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Monika Felten

Kristall der Macht

Roman

hockebooks

5

Was Noelani in dieser Nacht erblickte, war erschreckend und furchteinflößend, gleichzeitig aber auch von einer so ergreifenden Schönheit geprägt, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte.

Der Wind hatte nachgelassen, die Wolken hatten sich verzogen und den Regen mit sich genommen, sodass nun wieder Mond und Sterne am Himmel zu sehen waren. An der Seite ihrer Schwester glitt Noelani über das schlafende, menschenleere Land hinweg, dorthin, wo in der Ferne das Band des Gonwe im Mondlicht funkelte. Weiter ging es flussaufwärts, bis am Horizont der Widerschein von Feuer zu sehen war. Was zunächst wie ein mitternächtlicher Sonnenaufgang anmutete, entpuppte sich beim Näherkommen als der Schein unzähliger Lagerfeuer, die sich wie Abertausende leuchtender Käfer in einem weiten Umkreis auf dem Boden niedergelassen hatten.

Der Anblick der Lichtpunkte in der Dunkelheit übte auf Noelani eine ungeheure Faszination aus. Ein Kunstwerk von außergewöhnlicher Gestalt, das unbewusst entstanden war und das, ob des ungewöhnlichen Blickwinkels, wohl sonst nur von den Vögeln bewundert werden konnte.

Bei aller Begeisterung entging ihr nicht, dass die meisten Feuer auf der rechten Seite des Flusses brannten. Nur ein kleiner Teil war auf der linken Seite zu sehen. General Triffin und der König hatten die Wahrheit gesagt. Gemessen an der Zahl der d war das Heer von Baha-Uddin dem der Rakschun vier zu eins unterlegen, und es stand zu befürchten, dass die wahre Truppenstärke noch ein viel schlechteres Verhältnis aufzeigen würde.

Gern hätte Noelani noch länger so hoch über den beiden Heerlagern geschwebt, aber Kaori schien keinen Sinn für die Schönheit der vielen Lichter am Boden zu haben, denn sie hielt zielstrebig auf das Lager der Rakschun in der Nähe des Flusses zu.

Hier gab es nur wenige Lagerfeuer, dafür viele Rundzelte, Stapel von Baumstämmen und anderen Baumaterialien, die auf dem ufernahen Schwemmland lagerten. Einen Herzschlag später erreichten sie das Flussufer. Noelani erschrak. Der König und General Triffin hatten ihr erzählt, dass die Rakschun den Gonwe mithilfe von Flößen überqueren wollten. Sie kannte Flöße von Nintau und hatte geglaubt, eine Vorstellung davon zu haben, was sie im Lager vorfinden würde. Doch was hier im seichten Wasser lag und sich mit den Wellen friedlich auf und ab bewegte, übertraf selbst ihre kühnsten Erwartungen. Die Flöße waren riesig und so gebaut, dass mindestens hundert Mann darauf Platz fanden. Ein doppelter Boden sorgte für den nötigen Auftrieb, und eine massive Reling stellte sicher, dass bei dem zu erwartenden Gedränge niemand ins Wasser fallen würde.

Zwanzig solcher Flöße lagen am Ufer vertäut und zum Ablegen bereit. Mindestens ebenso viele waren dahinter so geschickt aufgereiht, dass sie schnell zu Wasser gelassen werden konnten, ohne dass man sie von der anderen Seite des Flusses aus jetzt schon sehen konnte. Auch in diesem Punkt hatte der König die Wahrheit gesagt und wahrlich nicht übertrieben. Wie es den Anschein hatte, planten die Rakschun schon sehr bald einen massiven Angriff, und wenn Noelani daran dachte, wie wenige Feuer auf der anderen Seite des Flusses zu sehen gewesen waren, konnte sie verstehen, warum man sich in Baha-Uddin davor fürchtete.

»Sieh nur, all die Waffen«, hörte sie Kaori bestürzt sagen und entdeckte auch gleich, wovon ihre Schwester sprach. Etwas abseits der Flöße lagen Tausende Speere, Schwerter und andere, seltsam anmutende Waffen, wie stachelige Kugeln an Ketten und stachelbewehrte Keulen, die Noelani nie zuvor gesehen hatte, sorgsam aufgeschichtet in einem gut bewachten Rundzelt nebeneinander. Ganz so, als sei schon alles dafür vorbereitet, sie an die Krieger auszugeben. Ein anderes, nicht weniger gut bewachtes Zelt war voll mit Tausenden Pfeilen, die in ledernen Köchern steckten, und Stapeln von kurzen, stark geschwungenen Bogen.

»Das wird kein Kampf, sondern ein sinnloses Abschlachten«, sagte Kaori voller Abscheu. »Du hast recht, wir sollten wirklich alles tun, um das zu verhindern.«

»Der König verlangt, dass ich alle diese Krieger hier in Stein verwandle.« Noelani seufzte bekümmert. »Aber das … das kann ich nicht«, sagte sie betrübt. »Niemals.«

»Das verstehe ich«, stimmte Kaori ihr zu. »Aber vielleicht geht es ja auch anders.«

»Wie meinst du das?« Noelani horchte auf.

»Das ist doch ganz einfach«, sagte Kaori verschwörerisch. »Ohne Waffen können die Krieger nicht kämpfen und ohne die Flöße den Gonwe nicht überqueren. Wenn sich beides urplötzlich in Stein verwandelt, können sie Baha-Uddin nicht mehr angreifen.«

»Kaori, das … das ist wunderbar. Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?« Noelani fühlte sich mit einem Mal, als wäre ihr eine große Last von den Schultern genommen worden. »Das würde bedeuten, dass ich niemanden töten muss, wenn es mir gelingt, die Kristalle nur um diese Zelte und die Flöße zu platzieren.«

»Nun, die Wachen …«

»Ach, da fällt mir sicher etwas ein.« Noelani war so begeistert, dass sie sich durch nichts von dem Plan abbringen lassen wollte. Wenn König Azenor sich auf ihren Vorschlag einließ, konnte sie ihr Volk retten und ihr Versprechen einlösen, ohne dass dafür Menschenleben geopfert wurden. »Lass uns zurückkehren«, sagte sie voller Tatendrang. »Ich muss Jamak sofort von dem Plan berichten. Wenn er erfährt, was ich vorhabe, kann er nicht mehr dagegen sein, dass ich dem König helfe.«

*

Über den Rundzelten des Rakschunlagers wechselte die Farbe des Himmels langsam von Tiefschwarz zu Hellgrau. Die Sterne verblassten, und der Nebel, der sich gegen Ende der Nacht über der Ebene gebildet hatte, verschwand, während weit im Osten ein dünnes, rosafarbenes Wolkenband vom Beginn des neuen Tages kündete.

Nuru fror. Seit einer Stunde harrte er bereits nahe Arkons Zelt aus und suchte den Himmel im Süden nach Vögeln ab.

Nach Tauben.

