauen Himmel lag eine friedliche Landschaft sanfter grüner Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten. Die ganze Szenerie hatte etwas Surreales, etwas Überirdisches. Das Einzige, was an menschliche Existenz erinnerte, waren die beinahe fotografisch genau gemalten Schuhpaare, die auf den Hügeln standen. Es gab alle erdenklichen Arten von Schuhen in allen Größen und Farben. Herr Lawrow musste sich ausgiebig mit Schuhen befasst haben, bevor er das Bild malte. Das Bild trug den Titel Unterdrückte Gefühle, und es gefiel mir sehr.

»Sehen Sie, für Sie wird es offensichtlich sein, dass mein Bild eine tiefe symbolische Bedeutung besitzt. Bestimmt haben Sie schon mal mit jemandem darüber gesprochen, wie interessant es ist, dass ich unterdrückte Gefühle durch die Abwesenheit von Körpern darstelle.«

Er hatte Recht. Mindestens zweimal hatte ich mit meinen Kollegen ein solches Gespräch geführt.

»Für Sie ist das also ziemlich offensichtlich. Aber das hatte ich überhaupt nicht im Sinn, als ich das Bild gemalt habe. Ich habe die Schwerkraft gemalt. Die Erdanziehungskraft, der unsere Körper ständig ausgesetzt sind und die unsere Gefühle einschränkt. Ich dachte an Erfahrungen der Schwerelosigkeit, die durch die Dichte unserer Körper zunichte gemacht wird.

Um also auf unsere Diskussion zurückzukommen – was ist so offensichtlich daran, dass ich am Leben bin, dass alles und jeder um mich herum wirklich ist und keine Illusion? Wie können Sie mir das beweisen?« Er sah mich erwartungsvoll an und rieb sich die Schläfen.

Einen Augenblick lang brachte seine ernsthafte und kompromisslose Frage mich völlig aus dem Konzept. Sein Gedanke stellte meine sichere, verlässliche Wahrnehmung von den Dingen selbst in Frage, und in diesem Moment, des Bodens einer materiellen Realität beraubt, war meine Wahrnehmung geschwächt, rätselhaft, bedeutungslos und beängstigend verletzlich.

»Zuerst die Depression.« Dieser rettende Gedanke richtete meine Wahrnehmung wieder auf normale Dinge. Nihilistische Überzeugungen sind die Folge. Ich würde ihm also als Erstes ein Antidepressivum und ein Neuroleptikum geben und dann abwarten, wie es ihm in ein paar Tagen ginge, sagte ich mir im Stillen.

Aber nachdem Herr Lawrow mein Sprechzimmer verlassen hatte, dachte ich noch lange darüber nach, wie sehr mich solche Auseinandersetzungen mit Patienten an meine Grenzen brachten. In seinem Fall lag die Herausforderung mehr auf der intellektuellen Ebene.

Aber Katherines kleines Mädchen appellierte an meine Gefühle und forderte die Belastbarkeit meiner professionellen Distanziertheit heraus. Ich schaute Katherine an und sagte:

»Warum glauben Sie, Sie seien schuld an dem, was passiert ist?«

Nach kurzem Zögern redete sie wieder, als bliebe ihr keine Zeit, Luft zu holen: »Es ist meine Schuld, weil ich zugelassen habe, dass er es getan hat. Er war der Einzige in der Gegend, der ein Fahrrad besaß. Ich habe ihn so sehr darum beneidet. Ich war noch nie auf einem Fahrrad gefahren. Und wir hatten kein Geld, um ein Fahrrad zu kaufen. Ich hab ihn gebeten, mich damit fahren zu lassen, wenigstens ein einziges Mal. Schließlich war er mein Onkel. Er sagte, er würde mich nur damit fahren lassen, wenn ich es mit ihm tun würde. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Also stimmte ich zu und ging mit ihm in die Höhle. Es hat so wehgetan, aber noch schlimmer als die Schmerzen war die Scham. Ich habe kein Wort gesagt. Er hat mich auf sein Fahrrad gesetzt und mich nach Hause gefahren. Ich erinnere mich, wie ich auf dieser Fahrt gelitten habe. Seitdem bin ich nie wieder Fahrrad gefahren, und ich habe niemals jemandem davon erzählt.«

Sie schwieg einen Augenblick lang, doch ich spürte, dass sie noch etwas sagen wollte.

