Way, Camilla Das Böse in ihr

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Aus dem Englischen von Pociao

 

© Camilla Way 2018
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Lies We Told«, HarperCollins UK, London 2018
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
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in whole or in part in any form.
Redaktion: Christine Neumann
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Shutterstock.com

 

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1 – Anfangs erkannte ich …

Cambridgeshire 1986

Anfangs erkannte ich den abgetrennten Kopf gar nicht. Als ich näher kam, ging mir auf, dass es Lucy war. Ich hielt das knallgelbe Knäuel auf meinem weißen Kopfkissen zunächst für eine achtlos weggeworfene Socke oder ein zerknülltes Taschentuch. Doch als ich dicht davorstand und den feinen Federschopf mit dem winzigen, stummen Schnabel sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In diesem Moment wurde mir alles klar, und ich verstand noch vieles andere mehr.

»Hannah?«, flüsterte ich. Im Korridor hinter meiner Zimmertür knarzte eine Diele. Mir sträubten sich die Haare. »Hannah?«, fragte ich ein wenig lauter, mit derselben, vor Schreck zitternden Stimme. »Bist du das?« Ich erhielt keine Antwort, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie da war, irgendwo in der Nähe. Ich spürte, wie sie wartete, wie sie lauschte.

Ich wollte das Köpfchen meines kleinen Vogels nicht berühren, konnte es kaum ertragen, das dünne braune Rinnsal von geronnenem Blut anzusehen, wo der Kopf fein säuberlich vom Rumpf getrennt worden war, die halb offenen, leblosen Augen. Ich fragte mich, ob er noch lebendig oder schon tot gewesen war, als es passierte, und dann wurde mir plötzlich übel.

Als ich Hannahs Zimmer betrat, stand sie am Fenster und blickte hinunter in den Garten. Ich sagte ihren Namen. Sie drehte sich um und schaute mich an, ihre schönen dunklen Augen waren finster, und auf ihren Lippen lag der Hauch eines Lächelns. »Ja, Mummy?«, sagte sie. »Ist was?«

2 – Clara wachte vom …

London 2017

Clara wachte vom Rauschen des Regens auf, in der Ferne heulte eine Sirene durch die Old Street, und aus den Lautsprechern ihrer Nachbarin kam das gleichmäßige, dumpfe Dröhnen der Bässe. Sie wusste instinktiv, dass Luke nicht zu Hause war – nicht nur nicht in ihrem gemeinsamen Bett, sondern auch nicht in der Wohnung. Einen Moment lag sie da und starrte in die Dunkelheit, dann griff sie nach ihrem Handy, 4:12 Uhr. Keine verpassten Anrufe, keine SMS. Durch einen Spalt im Vorhang sah sie im grellen Licht der orangefarbenen Straßenlaterne, wie der Regen fiel. Im nächsten Moment erklang unter ihrem Fenster am Hoxton Square das schallende Gelächter einer Frau, gefolgt von dem unregelmäßigen Klacken ihrer High Heels.

Eine weitere Stunde verging, ehe sie den Versuch aufgab, wieder einzuschlafen. Hinter der Tür des Schlafzimmers sickerte das erste blaue Licht in die dunklen Ecken der Wohnung, die Möbel um sie herum nahmen allmählich Kontur an, ihre Farben und Umrisse tauchten auf wie Schiffe aus der Dunkelheit. Die Bars und Nachtclubs im Viertel waren unterdessen verstummt, die letzten Nachzügler lange verschwunden. Bald würden Wasser und Besen der Kehrmaschinen die Nacht wegspülen, die Menschen aus ihren Häusern kommen, auf dem Weg zu Bussen und Zügen; der Tag würde beginnen.

Über ihr dröhnte noch immer der monotone Rhythmus, als sie in ihre Steppdecke gehüllt auf der Couch saß und auf ihr Handy starrte. Mehrere Erwägungen schossen ihr durch den Kopf. Sie hatten gestern während der Arbeit keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden, und sie hatte das Büro verlassen, ohne ihn nach seinen Plänen zu fragen. Später hatte sie sich mit einer Freundin auf einen Drink getroffen, ehe sie früh ins Bett gegangen war, in der Annahme, er käme bald nach Hause. Ob sie ihn jetzt anrufen sollte? Sie zögerte. Sie waren erst vor einem guten halben Jahr zusammengezogen, und sie wollte nicht diese Art von Freundin sein – eine, die an ihm herumnörgelte, Aufmerksamkeit erwartete, Ansprüche stellte und Ausgangssperren verhängte. So funktionierten die Dinge zwischen ihnen nicht. Er war ausgegangen, um sich zu amüsieren. Keine große Sache. Es war schließlich nicht das erste Mal – aus einem Drink waren mehrere geworden, und am Ende hatte er seinen Rausch auf der Couch eines Freundes ausgeschlafen.