Seit er von dem Gespräch mit Olufemi zurückgekehrt war, hatte er Arkon nicht aus den Augen gelassen, aber er hatte vergeblich gewartet. Den ganzen Tag über hatte sich nicht eine Taube blicken lassen. Und selbst wenn, hätte es für ihn keine Möglichkeit gegeben, sie abzufangen, ohne dass der stumme Schmied es bemerkt hätte, denn Arkon schien immer auf der Hut zu sein. Erst jetzt, da Nuru ihn unauffällig, aber sehr genau beobachtet hatte, hatte er bemerkt, wie oft Arkons Blick während der Arbeit zum Himmel wanderte, wo er, wie es schien, nach den Tauben Ausschau hielt.

Die einzige Zeit, in der es möglich war, eine Taube unbemerkt zu fangen, war, wenn Arkon schlief. Nuru kannte sich nicht besonders gut mit Tauben aus, vermutete aber, dass sie wie die meisten Vögel des Nachts nicht flogen. So hatte er sich schon vor dem Morgengrauen auf seinen Posten begeben, um ihnen in der knappen Zeit, bis Arkon erwachte, aufzulauern.

Wenn sie denn kamen.

Nuru seufzte, hob die Hände vor den Mund und hauchte gegen die kalten Finger, um sie zu wärmen. Diese morgendliche Wache war ein Glücksspiel, da machte er sich nichts vor. Wenn das Schicksal es wollte, konnte er noch bis zum Angriff jeden Morgen hier vor dem Zelt ausharren, ohne auch nur eine einzige Taube zu Gesicht zu bekommen. Wohl schon zum hundertsten Mal tastete er nach dem kurzen, stark geschwungenen Bogen, der zusammen mit einigen Pfeilen neben ihm auf dem Boden lag. Nur wenige im Lager wussten, dass er nicht nur ein begnadeter Schmied, sondern auch ein hervorragender Bogenschütze war. Wenn eine Taube auf Arkons Zelt zuflog und er sie rechtzeitig entdeckte, würde es ein Leichtes für ihn sein, sie mit einem gezielten Schuss vom Himmel zu holen.

Es wurde heller. Das Leben im Lager erwachte. Schon stiegen in der windstillen Luft die ersten dünnen Rauchfahnen der Herdfeuer über den Rundzelten auf. In der Ferne waren Stimmen und rasselndes Husten zu hören, und irgendwo ganz in der Nähe schlurfte jemand zum Abort, um sich zu erleichtern. Jeden Augenblick würde auch Arkon erwachen, dann konnte …

Nuru führte den Gedanken nicht zu Ende. In einer ansatzlosen Bewegung fanden Pfeil und Bogen den Weg in seine Hand, während er mit den Augen einen dunklen Punkt am südlichen Himmel fixierte, der sich rasch näherte.

Eine Taube!

Nuru hielt den Atem an, legte den Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen, zielte und schoss. Lautlos sirrte der Pfeil durch die Luft und bohrte sich in den Leib der Taube, die hilflos flatternd zu Boden trudelte. »Ein sauberer Schuss!« Nuru grinste, sammelte die restlichen Pfeile auf und eilte mit großen Schritten zu der Stelle, an der die Taube liegen musste. Er fand sie erst nach einigem Suchen. Eine rotbunte mit weißen Einsprengseln. Wie ein Federknäuel lag sie im Schatten eines Zeltes, den Pfeil im Leib, einen Flügel gebrochen. Nuru hob sie auf und betrachtete sie, doch erst als er ins Licht trat und die blutigen Federn von den Beinen entfernte, erkannte er, dass er Glück gehabt hatte. Am Bein der Taube war ein dünnes Röhrchen befestigt, das sorgfältig mit Siegelwachs verschlossen war.

Diese Taube war zweifellos auf dem Weg zu Arkon gewesen. Nuru spürte eine tiefe Genugtuung in sich aufsteigen. Zu gern hätte er das Siegel gebrochen und die Botschaft gelesen, die die Taube mit sich führte, aber er wusste, dass diese nur dann als Beweis taugte, wenn das Siegel unversehrt war. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Er musste die Taube zu Olufemi bringen – und zwar sofort.

*

»… Das würde bedeuten, dass ich die Rakschun mit der Macht der Kristalle besiegen kann, ohne dass auch nur ein Menschenleben dafür geopfert wird«, schloss Noelani ihre Ausführungen und erwiderte den Blick von Azenors eisblauen Augen so stolz und selbstbewusst, wie es sich für eine Maor-Say geziemte. Gleich nach ihrer Rückkehr von der Geistreise hatte sie mit Jamak über den Plan gesprochen, den sie mit Kaori erdacht hatte. Er hatte sich erleichtert gezeigt und nichts gegen eine solche Form der Unterstützung einzuwenden gehabt.

Zur Mitte der Nacht war Samui dann mit den Flüchtlingen im Palast eingetroffen. Der König hatte veranlasst, sie in den Gesindehäusern unterzubringen, in denen ein halbes Jahr zuvor noch die Bediensteten des Palasts gewohnt hatten. Drinnen war es beengt, aber warm und trocken, und nachdem alle eine warme Suppe aus der Palastküche erhalten und die königlichen Heiler sich um die Verletzten gekümmert hatten, waren die Blicke, die die Flüchtlinge Noelani und Jamak bei ihrem Besuch zugeworfen hatten, schon nicht mehr ganz so feindselig gewesen.

Noelani war beruhigt, dass alle vorerst in Sicherheit waren. Es war keine Lösung auf Dauer, aber ein Schritt in die richtige Richtung, und so hatte auch sie in der Nacht noch etwas Schlaf gefunden.

Als bei Sonnenaufgang ein Diener gekommen war und sie eingeladen hatte, die Morgenmahlzeit gemeinsam mit dem König, Fürst Rivanon und General Triffin einzunehmen, hatten Noelani und Jamak die Einladung gern angenommen. Kurz darauf hatten sie sich in einem prunkvollen Raum wiedergefunden, der dem König mit seiner langen Tafel und den mehr als dreißig Stühlen ganz offenbar allein dazu diente, hier die Speisen einzunehmen. Die Morgenmahlzeit gestaltete sich dann auch nicht weniger königlich, und obwohl sich Noelani an der mit Köstlichkeiten überreich beladenen Tafel verloren fühlte, hatte sie nicht gezögert, dem König noch während des Essens ihren Plan zu schildern, als dieser sie danach fragte.

»Habe ich das richtig verstanden?«, hakte Fürst Rivanon nach. »Ihr wollt die Kristalle um die Flöße und Waffenlager positionieren und nur die Gegenstände in Stein verwandeln?«

»So ist es.« Noelani nickte. »Flöße aus Stein schwimmen nicht, und mit steinernen Bogen kann man nicht schießen. Der Angriff wird scheitern, ehe er überhaupt begonnen hat.«

»Damit gewinnen wir eine Schlacht, nicht aber den Krieg!« Rivanon schüttelte den Kopf und schaute den König eindringlich an. »Mein König«, sagte er mahnend. »Der Plan der Maor-Say hat durchaus seinen Reiz, aber es ist nicht genug. Ihr kennt die Rakschun. Ein solcher Angriff mag für sie einen Rückschlag bedeuten, aber er wird sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen, unser Land zu erobern. Das ist gewiss.«

»Es ist alles, was ich euch anbieten kann.« Noelani war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Zu töten verstößt gegen meine innerste Überzeugung. Wenn ihr das von mir verlangt, werde ich mein Volk sammeln und weiterziehen.«