»Doch, einmal habe ich darüber gesprochen. Mit meinem Mann. Wir waren seit einem halben Jahr verheiratet. Und ich hatte gerade angefangen, mich in Sicherheit zu fühlen. Ich habe ihm meine Geschichte erzählt. Ich weiß nicht, was ich von ihm erwartet habe, aber was er tat, war schlimmer als alles, was ich mir hätte vorstellen können. Er hat mich an den Haaren ins Schlafzimmer geschleift und vergewaltigt. Und während er das tat, fragte er wie besessen immer wieder: ›Hast du dich damals so gefühlt? Ist es so ähnlich wie beim ersten Mal?‹ Danach habe ich zwei Wochen mit einem Schmerzsyndrom im Krankenhaus gelegen. Und ich habe ihn nie wieder gesehen seit dem Tag. Wir haben uns scheiden lassen. Meine Schmerzen sind zurückgekommen und nie wieder weggegangen. Wozu soll ich noch weiterleben, Frau Doktor?«

»Katherine, Sie müssen im Krankenhaus bleiben. Ich kann Sie jetzt nicht nach Hause gehen lassen. Und ich hoffe sehr, dass der Arzt, der morgen kommt, Ihnen helfen kann.«

Sie wirkte noch verängstigter.

»Ich will nicht hier bleiben. Ich will Schluss machen. Sie können mich nicht einfach gegen meinen Willen hier behalten.«

»Doch, das kann ich, Katherine. Und ich werde es tun. Und eines Tages werden Sie mir dafür dankbar sein.«

Ich verließ das Untersuchungszimmer, ging in die Notaufnahme, schrieb meinen Bericht und gab ihn dem Bereitschaftsarzt.

»Nehmen Sie sie in der Psychiatrie auf, sobald ihre Herz-Kreislauf-Funktionen stabilisiert sind. Sie bleibt bei uns.«

Ich musste diesmal nicht laufen, um der Kälte zu entgehen. Gegen die Gefühle, die mich auf dem Rückweg zu meiner Station aufwühlten, konnten Minusgrade nichts ausrichten. Katherine brauchte dringend Hilfe. Ich spürte es tief in meinem Innern. Auf ihre unbeholfene Weise flehte sie um Hilfe, und ich hätte alles getan, um sie ihr zu geben. Sie war eines von vielen Gesichtern mit einer ähnlichen Geschichte. Ich hatte diese Geschichte schon oft gehört. Ich hatte schon ähnliche, schmerzverzerrte Gesichter gesehen, und ich wollte Katherine ebenso helfen wie ich vielen anderen Frauen vor ihr zu helfen versucht hatte. Aber die Mauer der Hilflosigkeit stand jetzt genauso vor mir wie in allen früheren Fällen. Ich fühlte mich machtlos angesichts der Tiefe von Katherines Verzweiflung. Das Leid, das sie immer begleiten würde, war wie ein Brunnen ohne Boden. Sie kannte es nicht anders. Woher sollte ich die Kraft und das Wissen nehmen, um sie aus diesem grenzenlosen Leid zu befreien? Darauf hatte ich keine Antwort.

Aber da war noch etwas anderes, etwas, das über mein Mitgefühl für Katherine hinausging, etwas, das mich zutiefst irritierte.

Während ich langsam über den schneebedeckten Pfad ging, spürte ich, wie in mir ein Gefühl der Unzufriedenheit und der Angst aufstieg. Geübt in Selbstbeobachtung wusste ich, dass sich unter meiner Angst etwas verbarg. Etwas, das ich beinahe zu fassen bekam, das mir jedoch zu ungeheuerlich und zu gefährlich erschien und sich deshalb meinem Bewusstsein wieder entzog. Mein Verstand wehrte sich nicht dagegen, es zu vergessen, und ich versuchte erst gar nicht zu ergründen, warum ich mich ängstlich und unsicher fühlte. Irgendwie spürte ich einfach, dass es besser war, es fallen zu lassen, zumindest vorerst.

Ich ging weiter über den zugeschneiten Pfad, und ich wusste in diesem Augenblick nicht, dass weit weg, in Usbekistan, im Herzen Asiens, außerhalb der Mauern von Samarkand, ein paar Leute zusammenkamen und den Beschluss fassten zu handeln. Auf meinem Weg über das Krankenhausgelände konnte ich unmöglich wissen, dass ich schon bald und völlig unerwartet zu denen gehören würde, die diesen Beschluss in die Tat umsetzen würden. Meine Ängste würden mir als Motor dienen, mit Bereichen vertraut zu werden, von deren Existenz ich noch gar nichts ahnte.