Trotzdem war es seltsam, oder? Dass er nicht mal eine SMS geschickt hatte – nachdem er einfach nicht nach Hause gekommen war.

Erst als sie unter der Dusche stand, erinnerte sie sich, wie bedeutsam dieser Tag für ihn war. Mittwoch, der Sechsundzwanzigste. Lukes Termin mit dem Personalchef. Als ihr das einfiel, erstarrte sie mit der Shampooflasche in der Hand. Heute war der Tag für das Gespräch, bei dem es um seine Beförderung gehen sollte. Er hatte sich seit Wochen darauf vorbereitet; vor einem so wichtigen Termin hätte er bestimmt nicht die ganze Nacht durchgemacht. Hastig drehte sie das Wasser ab, wickelte sich in ein Handtuch und ging zurück ins Wohnzimmer, um ihn anzurufen. Sie klickte seine Nummer an und wartete ungeduldig auf den Klingelton. Da hörte sie ein vibrierendes Brummen unter dem Sofa. Sie ging in die Hocke und sah nach. Das Gerät lag einsam und verlassen auf dem staubigen Boden, Lukes Handy. »Mist«, sagte sie laut. Überraschenderweise brach genau in diesem Moment das Dröhnen der Bässe über ihr ab.

Sie öffnete ihren E-Mail-Account. Da war tatsächlich eine Nachricht von Luke, gestern Abend um 18:23 Uhr von seiner Büroadresse abgeschickt.

Hallo, Liebling, hab wieder mal mein Handy zu Hause vergessen. Ich bleibe noch etwas im Büro und bereite mich auf das Gespräch morgen vor, wahrscheinlich bis gegen acht, danach komme ich nach Hause – will zeitig ins Bett wegen morgen. Du bist mit Zoe unterwegs, stimmt’s? Bis später, Lx

 

Eine Stunde später, als sie die Old Street entlangging, ermahnte sie sich, Ruhe zu bewahren. Er hatte es sich anders überlegt, sonst nichts. Hatte beschlossen, mit seinem Team ein Bier trinken zu gehen, und dann die Nacht durchgemacht. Er konnte ihr nicht Bescheid geben, weil er sein Handy nicht dabeihatte – so einfach war das. Sie würde ihn gleich im Büro treffen, verkatert und verlegen, voller Entschuldigungen. Aber warum war ihr so flau im Magen? Unter dem Aprilhimmel, der so grau und klamm wie alter Kaugummi war, ging sie die hässliche Durchgangsstraße entlang, auf der sich der Verkehr bereits staute. Am Rondell vor ihr türmten sich wuchtige Gebäude auf. Auf den breiten Gehwegen drängten sich Passanten mit Kaffeebechern in der Hand und Stöpseln im Ohr, die abwesend auf ihre Handys starrten und wie ein einziger Strom auf den weiß gefliesten Eingang der U-Bahn-Station zueilten, um sich verschlucken, hindurchschleudern und am anderen Ende wieder ausspucken zu lassen.

Das Gebäude der Verlagsgruppe, in dem sie beide arbeiteten, lag im Zentrum von Soho. Hier hatten sie sich vor drei Jahren kennengelernt, obwohl sie für verschiedene Zeitschriften arbeiteten – sie schrieb für ein Finanzblatt, er war Redakteur eines vierteljährlich erscheinenden Architekturmagazins –, und sich füreinander entschieden.

Es war ihr erster Tag bei Brindle Press gewesen, und da sie bemüht war, einen guten Eindruck zu machen, hatte sie angeboten, die erste Teerunde auszutragen. Nervös überflog sie die Namen, goss Wasser über die Teebeutel und rührte Milch und Zucker hinein, bevor sie viel zu viele Tassen auf das Tablett stellte und hastig die Küche verließ. Als ihr das Tablett aus den Händen rutschte und polternd auf dem Boden landete, gab es eine richtige Schweinerei: überall verstreute Scherben, zerbrochenes Geschirr, dampfende braune Flüssigkeit, das Kleid, das sie so sorgfältig für ihren ersten Arbeitstag ausgesucht hatte, völlig durchnässt.