»Ach ja, ist es das? Aber wenn Ihr geht, ist das Volk von Baha-Uddin dem Tode geweiht«, erwiderte Rivanon scharf. »Könnt Ihr das mit Eurer innersten Überzeugung vereinbaren? Hilfe zu unterlassen und den Tod Tausender billigend in Kauf zu nehmen, ist auch eine Form von Töten. Ich sehe da keinen Unterschied. Oder sind die Rakschun Euch mehr wert als mein Volk?«

»Ich werte nicht«, sagte Noelani. »Jedes Leben ist kostbar.«

»Und doch stellt Ihr die Rakschun über das Volk von Baha-Uddin.«

»Das ist nicht wahr. Ich stelle nur die Ausgangslage wieder her. Ganz so, als hätte der Sturm uns nie an Land gespült.«

»Aber er hat!« Rivanon war außer sich. »Ich bin überzeugt, dass es nicht zufällig geschehen ist. Es war der Wille der Götter, der Euch in höchster Not zu uns geführt hat. Da könnt Ihr nicht so tun, als ob es die vergangenen Tage nicht gegeben hätte.«

»Das hier ist nicht unser Krieg.« Auch Noelani wurde allmählich wütend. »Nehmt meine Hilfe an oder lasst es bleiben. Das ist mein letztes Wort.«

»Wir nehmen an!« König Azenors Stimme erfüllte den Raum auf eine machtvolle Weise, wie es wohl nur Könige vermögen.

»Was?« Rivanon wirbelte herum und starrte den König an, als wäre er ein Verräter. »Aber das ist Irrsinn. Die Rakschun werden neue Flöße und neue Waffen bauen und es wieder versuchen.«

»Die wir dann erneut zerstören werden. Nicht wahr, Noelani?«

Etwas an der Art, wie der König zu ihr sprach, gefiel Noelani nicht. Aber der Eindruck war zu flüchtig, um ihn in Worte zu fassen, und so sagte sie nach einer kurzen Pause: »Solange dafür kein Leben durch meine Hand genommen werden muss, werde ich dir helfen.«

»Da hörst du es, mein lieber Rivanon.« Das Lächeln von König Azenor wirkte so befremdlich wie seine Wortwahl, dennoch konnte Noelani sich nicht dagegen wehren, dass sie etwas daran störte. »Ich denke, wir sollten der Maor-Say dankbar sein und ihr vertrauen.«

Noelani entging der rasche Blickwechsel nicht, den der König mit Fürst Rivanon tauschte, während er sprach, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass zwischen seinen Worten noch sehr viel mehr geschrieben stand, als sie heraushören konnte. Es beunruhigte sie, dass die beiden Männer so verschwörerisch taten, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie es war, die hier die Bedingungen stellen konnte. Immerhin wollten die beiden ihre Hilfe. »Bist du auch einverstanden?«, fragte sie den Fürsten.

»Natürlich ist er das«, antwortete König Azenor, ehe Fürst Rivanon etwas sagen konnte. »Wie wir alle ist er froh und glücklich, dass du dich entschieden hast, uns zu helfen. Wenn du Erfolg hast, soll es dein Schaden nicht sein. Sofern es in meiner Macht liegt, werde ich dir und deinem Volk helfen und alles dafür tun, damit ihr fortan in Wohlstand und Frieden leben könnt.«

»Dann ist es also beschlossen«, sagte Noelani abschließend. »Wann brechen wir auf?«

»Noch heute Nachmittag.« Es war General Triffin, der antwortete. »Meine Getreuen haben bereits Anweisung erhalten, die Pferde zu satteln und eine Kutsche bereitzuhalten.« Er schaute Noelani und Jamak an und fügte hinzu: »Ist euch das recht?«

»Sehr!« Noelani schenkte dem General ein Lächeln. Sie hatte schon befürchtet, auf einen dieser hohen Vierbeiner steigen zu müssen, die in Baha-Uddin als Reit- und Lasttiere verwendet wurden, und war froh, dass es eine andere Möglichkeit gab, den Gonwe zu erreichen. »Jamak und ich werden uns nur noch von unseren Leuten verabschieden. Dann können wir aufbrechen.«

*

Vesiw enri Reier lass ackene such Seele Tieren
somnu otan Fests ob Reime talli
dud asse sennem Lofap anuf gune er rund!
T.

»Beim Blute meiner Väter, was ist das für ein Unsinn?« Verwirrt starrte Olufemi den kleinen Zettel an, den er in dem Röhrchen am Bein der Taube gefunden hatte. »Wer immer das geschrieben hat, muss den Verstand verloren haben.«

»Oder er ist besonders klug«, wandte Nuru ein. »Vielleicht verbirgt sich hinter den Worten eine geheime Botschaft.«

»Das werden wir bald wissen.« Olufemi gab den beiden Kriegern, die am Zelteingang Wache hielten, ein Zeichen. »Schafft mir Arkon, den Schmied, und seinen Sklaven unverzüglich hierher!«, befahl er und fügte hinzu: »Nehmt Verstärkung mit und bindet sie. Arkon wird vermutlich versuchen zu entkommen.«

Die Wachen nickten stumm und verließen das Zelt.

»Wie lange geht das schon?«, fragte Olufemi, als die Wachen gegangen waren. Erst jetzt, da Nuru ihm einen Beweis für seinen Verdacht geliefert hatte, schien er sich wirklich dafür zu interessieren, was es mit den Tauben auf sich hatte.

»Wie ich schon sagte: seitdem er zu uns gekommen ist«, erwiderte Nuru. »Allerdings habe ich den Tauben zunächst keine Beachtung geschenkt.«

»So lange schon?« Olufemi stützte sich auf die Tischplatte, auf der die tote Taube lag, und fragte: »Wer ist T.?«

»Vielleicht eine Geliebte.«

»Oder ein Feind.« Olufemi hob die Hand ans Kinn, während er nachdenklich im Zelt auf und ab schritt. »Wenn er die Tauben nach Baha-Uddin geschickt hat, ist unser Plan in großer Gefahr.«

»Das ist gut möglich.« Nuru nickte. Noch nie hatte er Olufemi so beunruhigt erlebt. Der Anführer der Rakschun war dafür bekannt, umsichtig und besonnen aufzutreten. Dass die unerwartete Wendung ihn so mitnahm, zeigte, wie ernst die Lage war. »Ich fürchte aber, er wird es uns nicht sagen.«

»Natürlich nicht. Er ist stumm.« Olufemi blieb vor dem Zelteingang stehen, spähte hinaus und kehrte dann zu Nuru zurück. »Aber er kann es aufschreiben. Und beim Blute meiner Väter, das wird er. Verlass dich drauf.«

Später als erwartet, kehrten die Wachen zurück, den gefesselten Arkon in der Mitte mit sich führend. Einer der Männer hatte eine blutige Lippe, der andere ein geschwollenes Auge. Es war nicht zu übersehen, dass erst das blanke Eisen ihrer Schwerter und die beiden Speerspitzen hinter Arkons Rücken den Schmied hatten dazu bewegen können, ihnen zu folgen.