Kapitel zwei

Wie üblich nach dem Nachtdienst, nach zu wenig Schlaf, der mehr Erschöpfung als Erholung nach sich zog, schien mein Arbeitstag überhaupt kein Ende zu nehmen.

Aber schließlich waren die langen Stunden vorüber. Während ich meinen Mantel aus dem Spind nahm, ging ich noch einmal in Gedanken alle Anordnungen durch, die ich für meine Patienten getroffen hatte. Ich vergewisserte mich, dass alles getan war und ich nichts vergessen hatte.

Ich nahm meine Tasche und war im Begriff zu gehen, als die Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau hereinkam. Fast drängte sie mich zurück in mein Zimmer. Sie lächelte selbstbewusst, als zweifelte sie nicht im Geringsten daran, dass ich mich freuen würde, sie zu sehen. Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Sie kam mir bekannt vor und begrüßte mich wie eine alte Freundin. Es war mir ziemlich peinlich, mich nicht entsinnen zu können, wo ich sie schon einmal gesehen hatte.

»Hallo! Ich bin Mascha«, sagte sie mit einer tiefen, melodischen Stimme. Sie sah aus, als würde sie gleich lachen, so sehr amüsierte sie meine Verwirrung.

»Ich bin Mascha«, wiederholte sie, wobei sie ihren Namen betonte, als müsste er etwas Besonderes für mich bedeuten.

»Sie erinnern sich doch an mich, oder? Sie sind Olga, stimmt’s? Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden.«

Die Tatsache, dass sie nicht sicher wusste, wer ich war, und etwas an ihrem letzten Satz machten mich stutzig, und plötzlich fiel es mir wieder ein: ihr rosiges Gesicht, ihre Gestalt, die engen Jeans, ihre unglaubliche Präsenz – mit einem Mal sah ich das Bild wieder vor mir, und ich wusste, wer sie war. Ich war so verblüfft und erfreut, sie in meinem Sprechzimmer zu sehen, dass ich meine Tasche fallen ließ. Ohne meinen Mantel abzulegen, machte ich es mir auf meinem Lieblingsstuhl bequem und sagte: »Ich freue mich sehr, Sie offiziell kennen zu lernen, Mascha. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Was kann ich für Sie tun?«

Sie setzte sich mir gegenüber, nahm eine Zigarette aus ihrer Handtasche und schaute sich nach einem Aschenbecher um. Sie benahm sich so selbstverständlich, dass ich ihr einfach nur wortlos zusah und mir Einzelheiten unserer ersten Begegnung in Erinnerung rief.

Eines Abends hatte bei mir zu Hause das Telefon geklingelt. Es war schon spät, sodass ich glaubte, es handle sich um einen Notruf. Ohne Einleitung und ohne sich für den späten Anruf zu entschuldigen, sagte eine tiefe, heisere Männerstimme: »Ich möchte mit Olga sprechen. Sind Sie das?«

»Ja. Wer möchte mich sprechen?« Ich überlegte, wer der Mann sein könnte, der mich spätabends so unfreundlich anredete, doch die Stimme war mir gänzlich unbekannt.

Er fuhr in demselben barschen, herablassenden Ton fort, als hätte er meine Frage gar nicht gehört.

»Man hat mir gesagt, Sie seien eine sehr interessante Frau, die interessante Dinge tut. Stimmt das?«

»Das kommt darauf an, welche Dinge Sie für interessant halten. Ich könnte mir vorstellen, dass wir da vielleicht einen unterschiedlichen Geschmack haben.«

»Oh, tut mir Leid. Ich habe mich gar nicht dafür entschuldigt, dass ich Sie so spät noch störe, und ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Smirnow. Ihre Telefonnummer habe ich von einem Ihrer Kollegen.« Er nannte mir den Namen eines Arztes, der mit mir zusammen im Krankenhaus arbeitete. Im Stillen verfluchte ich den, der meine Telefonnummer ohne meine Erlaubnis an einen Fremden weitergegeben hatte.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Smirnow? Wenn ich überhaupt irgendetwas für Sie tun kann!« Ich hatte nicht vor, auf seine unerwartete Höflichkeit hereinzufallen. Seine barscher Tonfall klang immer noch in meinen Ohren nach und irritierte mich zutiefst.