Scheiße, Scheiße, Scheiße. Erst als sie aufschaute, sah sie ihn – einen hochgewachsenen, gut aussehenden Mann, der sie von der Tür aus belustigt beobachtete. »Hoppla«, sagte er und bückte sich, um ihr zu helfen.

»Mein Gott, bin ich ein Trampel«, stöhnte sie.

Er lachte. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Dann setzte er hinzu: »Ich bin Luke.«

Am Abend, als ihr Team sie zu einem Willkommenstrunk ausführte, entdeckte sie ihn an der Theke der Bar, und als sich ihre Blicke trafen, schlug ihr Herz plötzlich schneller, seine dunklen Augen nahmen sie gefangen, als hätte er die Hand ausgestreckt und hielte sie fest.

Als sie jetzt auf ihren Schreibtisch zuging, klingelte das Telefon. Der Ton wies auf einen internen Anruf hin, und sie griff hastig nach dem Hörer. »Luke?«

Doch es war seine Kollegin Lauren. »Clara? Wo zum Teufel steckt er?«

Sie spürte, wie sie errötete. »Keine Ahnung.«

Es folgte eine kurze überraschte Pause. »Okay. Heißt das, du hast ihn heute Morgen nicht gesehen?«

»Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen«, murmelte sie.

Es folgte erneut eine Pause, in der Lauren ihre Worte verdaute. »Hm.« Und dann hörte sie, wie sie zu jemandem, der neben ihr stand, sagte: »Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen!« Ein Durcheinander von männlichem Gelächter und Kommentaren erhob sich, die sie nicht verstand, doch der Tonfall war eindeutig: Was für ein cooler Hund, dieser Luke. Sie rissen Witze, das wusste sie, und ihr Gelächter beruhigte sie irgendwie, denn es bedeutete, dass sie sich keine Sorgen machten. Trotzdem umklammerte sie den Hörer, bis Lauren sich wieder ihr zuwandte. »Na ja, mach dir mal keine Sorgen. Der Blödmann liegt wahrscheinlich leblos in irgendeiner Gosse«, sagte sie fröhlich. »Wenn du ihn siehst, sag ihm, dass Charlie tobt, weil er jetzt die Titelbesprechung verpasst hat. Bis später, okay?« Dann legte sie auf.

Vielleicht sollte sie seine Kontaktliste auf dem Handy durchgehen und seine Freunde anrufen. Aber was, wenn er dann später wiederkam? Es wäre ihm oberpeinlich, dass sie so einen Aufruhr veranstaltet hatte. Und früher oder später würde er sicher wieder auftauchen – letzten Endes taten das ja alle Leute.

Plötzlich sah Clara das Gesicht seines besten Freundes Joe McKenzie vor sich, und zum ersten Mal spürte sie einen Anflug von Zuversicht. Mac. Er würde wissen, was sie tun sollte. Sie nahm ihr Handy und lief in den Gang hinaus, um ihn anzurufen, und als sie seinen vertrauten Glasgower Dialekt hörte, atmete sie erleichtert auf.

»Clara? Wie geht’s?«

Sie stellte sich Macs blasses, ernstes Gesicht vor, die kleinen braunen Augen, die abwesend unter seinem dichten schwarzen Haarschopf hervorlugten.

»Hast du Luke gesehen?«, fragte sie.

»Eine Sekunde.« Im Hintergrund dröhnten The White Stripes, während sie ungeduldig wartete und sich vorstellte, wie er sich einen Weg durch das Durcheinander in seinem Fotoatelier bahnte, ehe der Krach mit einem Mal verstummte und Mac wieder in der Leitung war. »Luke? Nein. Wieso? Was ist … ist er denn nicht …?«

Hastig erklärte sie ihm alles, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: Lukes vergessenes Handy, seine Mail, sein verpasster Beförderungstermin. »Stimmt, das ist sehr seltsam. Er hätte ihn nie absichtlich sausen lassen.« Mac dachte einen Augenblick nach. »Ich telefoniere mal ein bisschen rum. Vielleicht weiß jemand, wo er steckt. Höchstwahrscheinlich ist er auf Sauftour gegangen und schläft gerade seinen Rausch aus. Du kennst ihn ja.«

Doch in seiner SMS eine halbe Stunde später stand:

Niemand weiß was. Ich versuche es weiter, bestimmt taucht er bald wieder auf.