»Hier ist er!« Während der eine Arkon einen Stoß in den Rücken versetzte, brachte der andere ihn zu Fall, indem er ihm mit dem Fuß die Beine unter dem Leib wegriss. Arkon stürzte wie ein gefällter Baum, schlug auf dem Boden auf und wurde von den beiden wieder so weit in die Höhe gerissen, dass er vor Olufemi kniete.

Ohne Taro auch nur eines Blickes zu würdigen, der hinter Arkon von zwei weiteren Wachen gefesselt ins Zelt geführt worden war, ging Olufemi zu dem Tisch, nahm die Taube zur Hand und warf sie vor Arkon auf den Boden. »Erkennst du sie?«, fragte er knapp.

Arkon gab ein paar gutturale Laute von sich.

»Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst«, sagte Olufemi so ruhig, als plaudere er mit Arkon bei einem Tee über das Wetter. »Das ist auch nicht nötig. Für Ja bewegst du den Kopf auf und ab.« Er deutete die Bewegung an. »Für Nein schüttelst du ihn.« Auch diese Bewegung machte er vor. »Hast du mich verstanden?«

Arkon presste die Lippen fest zusammen und starrte zu Boden. Ohne eine Vorwarnung schoss Olufemis Faust vor und versetzte ihm einen so harten Schlag gegen den Wangenknochen, dass Nuru vor Schreck scharf die Luft durch die Zähne zog. Arkon kippte zur Seite, aber die Wachen hielten ihn und sorgten dafür, dass er nicht umfiel. »Und jetzt?«, fragte Olufemi lauernd. »Hast du mich jetzt verstanden?« Arkon zögerte. Dann nickte er.

»Gut.« Olufemi zog das Wort so in die Länge, dass es wie eine Drohung klang. »Ich frage dich noch einmal. Erkennst du dieses Tier?«

Arkon schüttelte den Kopf und fing sich sogleich den nächsten Fausthieb ein. Seine Lippe platzte auf. Blut tropfte zu Boden, aber niemand kümmerte sich darum. »Erkennst du sie?«, fragte Olufemi noch einmal. Wieder schüttelte Arkon den Kopf. Nuru war sicher, dass Olufemi noch einmal zuschlagen würde, aber dieser seufzte nur und sagte: »Du machst es mir nicht leicht, Schmied.« In aller Ruhe säuberte er seine Hand mit einem Tuch, zog einen Stuhl heran und sagte, an die Wachen gewandt: »Ich fürchte, es dauert etwas länger. Setzt ihn da hin und bindet ihn«, während er gleichzeitig jemandem ein Zeichen gab, der an der Tür wartete. Nuru sah sich um und erschauderte. Der Krieger, der das Zelt betreten hatte, überragte alle anderen um mehr als Haupteslänge, mit Schultern, die so breit und muskelbepackt waren, dass er kaum durch den Eingang passte. Sein Schädel war kahl, die Haut schwarz wie die Nacht. Nuru kannte seinen Namen nicht, aber er ahnte, dass dies Olufemis gefürchteter Leibwächter sein musste, dem man im Lager hinter vorgehaltener Hand entsetzliche Grausamkeiten nachsagte.

»Das ist Aboul«, stellte Olufemi Arkon den hünenhaften Krieger vor. »Du kennst ihn noch nicht, und ich kann dir versprechen, dass du dir wünschen wirst, ihm nie begegnet zu sein, wenn du dich nicht fügsam zeigst.« Er nickte Aboul zu, der sich drohend vor Arkon aufbaute, und ließ sich selbst lässig auf einem Stuhl nieder, ganz so, als ginge ihn der Fortgang des Verhörs nichts mehr an. »Also noch einmal von vorn«, sagte er ruhig. »Die Frage war: Erkennst du dieses Tier?«

Arkon schüttelte den Kopf. Olufemi gab Aboul ein Zeichen, worauf dieser Arkon einen Schlag in die Magengrube versetzte. Der Schmied gab einen keuchenden Schmerzlaut von sich, dachte aber offenbar nicht daran, seine Aussage zu ändern.

»Immer noch nicht?«, fragte Olufemi. Arkon schüttelte den Kopf und zahlte dafür mit weiteren Schmerzen.

Das grausame Verhör nahm kein Ende. Während Olufemi dieselbe Frage wieder und wieder stellte, blieb Arkon ungeachtet der Schmerzen bei seinem Nein. Selbst als Olufemi ihm eröffnete, dass es Zeugen gebe, die ihn mit der Taube gesehen hatten, zeigte Arkon sich weiter verstockt. Auch als Aboul dazu überging, ihm nacheinander die Finger zu brechen, änderte sich das nicht.

Taro hörte die Knochen brechen. Das Geräusch drehte ihm den Magen um, und er wünschte, der Schmied würde endlich die Wahrheit sagen. Er hatte die Taube sofort erkannt, die oft zu Arkon gekommen war, und war sicher, dass Nuru der Zeuge war, von dem Olufemi gesprochen hatte. Arkon musste sich all dessen bewusst sein, aber er blieb beharrlich bei seiner Lüge. Warum? Warum nur? Vielleicht war er tatsächlich ein Spitzel, wie Taro schon vermutet hatte. Vielleicht steckte auch etwas anderes hinter den geheimnisvollen Botschaften. Aber was es auch sein mochte, offenbar ging seine Ergebenheit so weit, dass er sein Leben geben würde, um jene zu schützen, die ihm die Botschaften schickten.

Wieder versetzte Aboul dem störrischen Schmied einen schmetternden Fausthieb, aber diesmal blieb sogar der Schmerzlaut aus. »Er hat die Besinnung verloren«, hörte er Olufemi sagen. »Holt kaltes Wasser. So kommen wir nicht weiter.«

Als das eisige Wasser Arkon aus einem Kübel über den Kopf gegossen wurde, wachte dieser aus der Ohnmacht auf.

Obwohl Taro etwas abseits stand, entging ihm nicht, dass er mehr tot als lebendig war. Zwar hatte er die Augen geöffnet, aber die Bewegungen waren schwach, und sein Blick war so leer, als wäre sein Geist bereits weit fort.

Olufemi kümmerte das nicht. Mit stoischer Ruhe setzte er das Verhör fort, während Abouls Folter weitere grausame Blüten trieb.

Längst waren seine Hände schlüpfrig von Blut, aber der Anblick schien ihn nur noch weiter anzustacheln. Je länger das Verhör andauerte, desto mehr gewann Taro den Eindruck, als hätte der hünenhafte Krieger eine diabolische Freude an den Grausamkeiten.

Schließlich hielt Taro es nicht mehr aus, das Leid des Mannes mit anzusehen, der ihm so viel Gutes getan hatte. »Haltet ein!«, rief er aus. »Ihr bringt ihn ja um.«

Aboul wollte fortfahren, den Schmied zu quälen, aber Olufemi gab ihm mit einem Fingerzeig zu verstehen, dass er aufhören sollte. »Was weißt du, Taro?«, fragte er.

»Ich weiß, dass die Taube öfter zu Arkon geflogen kam«, sagte er wahrheitsgemäß. Im ersten Moment fürchtete er, Arkon könnte wütend auf ihn sein, weil er verriet, was dieser so heldenhaft für sich zu behalten versuchte, aber als er zu Arkon hinüberschaute, sah er, dass der Schmied schon wieder die Besinnung verloren hatte.