»Wir betreiben psychologische Forschung in der Stadt. Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, unserem Laboratorium einen Besuch abzustatten. Wir leben in derselben Stadt wie Sie, und ich finde, alle fähigen Leute sollten einander kennen und miteinander Kontakt aufnehmen.«

Seine Schmeichelei trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen, im Gegenteil, sie verstärkte meine Irritation.

Das ist einer, der glaubt, seine Intelligenz gibt ihm das Recht, alles zu manipulieren, dachte ich. »Da irren Sie sich, Herr Smirnow.« In meinem Kopf lief ein stummes Gespräch mit ihm ab.

Er redete unbeirrt weiter. Er erzählte mir von seinem Labor und von den Forschungsprojekten, an denen seine Leute dort arbeiteten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während ich krampfhaft überlegte, was ich mit diesem seltsamen Menschen anfangen sollte. Der Mann hatte irgendetwas, das mich davon abhielt, ihn einfach als einen machtlüsternen Manipulator abzutun. Er klang nicht wie diese Typen, die die staatlichen Institute bevölkerten, die versuchten, die Tiefen der menschlichen Psyche zu ergründen, um ihren ehrgeizigen, bürokratischen Vorgesetzten zu Gefallen zu sein.

Ganz deutlich spürte ich, dass dieser Mann in seinem Denken unabhängig war. Seine raue, tiefe Stimme verriet einen äußerst wachsamen Geist. Mein Eindruck, dass er eine außergewöhnliche Macht besaß, mischte sich mit einer Ahnung von Gefahr. Es war eine seltene, interessante Kombination.

»Also, Herr Smirnow, Sie haben mich davon überzeugt, dass Sie ein interessanter Mann sind, der interessante Dinge tut.«

Er lachte laut los.

»Sehen Sie, da haben wir ja schon eine Gemeinsamkeit entdeckt. Ich gebe Ihnen meine Adresse. Es ist zugleich meine Heimadresse und die des Labors.« Er diktierte mir die Adresse und erklärte mir, wie ich mit dem Bus dorthin gelangen konnte. Während ich seine Angaben notierte, ärgerte ich mich, dass er mich nun doch schon so weit gebracht hatte, etwas auf seine Anweisung hin zu tun.

»Vielen Dank. Aber ich werde vorerst sicherlich keine Zeit finden, Sie zu besuchen. Ich kann Ihnen also nichts versprechen.«

»Selbstverständlich nicht. Das müssen Sie auch nicht. Wir freuen uns auf Ihren Besuch. Gute Nacht.«

Eine Zeit lang vergaß ich den seltsamen Anruf, doch ein paar Tage später gingen mir die Einzelheiten des Gesprächs noch einmal durch den Kopf, und ich merkte, wie die Erinnerung eine gewisse Neugier in mir weckte. Ich wehrte mich gegen den Impuls, dorthin zu fahren, denn es schien mir keine vernünftige Entscheidung zu sein, aber die Neugier verwandelte sich schon bald in Angst. Ich spürte, dass ich keine Ruhe finden würde, ehe ich diesen Besuch hinter mich gebracht hatte. Es war, als verhießen seine Worte mir Erkenntnisse über mich selbst, an die ich mich unbedingt erinnern musste, die ich jedoch seit langem verdrängte. Nach reiflicher Überlegung sagte ich mir, dass Smirnow allem Anschein nach ein außergewöhnlicher Mensch war und ich mir die Chance nicht entgehen lassen sollte, ihn persönlich kennen zu lernen. Ich machte mich auf den Weg zu seinem Labor.

Es lag außerhalb der Stadt, eine halbe Stunde Fahrt mit dem Bus. Nowosibirsk, eine der größten Städte an der Transsibirischen Eisenbahn, »das Herz von Sibirien«, wie es von manchen genannt wird, ist eine riesige Metropole mit 1,5 Millionen Einwohnern, von denen die meisten bestrebt sind, möglichst nah am Zentrum zu wohnen, weit weg von den Industrievororten. Nur die Sommerferien verbringen die Leute in kleinen Dörfern außerhalb der Stadt. Ich hatte noch nie von jemandem gehört, der dort den Winter verbrachte.