 

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmte. Ungeachtet des Gelächters seiner Kollegen glaubte sie nicht, dass er die Nacht mit einer anderen Frau verbracht hatte. Und falls doch, ein One-Night-Stand dauerte schließlich nicht so lange, oder? Sie zwang sich, dem wahren Grund ihrer Angst ins Auge zu sehen: Lukes »Stalker«.

Seit das Ganze vor etwa einem Jahr begonnen hatte, hatte Luke es heruntergespielt und sich darüber lustig gemacht. Wer auch immer dahintersteckte, Luke hatte ihn Barry getauft – ein komischer, harmlos klingender Name, der beweisen sollte, wie wenig er sich davon hatte beeindrucken lassen. »Barry hat mal wieder zugeschlagen!«, hatte er nach einer weiteren bösartigen Nachricht auf Facebook, einem stummen Telefonanruf oder einem unerfreulichen »Geschenk«, das mit der Post gekommen war, immer gesagt.

Doch dann war es unheimlich geworden. Zuerst hatte jemand einen mit Fotos vollgestopften Umschlag unter der Wohnungstür hindurchgeschoben. Auf jeder Aufnahme war zu sehen, wie Luke etwas völlig Alltägliches machte – in einem Café in der Schlange stand, in die U-Bahn oder ihren gemeinsamen Wagen stieg. Wer immer sie geschossen hatte, musste ihm gefolgt sein. Die Fotos seien mit einem Weitwinkel aufgenommen, hatte Mac erklärt, und Clara hatte eine Gänsehaut bekommen. Mit arroganter Gleichgültigkeit hatte der Unbekannte ihnen den Umschlag untergeschoben, als wollte er sagen: Dazu bin ich in der Lage. Sieh nur, wie leicht es ist. Sie drängte Luke, die Polizei einzuschalten, doch er wollte nichts davon wissen. Offenbar war er fest entschlossen, so zu tun, als sei nichts passiert, als sei es nur ein Ärgernis, das bald vorbei wäre. Egal, wie sehr sie ihn anflehte, er ließ sich nicht erweichen.

Dann waren sie vor drei Monaten nach einer Party spätnachts nach Hause gekommen und hatten eine aufgebrochene Wohnungstür vorgefunden. Nie würde Clara den eisigen Schauer vergessen, der ihr über den Rücken lief, während sie schweigend durch die Wohnung schlichen, im Wissen, dass ein Fremder kurz zuvor hier gewesen war, ihre Schubladen durchwühlt, ihre Sachen angefasst hatte. Das Seltsame daran war aber, dass alles genau so dalag und stand wie zuvor: Nichts war gestohlen oder verlegt worden, sosehr sie sich auch umschauten. Sie fanden nur einen handgeschriebenen Zettel, ein Blatt aus Claras Notizheft auf dem Küchentisch: Bis bald, Luke.

Zumindest war Luke derart aufgebracht, dass er Clara die Polizei anrufen ließ. Die kam erst am nächsten Tag vorbei und entdeckte nichts – die Nachbarn hatten nichts mitbekommen, die Beamten fanden keine Fingerabdrücke – und da auch nichts entwendet oder zerstört worden war, hatte man die »Ermittlungen« schon wenige Tage später offiziell eingestellt.

Noch seltsamer war, dass der Eindringling, wer immer es gewesen war, plötzlich das Interesse verlor. Seit Wochen hatte es keine weiteren Vorkommnisse gegeben, und Luke triumphierte. »Siehst du?«, tönte er. »Hab ich dir nicht gesagt, dass sich Barry bald langweilen würde?«

Obwohl Clara sich alle Mühe gab, das Ganze zu vergessen, ging ihr die Drohung auf dem Zettel nicht aus dem Kopf – ebenso wenig wie die Vorstellung, dass der Täter noch immer irgendwo in ihrer Nähe herumlief und nur auf den richtigen Augenblick wartete.

Und jetzt war Luke verschwunden. Was, wenn Barry etwas damit zu tun hatte? Noch während sie den Gedanken zu Ende dachte, hörte sie, wie Luke sie auslachte, und sah ihn die Augen verdrehen. »Mein Gott, Clara, mach doch nicht so ein Drama daraus!« Doch im Laufe des Vormittags nahmen ihre Vorahnungen zu, und in der Mittagspause ertappte sie sich dabei, wie sie zur U-Bahn-Station zurückging statt zu ihrem gewohnten Café.