»Erzähl uns mehr davon. Hast du gesehen, dass er durch sie Botschaften erhielt?« Olufemi sprach freundlich, aber Taro war sich der Gefahr wohl bewusst, in der er sich befand. Olufemi schien zu wissen, dass die Tauben Botschaften bei sich trugen. Ein falsches Wort, und ihn würde als Arkons Komplize dasselbe Schicksal ereilen. Aber um den Mund zu halten, war es zu spät. Er hatte bereits zu viel gesagt. Niemand würde ihm glauben, dass Arkon ihn nicht in seine Machenschaften eingeweiht hatte. Nun musste er sich etwas einfallen lassen.

»Ja.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte Olufemi. »Du hättest deinem Meister großes Leid erspart.«

»Ich musste ihm versprechen, es niemandem zu verraten.«

»Auch dann nicht, wenn sein Leben in Gefahr ist?«

»Auch dann nicht.«

»Und warum hast du dein Versprechen jetzt gebrochen?«

»Weil ich nicht will, dass er stirbt. Er war immer gut zu mir.« Taro warf Nuru einen unsicheren Blick zu, aber dieser tat, als bemerke er es nicht. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Arkon noch weiterer Schandtaten zu bezichtigen, aber offenbar hatte Nuru kein Interesse daran, Arkon eine Liebschaft mit seinem Sklaven zu unterstellen.

»Komm her, Taro.«

Taro ging langsam auf Olufemi zu. Er hatte Angst, furchtbare Angst. Er wollte nicht wie Arkon enden.

»Was weißt du über Arkon und die Tauben?«, fragte Olufemi in einem fast väterlichen Tonfall.

Taro zögerte. Binnen weniger Herzschläge wog er die Aussicht ab, das Zelt lebend zu verlassen. Dann sagte er: »Ich glaube, er ist verliebt.« Das war eine Lüge. Wer auch immer diese Tauben schickte, eine Frau war es nicht, dessen war Taro sich sicher. Aber es war eine gute Lüge, und er hoffte, dass niemand sie durchschauen würde.

»Verliebt?« Olufemi lachte in gespielter Fröhlichkeit. »Dieser Krüppel? Wie kommst du darauf?«

»Nun, er wirkte immer sehr glücklich, wenn er die Botschaften las«, erwiderte Taro, und diesmal fiel ihm die Lüge nicht schwer.

»Hast du sie gelesen?«, fragte Olufemi lauernd. »Ich weiß, dass du lesen kannst.«

»Nein.« Taro schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nie ansehen dürfen. Er hat sie immer gleich verbrannt.«

»Hat er geantwortet?«

»Ja.«

»Was weißt du noch?«

»Nichts. Das ist alles.« Taro zitterte, weil er fürchtete, nun auch geschlagen zu werden.

»Das ist schade, sehr schade.« Olufemi seufzte, erhob sich und ging zu Arkon, der zusammengesunken und nur von den Fesseln gehalten auf dem Stuhl saß. »Da werden wir ihn wohl wecken und ihm noch ein paar Fragen stellen müssen.« Er griff dem Schmied in die Haare und bog den Kopf nach hinten. Arkons Gesicht war blutverschmiert und von unzähligen Platzwunden verunstaltet. Die geschwollenen Augen waren nur halb geschlossen. Aus den Mundwinkeln floss Blut. »Verdammt.«

»Was ist mit ihm?« Die Frage rutschte Taro heraus, bevor er sie zurückhalten konnte. Aber Olufemi schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Schafft ihn raus!«, wies er die Krieger an, die Arkon ins Zelt geführt hatten. »Er ist tot!«

»Tot?« Fassungslos starrte Taro auf den Schmied. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Arkon hatte schlimme Misshandlungen erfahren, aber davon starb ein so starker Mann doch nicht. Jedenfalls nicht so schnell. Bestürzt beobachtete er, wie die Krieger Arkon losbanden und den leblosen Körper aus dem Zelt schleiften.

»Bist du von Sinnen?«, hörte er Olufemi neben sich ausrufen. »Du solltest ihn foltern, aber nicht töten.«

»Ich habe es wie immer gemacht, Herr«, sagte Aboul kleinlaut. »Bisher ist noch keiner davon gestorben.«

»Dann bist du diesmal wohl zu weit gegangen.« Olufemi war außer sich. »Meinst du, ich mache das hier zum Spaß?«, herrschte er seinen Leibwächter an. »Er war wichtig. Und du Narr bringst ihn einfach um.«

»Er hätte nichts gesagt«, wagte Aboul einzuwenden. »Jeder andere hätte längst gestanden. Auch wenn es nicht die Wahrheit gewesen wäre. Wer so lange durchhält, dem entlockt man nichts.«

»Ach, wie auch immer. Es ist vorbei. Jetzt kann er nichts mehr sagen.« Olufemi machte eine wegwerfende Handbewegung, schaute Taro von der Seite an und sagte: »Jetzt haben wir nur noch dich.«

»Mich!« Taro schluckte trocken. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er spürte, wie seine Knie weich wurden. Was hatte Olufemi vor? »Aber ich habe alles gesagt, was ich weiß.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Komm her.« Olufemi nahm ein kleines Pergament zur Hand und hielt es so ins Licht, dass Taro sehen konnte, was darauf geschrieben stand. »Diese Botschaft trug die Taube bei sich«, sagte er. »Ich will wissen, was sie zu bedeuten hat. Arkon ist tot, du bist niemandem mehr verpflichtet. Ich mache dir ein Angebot, Taro. Wenn du mir sagen kannst, was das hier bedeutet, lasse ich dich frei. Dann kannst du gehen, wohin du willst. Niemand wird mehr über dich bestimmen.«

»Frei?« Taro starrte Olufemi fassungslos an. Nach Arkons Foltertod hatte er mit allem gerechnet. Damit nicht. »Wirklich?«

»Habe ich je mein Wort gebrochen?«

Taro verzichtete auf eine Antwort, stattdessen starrte er den Zettel an und begann zu lesen:

Vesiw enri Reier lass ackene such Seele Tieren
somnu otan Fests ob Reime talli
dud asse sennem Lofap anuf gune er rund!
T.

Der Text ergab keinen Sinn, und doch wusste er sofort, was zwischen den Zeilen geschrieben stand: Verlasst sofort das Lager! Die wahre Botschaft tauchte in seinen Gedanken auf, ohne dass er darüber nachdenken musste. Aber das war nicht das Einzige, was in diesem kurzen Augenblick in ihm vorging. Es war unglaublich. Ein Wunder. Als hätte das Lesen einen Vorhang gehoben, konnte er mit Gewissheit sagen, von wem die Nachricht stammte: General Triffin.

Triffin!

Der Name löste eine wahre Flut von Bildern in ihm aus, die mit der Wucht eines Sturms über ihn kamen und ihm mit einem Schlag alle Erinnerungen zurückgaben, die er verloren glaubte.