Neugierig bestieg ich den Bus und machte mich auf zu der Adresse, die Smirnow mir diktiert hatte. Zu meiner Überraschung war das Laboratorium leicht zu finden. Der Bus hielt an einer einsamen, schneebedeckten Haltestelle, mitten im Wald. Ich war die Einzige, die dort ausstieg. Nachdem ich der Wegbeschreibung von Smirnow folgend von der Haltestelle aus ein paar hundert Meter weit in den Kiefernwald hineingegangen war, sah ich ein großes Haus, das sich deutlich von den leeren Holzbauten der Sommerhütten unterschied, die überall in der Gegend standen.

Es war ein altes sibirisches Haus, das aus der Zeit vor der Revolution von 1917 stammte, wahrscheinlich aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. In der Stadt gab es nur wenige solcher Häuser, historische Überbleibsel sozusagen. Die meisten waren abgerissen worden, um Platz zu schaffen für vielstöckige Wohnhäuser.

Die alten Häuser stammten aus der Zarenzeit und waren von der sibirischen Aristokratie erbaut worden, von reichen Familien, die sich schöne, solide, weitläufige Villen leisten konnten, meistens mit kunstvollen Holzschnitzereien verziert.

Dieses Haus stand mitten im Wald, umgeben von all den Geräuschen, Gerüchen und Eindrücken, die man in der Stadt nicht findet. Alles war still und friedlich, hin und wieder waren Vogelrufe zu hören, und eine weiße unberührte Schneedecke lag über diesem entlegenen Ort. In der Stadt war der Schnee längst weggeschmolzen.

Langsam ging ich auf das Haus zu und blieb noch einmal stehen, um seine Schönheit zu bewundern. Die hohen Außenwände waren aus übereinander geschichteten Eichenstämmen errichtet, die sich mit der Zeit dunkel verfärbt hatten. Die Fensterrahmen waren mit prachtvollen Schnitzereien versehen. Wie in einem Märchen stieg weißer Rauch aus dem hohen Kamin und löste sich langsam über den schneebedeckten Nadelbäumen auf.

Ich brauchte Zeit, um mich auf diesen Ort einzustellen, der so anders war als das hektische Leben in der Stadt. Ich holte tief Luft und klopfte an die massive Eichentür, doch das alte Holz verschluckte mein Klopfen, es konnte in dem großen Haus unmöglich gehört worden sein.

»Treten Sie ein, die Tür ist offen«, rief eine Stimme aus dem Haus.

Ich öffnete die Tür und blieb unschlüssig auf der Schwelle stehen. Vor mir sah ich zwei hölzerne Treppen, eine führte nach oben und eine in den Keller.

»Kommen Sie nach unten, Olga.« Als ich Smirnows Stimme hörte, ging ich die Treppe hinunter, verwundert darüber, wie er hatte wissen können, dass ich an seine Tür geklopft hatte.

Ich gelangte nicht wie erwartet in den Keller, sondern ins Erdgeschoss, denn das Haus war an einen Hang gebaut, und die Eingangstür führte direkt in den ersten Stock.

Auf der letzten Stufe blieb ich einen Augenblick stehen, bevor ich meinen Fuß auf den mit Orientteppichen bedeckten Boden setzte. Ein Mann, der auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand, drehte sich zu mir um. Ich konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen. Er stand genau vor dem Fenster, sodass ich ihn nur im Gegenlicht sehen konnte. Seine Silhouette zeichnete sich gegen das Fenster ab, eine große, leicht gebeugte, schwarze Gestalt, eindrucksvoll in ihrer Reglosigkeit. Doch im nächsten Augenblick kam er mit schnellen Schritten auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. »Freut mich, Sie endlich kennen zu lernen.«

Anstatt mir die Hand zu schütteln, nahm er meinen Ellbogen, um mir die letzte Stufe herunterzuhelfen. Ich zögerte einen Moment und ließ meinen Blick noch einmal durch diesen seltsamen Raum schweifen. Es war ein riesiger Wohnraum. An allen Wänden befanden sich Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke reichten und an den Ecken abgerundet waren; es entstand der Eindruck, als sei das ganze Zimmer rund. Vor dem Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte, wippte ein alter, mit einer braunen Kaschmirdecke gepolsterter Schaukelstuhl, so, als hätte sich gerade jemand daraus erhoben.

Drei gleiche, geschlossene Türen ließen auf angrenzende Räume schließen. Bis auf einen kleinen Tisch vor dem Fenster und einem Plastikstuhl daneben gab es keine weiteren Möbelstücke in dem Raum. Auf dem Tisch lag ein Stapel Papiere.