 

Eine halbe Stunde später erreichte sie Hoxton Square, und als sie ihr Haus sah, das gelbe Backsteingebäude an der Straßenecke, war sie plötzlich absolut sicher, dass Luke in der Wohnung auf sie wartete. Die letzten hundert Meter rannte sie, vorbei an den Restaurants und Bars, den schwarzen Eisenzäunen und dem schattigen Rasen des kleinen Parks. Außer Atem erreichte sie die Haustür, schloss sie zittrig auf und lief die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Doch sie war leer.

Sie sank auf einen Stuhl; um sie herum war es viel zu still und ruhig. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Foto, das sie gerahmt hatte, als sie zusammen hier eingezogen waren. Sie griff danach. Es zeigte sie beide in Hampstead Heath, drei Sommer zuvor, wie sie an einem brütend heißen Junitag mit eng aneinandergeschmiegten Köpfen in die Kamera grinsten. In jenem ersten Sommer, an dem die Tage sich glühend und endlos in die Länge zogen, schien London nur ihnen zu gehören. Sie hatte sich fast auf den ersten Blick in ihn verliebt, so mühelos, wie sie atmete, denn noch nie war sie einem so attraktiven, unbändigen Mann begegnet, der Energie, Wärme und ungezwungenen Charme ausstrahlte und sie (das konnte sie noch immer nicht fassen) genauso unwiderstehlich fand wie sie ihn. Sie betrachtete das Foto, dieses hinter Glas eingeschlossene, unerreichbare Glück, und berührte mit dem Finger sein Gesicht. »Wo bist du?«, flüsterte sie. »Wo zum Teufel steckst du, Luke?«

In diesem Augenblick hörte sie, wie die Haustür zwei Stockwerke unter ihr ins Schloss fiel, und ihr Herz stockte. Sie lauschte. Als die Schritte auf der Treppe lauter wurden, hielt sie den Atem an. Und als sie dann vor ihrer Wohnungstür stehen blieben, sprang sie auf, raste zur Tür und riss sie auf – nur um überrascht festzustellen, dass es die Nachbarin von oben war, die sie anstarrte.

Sie kannte den Namen der Frau nicht, die seit sechs Monaten über ihnen wohnte. Clara hielt sie für Mitte zwanzig oder dreißig, es war unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Sie war sehr hager und hatte langes braunes Haar, hinter dem man zuweilen einen kurzen Blick auf ein schmales Gesicht mit fein geschnittenen Zügen erhaschte, die sie unter einer dicken Schicht Make-up verbarg. In all der Zeit hatte sie ihre Grüße kein einziges Mal erwidert, sondern sich immer, wenn sie ihr auf der Treppe begegneten, mit gesenktem Blick an ihnen vorbeigedrückt. Hin und wieder ging einer von ihnen hoch, um sie zu bitten, die Musik etwas leiser zu stellen, die sie Tag und Nacht in voller Lautstärke hörte, doch nie hatte sie die Tür geöffnet, nur die Musik noch lauter gestellt, bis sie es aufgaben.

»Kann ich dir hel…«, sagte Clara, doch die Frau war bereits auf dem Weg zur nächsten Treppe. Clara sah ihr einen Augenblick lang nach, dann holten Sorgen und Stress sie ein. »Entschuldige!«, platzte es aus ihr heraus, woraufhin ihre Nachbarin mit abgewandtem Blick und einem Fuß auf der Treppe stehen blieb. »Die Musik … könntest du vielleicht mal eine Pause einlegen oder sie wenigstens hin und wieder ein bisschen leiser stellen? Sie läuft die ganze Nacht und manchmal auch den ganzen Tag.«

Zuerst schien es, als wollte die Frau nicht antworten, dann drehte sie langsam den Kopf um und sah Clara an. Ihre mit Khol-Kajal umrandeten Augen blieben kurz an Claras hängen, dann wandte sie sich wieder ab und fragte leise, mit dem gespenstischen Hauch eines Lächelns: »Wo ist Luke, Clara?«

Clara starrte sie an, sie war viel zu überrascht, um gleich antworten zu können.