Alle Träume und Visionen, die ihn in den vergangenen Monaten heimgesucht hatten, ergaben plötzlich einen Sinn und rückten wie von selbst an ihren angestammten Platz. Die schöne junge Frau in dem Garten, die er so sehr geliebt hatte und die dann doch einen anderen für sich erwählte. Sein Vater, streng und unnachgiebig, und General Triffin …

In Gedanken stand Kavan wieder auf der Brustwehr des inneren Rings aus hölzernen Palisaden und starrte auf die brennende Festung. Über das Knistern und Fauchen der Flammen hinweg lauschte er dem Klirren der Waffen und den Todesschreien seiner Krieger. Die Gewissheit, versagt zu haben, und das Wissen darum, dass sein Vater einen Rückzug niemals dulden würde, bewegten seine Gedanken.

Seine Hand zitterte, als er unter sein Gewand griff, um den Dolch hervorzuholen, der sein Leben im Falle einer Niederlage beenden sollte. Er wusste, was sein Vater von ihm erwartete, wusste, dass er es tun musste. Jetzt. Sofort.

Aber er konnte es nicht.

»Mein Prinz!« Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er drehte sich um und erblickte General Triffin. »Wir können die Festung nicht länger halten, wir müssen uns zurückziehen.«

»Rückzug?« Taro hörte seine eigene Stimme hell und schrill in Gedanken. »Du kennst die Befehle. Von einem Rückzug ist darin nicht die Rede. Die Brücke muss gehalten werden. Ich muss dir nicht sagen, wie wichtig sie ist. Deshalb wird die Festung verteidigt. Bis zum letzten Mann – verstanden? Jetzt verschwinde und …« Das Letzte, was er sah, war Triffins Gesicht, das zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt schien. »Vergebt mir, mein Prinz«, hörte er den General murmeln, dann traf ihn ein wuchtiger Schlag am Kopf und ließ das Bild vor seinen Augen erlöschen.

Ich bin nicht Taro! Und ich bin kein Sklave!

Ich bin Prinz Kavan von Baha-Uddin!

Die Erkenntnis drohte ihm den Boden unter den Füßen fortzureißen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken schnell und ungeordnet umher. Träume und Visionen, die er in den vergangenen Wochen und Monaten gehabt hatte, bekamen plötzlich einen Sinn und fanden nahtlos ihren Platz in seinen Erinnerungen, während er gleichzeitig versuchte, seine Lage und mögliche Gefahren abzuschätzen.

Ich bin Prinz Kavan von Baha-Uddin, und ich stehe hier inmitten meiner Feinde, die nicht wissen, wer ich bin. Der Gedanke trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Angestrengt starrte er auf das Pergament, in der Hoffnung, dass Olufemi nichts von dem spürte, was in ihm vorging. Die Botschaft stammte ohne Zweifel von General Triffin. Es war eine Warnung. Offenbar hatte Arkon für Triffin gearbeitet. Vielleicht war er einer von ihnen gewesen und hatte ihn als den Prinzen erkannt. Das würde auch erklären, warum er seinen Sklaven so zuvorkommend behandelt hatte.

»Und? Kannst du es lesen?« Olufemi klang ungeduldig. Taro wusste, dass er etwas antworten musste, etwas Kluges, was den Anführer der Rakschun zufriedenstellen und zu seiner Lügengeschichte von Arkons heimlicher Liebe passen würde. Einen anderen Code als den der Anfangsbuchstaben, den man bei den Truppen von Baha-Uddin verwendete. Einen Code, der ihm einen brauchbaren Satz und eine gute Erklärung dazu liefern würde. Nur welchen? Verbissen starrte er auf die Zeilen, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden …

6

Die Sonne hatte den Zenit gerade überschritten, als die kleine Gruppe auf dem Innenhof des Palastes die letzten Vorbereitungen für die Abreise traf. General Triffin und zwei weitere Krieger hatten ihre Pferde gesattelt und Proviant für zwei Tage in den Packtaschen am Sattel verstaut.

Für Noelani und Jamak stand ein vierspänniger Planwagen bereit, der von einem weiteren Krieger geführt wurde. Auf der Ladefläche türmten sich Kisten mit Pfeilspitzen, Körbe mit Arznei und Heilkräutern und allerlei Gerätschaften, Dinge, die man im Heerlager schon sehnlichst erwartete.

Jamak und Noelani hatten nur wenig Gepäck. Noelani war froh, dass sie die weite Reise nicht in den abgetragenen und schlecht sitzenden Kleidern antreten mussten, die sie auf dem Schiff erhalten hatten. Auch hier hatte König Azenor sich großzügig gezeigt und ihnen warme Reisekleidung zukommen lassen, denn obwohl die Sonne schien, war es sehr kalt, und man erwartete Frost für die Nächte.

Die dicke, mit weißem Fell besetzte Jacke aus dunkelbraunem Leder fühlte sich für Noelani ungewohnt an. Auf Nintau war es das ganze Jahr über warm gewesen, selbst in der Regenzeit, und sie war es nicht gewohnt, Fellkleidung zu tragen. Obwohl sie warm und ihr Nutzen unverkennbar war, fühlte Noelani sich wie in einem Panzer, der sie schwer und unbeweglich machte, und wünschte sich nichts sehnlicher, als die lästigen Kleidungsstücke bald wieder ablegen zu können.

Jamak, der neben ihr auf dem Kutschbock saß, schien ähnliche Gedanken zu hegen. Noelani sah, wie er den Kopf unwillig hin und her bewegte, weil der Fellbesatz der Jacke ihn am Kinn kitzelte. Arme und Schultern bewegte er immer wieder auf eine Weise, als müsse er sich vergewissern, dass dies überhaupt noch möglich war. Wie Noelani hatte er sich geweigert, die Fellmütze mit den Ohrenklappen aufzusetzen und die warm gefütterten Handschuhe anzuziehen. Beides lag zusammen mit Noelanis Handschuhen und ihrer Mütze unbeachtet hinter ihm auf dem Wagen.

General Triffin und die drei Krieger hingegen schienen sich in der dicken Kleidung durchaus wohlzufühlen. Noelani beobachtete staunend, wie geschickt sie sich in die Sättel schwangen und die nervös tänzelnden Pferde ruhig hielten. Alles schien bereit zu sein, aber noch gab General Triffin nicht den Befehl zum Aufbruch.

»Warum geht es nicht los?«, richtete sie eine Frage an Jamak.

»Darum.« Er deutete mit der ausgestreckten Hand zum Palast hinüber, wo König Azenor und Fürst Rivanon gerade mit einem Gefolge von zehn vornehm gekleideten Ratsmitgliedern die breite Treppe zum Hofplatz hinunterstiegen. »Offenbar lässt es sich der König nicht nehmen, dir persönlich gute Wünsche mit auf den Weg zu geben.«

Wenige Augenblicke später war die Gruppe bei den Reisenden angekommen. Während die Mitglieder des Rates respektvoll Abstand hielten, traten der König und Fürst Rivanon vor. »Verehrte Maor-Say«, hob der König an und schenkte Noelani ein strahlendes Lächeln. »Im Namen des Volkes von Baha-Uddin spreche ich Euch meinen tief empfundenen Dank aus für das, was Ihr für uns auf Euch nehmen wollt. Mögen die Götter schützend die Hand über Euch halten, auf dass Eure mutige Tat von Erfolg gekrönt sein wird.«

»Danke. Ich werde tun, was in meiner Macht steht.« Noelani nickte dem König zu.

»Mein König, wir sind bereit.« General Triffin lenkte sein Pferd um den Planwagen herum. »Wenn die Sonne ein drittes Mal aufgeht, werde ich Mael durch seinen Sohn eine Taube mit der Nachricht des Sieges schicken lassen.«

»Ich zähle auf dich, mein lieber Triffin. Diese Tauben sind wirklich bemerkenswert. Wir hätten sie schon viel früher für das Heer verwenden sollen.« Der König bedachte auch den General mit einem Lächeln. Etwas daran war anders, das erkannte Noelani sofort – und erhielt auch gleich die Bestätigung dafür. »Allerdings hat sich über Nacht noch eine kleine Änderung in unserem Plan ergeben.« Er wandte sich Fürst Rivanon zu und sagte: »Der Fürst wird euch begleiten. Er hat von mir persönlich das Kommando über den Einsatz der Kristalle erhalten.«

»Aber …?« General Triffin war über die Wendung so überrascht, dass ihm die Worte fehlten.

»Ja, ich weiß, gestern habe ich dir das Kommando übergeben. Aus heutiger Sicht erscheint mir das allerdings etwas übereilt. Oder hast du ein Problem damit, dass ich meine Meinung geändert habe?«, fragte Azenor lauernd.

»Nein, Majestät. Nein.« Die Antwort kam ein wenig zu hastig, um ehrlich zu klingen. Triffin schien das selbst zu spüren und fügte schnell hinzu: »Es … es ist nur so, dass Fürst Rivanon noch keinerlei Erfahrung im Kämpfen und im Umgang mit den Rakschun hat.«

»Nun, wenn alles wie geplant abläuft, ist das wohl auch nicht nötig«, erwiderte der König. »Wenn ich mich recht entsinne, handelt es sich um einen geheimen nächtlichen Einsatz, der beendet sein wird, ehe auch nur ein Rakschun bemerkt, was vor sich geht.«

»Im Krieg verläuft nur selten etwas so, wie es geplant war«, gab Triffin zu bedenken. »Wenn etwas schiefgeht …«

»Ich bin mir der Gefahren sehr wohl bewusst, General«, fiel Rivanon Triffin scharf ins Wort. »Der König vertraut mir. Also sag mir nicht, was ich nicht tun soll.«

»Die Sorge um das Wohlergehen des Fürsten ehrt dich, General«, mischte der König sich wieder in das Gespräch ein. »Aber ich habe mich entschieden. Rivanon wird den Angriff leiten. Das ist mein letztes Wort.« Er griff unter seinen Umhang und zog ein zusammengerolltes Pergament darunter hervor. »Hier sind meine Befehle«, sagte er. »Nur für den Fall, dass auch am Gonwe jemand Bedenken hegt.«

»Mein König!« Triffin nahm die Rolle entgegen, verneigte sich ehrerbietend und steckte sie in seine Packtasche. Es war nicht zu übersehen, wie sehr ihm die neuerliche Entwicklung missfiel, aber er fügte sich.

Rivanon stieß einen Pfiff aus und gab jemandem ein Zeichen, den Noelani nicht sehen konnte. Gleich darauf war das Klappern von Hufen zu hören, als ein Page das fertig gesattelte Pferd des Fürsten am Zügel herbeiführte. Rivanon saß auf, grinste und sagte: »Also, worauf warten wir noch? Lasst uns losreiten und den Krieg gewinnen.« Er reckte die Faust in die Höhe und rief »Für Baha-Uddin! Lang lebe König Azenor!« Bei diesen Worten ließ er sein Pferd mit wirbelnden Vorderhufen steigen; dann setzte er sich so selbstverständlich an die Spitze des Zuges, als hätte der König ihm auch dafür das Kommando übertragen.

Als die Gruppe das Palastgelände verlassen hatte und der Hufschlag verklungen war, verließen auch der König und sein Gefolge aus Ratsmitgliedern den Hofplatz. Während jeder einem anderen Ziel zustrebte, suchte einer der Männer die Nähe des Königs. »Auf ein Wort noch, mein König«, sagte er.

»Was gibt es?« Azenor blieb stehen und schaute sein Gegenüber mit einer Mischung aus Gleichmut und Langeweile an.

»Stimmt es, dass diese Maor-Say nur die Flöße und die Waffen der Rakschun in Stein verwandeln soll?«

»Das zu tun, ist sie losgezogen.« Azenor nickte.

»Aber das genügt nicht. Um den Krieg zu gewinnen, müssten auch die Rakschun selbst …«

»Beruhige dich, mein Freund.« Azenor lächelte und legte dem Mann in einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. »Fürst Rivanon trug sich am Abend mit denselben Befürchtungen, und auch ich bin da ganz bei euch.«

»Dennoch habt Ihr dem Plan zugestimmt.«

»Vordergründig ja.« Azenors Lächeln wurde eine Spur breiter. »Aber nur, weil die Maor-Say sonst niemals zum Gonwe aufgebrochen wäre. Sie ahnt es nicht, aber Rivanon hat seine ganz eigenen Befehle. Er ist es, der den wahren Sieg für uns erringen wird. Sei also unbesorgt. Wenn die Sonne zum dritten Mal aufgeht, wird unser Sieg über die Rakschun vollkommen sein.«

*

Vesiw enri Reier lass ackene such Seele Tieren
somnu otan Fests ob Reime talli
dud asse sennem Lofap anuf gune er rund!

Prinz Kavans Lippen bewegten sich leicht, als er die Zeilen überflog. Er glaubte sich zu erinnern, dass in dem Geheimkodex eine Sicherung eingebaut war, aber anders als der Kodex selbst dauerte es eine Weile, bis er sich wieder daran erinnerte. Dann fiel es ihm wieder ein. Die Endbuchstaben!

Das war es. Der Text des Kodex wurde meistens so verfasst, dass jeweils die Anfangs- und Endbuchstaben einen sinnvollen Satz ergaben, wobei die Botschaft selbst sich hinter den Anfangsbuchstaben verbarg. Als Befehlshaber der Truppen hatte Kavan sich nie die Mühe gemacht, die Endbuchstaben zu entziffern, diesmal jedoch war es seine Rettung.

»Wir … sehen … uns … bei … dem … Pferd«, las er stockend, nickte und sagte: »Ja, es stimmt. Scheinbar ist es wirklich die Botschaft für eine geheime Verabredung.«

»Wo steht das?« Olufemi nahm ihm das Pergament aus der Hand und schaute es prüfend an. »Ich sehe nichts.«

»Es ist nicht sofort zu erkennen, aber eigentlich ganz einfach. Man muss die letzten Buchstaben der Wörter zusammensetzen«, erklärte Kavan dem Heerführer. Nun war er froh, dass er von Arkons Verhältnis zu einer Frau gesprochen hatte, obwohl er davon nichts wusste und das nur so dahingesagt hatte, um Arkon weitere Folter zu ersparen. Der Text passte vollkommen dazu. »Wie es scheint, hatte Arkon tatsächlich eine Liebschaft.«

»Du hast recht. Es geht hier offenbar tatsächlich nur um eine Verabredung.« Olufemi zerknüllte das Pergament und warf es auf den Boden. »Warum hat er das nicht gesagt? Das hätte ihm das Leben gerettet.«

»Vermutlich wollte er die Frau schützen.«

»Schützen? Eine Frau?« Olufemi schüttelte den Kopf. »Wir haben hier so viele Frauen. Warum sollte er das tun?«

»Vielleicht hat er sie geliebt«, meinte Kavan schulterzuckend.

»So sehr, dass er dafür in den Tod geht?« Olufemi gab ein verächtliches Lachen von sich. »Welch ein Narr.« Dann seufzte er und wechselte das Thema. »Nun, wie auch immer. Arkon ist tot, daran können wir nichts ändern. Immerhin wissen wir jetzt, dass er kein Spitzel war und der Angriff wie geplant stattfinden kann.« Er setzte sich, griff nach dem Weinkrug und nahm daraus einen großen Schluck. Kavan sah, wie Nuru das Zelt verließ, zögerte aber, es ihm gleichzutun.

»Was ist?«, fragte Olufemi unwirsch. »Worauf wartest du? Ich halte mein Wort. Du bist frei. Du kannst gehen, wohin du willst.«

»Ich habe noch eine Frage.« Kavan hatte große Schwierigkeiten, sich unauffällig zu verhalten. Jetzt, da er um seine Vergangenheit wusste, war die Furcht vor den Rakschun allgegenwärtig, obwohl er schon mehr als ein halbes Jahr unerkannt unter ihnen lebte.

»Dann frag. Aber fass dich kurz.« Es war offensichtlich, dass Olufemi sich gedanklich bereits mit anderen Dingen beschäftigte.

»Ihr wisst, dass ich mein Gedächtnis verloren habe. Deshalb möchte ich wissen, wie ich damals zu Euch gekommen bin.«

»Na, wie schon?«, knurrte Olufemi. »Wie alle Sklaven zu uns kommen. Ich habe dich bei einem Händler erworben. Er sagte, er hätte dich aufgegriffen, als du halb nackt und verwirrt am Ufer des Gonwe herumgeirrt bist. Das hat mir gefallen. Ein Sklave, der sich nicht an seine Heimat und an seine Familie erinnern kann, hegt keine Fluchtgedanken.« Er schaute Kavan von der Seite her an und fügte hinzu: »Falls du gehofft hast, dass ich dir etwas über deine Vergangenheit sagen kann, muss ich dich enttäuschen. Jetzt verschwinde. Ich habe nicht ewig Zeit.«

»Danke, Herr!« Kavan verneigte sich, wie es sich für einen Sklaven geziemte, und verließ das Zelt. An den Händler und daran, wie er zu Olufemi gekommen war, konnte er sich kaum noch erinnern. Aber was er eben gehört hatte, brachte Licht in die dunkle Stelle, die sich in seinen Erinnerungen auftat.

General Triffin hatte ihn niedergeschlagen, weil er sich geweigert hatte, den Rückzug zu befehlen. Vermutlich hatte Triffin ihn für tot gehalten und dann selbst den Rückzug befohlen. Die Festung war gefallen und die Brücke gesprengt worden.

Er musste irgendwann erwacht sein und sich aus den Trümmern der Festung geschleppt haben. Vielleicht hatte er noch einen Rest Verstand behalten oder auch nur instinktiv gehandelt, als er sich der Rüstung des Thronfolgers von Baha-Uddin entledigt hatte. Auf jeden Fall schien ihn niemand gesehen und erkannt zu haben, bis der Sklavenhändler ihn irgendwo am Ufer des Gonwe aufgelesen und als sein Eigentum mitgenommen hatte.

Kavan seufzte. Seine eigenen Erinnerungen hatten erst in Olufemis Zelt wieder eingesetzt. Es war unfassbar. Ein halbes Jahr lang hatte er in dem Glauben, ein Sklave zu sein, mitten unter seinen Todfeinden gelebt, und obwohl die Vergangenheit ihn nun mit Macht eingeholt hatte, war es unendlich schwer für ihn, die Persönlichkeit des Sklaven Taro abzulegen und wieder Prinz Kavan zu sein.

Ohne dass er es vorhatte, führten seine Schritte ihn zurück zu Arkons Zelt. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, dass er eine von Arkons Tauben verwenden könnte, um die Menschen in Baha-Uddin vor dem bevorstehenden Angriff der Rakschun zu warnen und gleichzeitig die Nachricht, selbst noch am Leben zu sein, an seinen Vater zu senden. Aber dann fiel ihm ein, dass Arkon das sicher schon alles getan hatte. Zudem stürzte ihn der Gedanke an seinen Vater, den er so sehr geliebt, gehasst und gefürchtet hatte, in ein solches Gefühlschaos, dass er am Ende froh war, keine einzige Taube im Zelt vorzufinden.

Ich muss nachdenken, dachte er bei sich. Ich muss allein sein. Ich habe lange bei den Feinden meines Volkes gelebt. Ich kenne ihre Geschichte und sie selbst besser als irgendjemand anders in Baha-Uddin. Als ihr Sklave Taro habe ich sie nicht lieben gelernt, aber ich kann sie auch nicht mehr hassen, so wie Prinz Kavan es einst getan hat. Zu viel ist geschehen, als dass ich einfach in die Heimat zurückkehren und mein altes Leben wieder aufnehmen könnte.

Diese und andere Gedanken bewegten ihn, als er seine wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, um das Heerlager zu verlassen. Er hatte kein Ziel, wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er wusste nur, dass er nicht im Lager bleiben konnte. Was immer Triffin vorhatte, die Warnung war eindeutig gewesen.

Verlasst sofort das Lager!

Neben warmen Decken, Proviant und Werkzeug zum Feuermachen fanden auch einige Waffen, die Arkon gehört hatten, den Weg in sein Bündel. Am Ende stand er abmarschbereit und schwer beladen in dem Rundzelt und schaute sich ein letztes Mal um.

»Du gehst?«

Kavan wirbelte herum und sah Nuru im Zelteingang stehen »Warum nicht? Ich bin frei«, sagte er ruhig.

»Wohin?«

»Irgendwohin.« Kavan zog die Schultern in die Höhe. »Ich kenne meine Heimat nicht und weiß nicht, wo meine Familie lebt. Irgendwo werde ich schon eine neue Heimat finden.«

»Oder dem nächsten Sklavenhändler begegnen.« Nuru grinste. »Gib acht, Taro. Sonst sehen wir uns schneller wieder, als dir lieb ist.«

»Das glaube ich kaum.« Taro machte einen Schritt auf den Schmied zu. »Diesmal bin ich vorsichtig. Und jetzt lass mich vorbei. Da draußen wartet die Freiheit auf mich.« Mit diesen Worten zwängte er sich an dem Schmied vorbei und verließ das Lager in Richtung Norden, dorthin, wo der Gonwe nicht nur die beiden Landesteile Baha-Uddins, sondern auch die verfeindeten Heere voneinander trennte.

*

Am späten Abend des zweiten Tages, nachdem die kleine Gruppe unter General Triffins Führung die Hauptstadt Baha-Uddins verlassen hatte, entdeckte Noelani in der Ferne einen feurigen Widerschein, der nur von den Lagerfeuern der beiden Heerlager stammen konnte.