»Wie bitte?«

»Wo ist Luke?«

Sie hatte bisher keine Ahnung gehabt, dass die Frau ihre Namen kannte. Vielleicht hatte sie sie auf ihrem Briefkasten gelesen, doch die Art, wie sie es gesagt hatte, verstörte sie – so vertraut, so eingeweiht, und dann dieses merkwürdige Lächeln, das um ihre Lippen spielte. »Was meinst du?«, fragte Clara, doch die Frau drehte sich um und ging weiter die Treppe hoch. »Entschuldige! Wieso fragst du nach Luke?« Doch sie erhielt keine Antwort. Clara stand da und sah ihr nach. Es war, als hätte sich die Welt in einem surrealen Streich gegen sie verschworen. Die Tür der oberen Wohnung öffnete und schloss sich wieder, und schließlich kehrte auch Clara in ihre eigene Wohnung zurück. Sie verharrte angespannt in der schmalen Diele, bis wenige Sekunden später das vertraute Dröhnen der Bässe erneut an ihre Decke hämmerte.

 

Mittlerweile war es nach zwei. Clara musste wieder ins Büro; ihre Kollegen würden sich Sorgen machen. Doch sie konnte sich nicht dazu aufraffen. Sollte sie in den Krankenhäusern anrufen? Vielleicht erst mal deren Telefonnummern googeln – zumindest hätte sie so etwas zu tun. Sie ging in den winzigen Raum, den sie als Arbeitszimmer nutzten. Als sie die Maus berührte, flackerte Lukes Bildschirm auf, und der Browser öffnete sich sofort zu Google Mail – und Lukes persönlichem E-Mail-Account.

Eine Sekunde lang starrte sie auf den Bildschirm, ihr Finger zögerte, weil sie wusste, dass sie hier nicht herumschnüffeln sollte. Doch dann fiel ihr Blick auf die Liste seiner Ordner. Unter dem gewöhnlichen »Posteingang«, »Entwürfe« und »Papierkorb« befand sich ein Ordner mit dem schlichten Titel »Miststück«. Und dann blieb ihr die Spucke weg – in dem Ordner befanden sich mindestens fünfhundert Nachrichten, die im Laufe des letzten Jahres von verschiedenen Accounts geschickt worden waren, manchmal fünf an einem einzigen Tag. Sie öffnete und las eine nach der anderen.

Hast du mich heute gesehen, Luke? Ich weiß, wo du bist. Halt die Augen offen.

 

Und

Ich kenne dich, Luke, ich weiß, wer du bist und was du getan hast. Vielleicht kannst du alle anderen für dumm verkaufen, aber nicht mich. Männer wie du können mir nichts vormachen.

Wie geht es deinen Eltern, Luke? Wie geht es Oliver und Rose? Kennen sie die Wahrheit über dich – deine Familie, deine Freunde, deine Kollegen? Und was ist mit deiner kleinen Freundin, ist sie auch zu dämlich, um dich zu durchschauen? Jedenfalls sieht sie verdammt dämlich aus, aber früher oder später wird sie schon dahinterkommen.

 

Und

Wir Frauen bedeuten dir nichts, was, Luke? Wir sind nur zu deinem Vergnügen da, damit du uns bumst, benutzt oder schikanierst. Wir sind austauschbar. Du hältst dich für unantastbar, du glaubst, du kommst damit durch. Denk mal drüber nach, Luke.

 

Dann

Was werden sich die Leute bei deiner Beerdigung über dich erzählen, Luke? Verabschiede dich schon mal, bald ist es so weit.

 

Die letzte Nachricht war erst wenige Tage alt.

Es hatte also die ganze Zeit eine Frau dahintergesteckt? Und er hatte es seit vielen Monaten gewusst, er hatte es gewusst und ihr nichts gesagt – hatte auch die Mails mit keinem Wort erwähnt. Wusste er, wer sie war? Ganz offensichtlich war es eine Person, die ihn sehr gut kannte – die wusste, wie seine Eltern hießen, wo er arbeitete; die seine Bewegungen ganz genau verfolgte. War es dieselbe, die in ihre Wohnung eingebrochen war, die Fotos und den Brief geschickt hatte? Vielleicht ist es ein Scherz, dachte Clara aufgewühlt. Ein übler Scherz, den sich einer seiner Freunde ausgedacht hatte. Aber wo steckte er dann? Wo war Luke? Ich kriege dich, Luke. Bis bald.

Sie war tief in ihren Gedanken versunken, als das Schnarren ihrer Gegensprechanlage die Stille zerriss. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie sprang auf.

3 – Wir warteten schon …

Cambridgeshire 1986

Wir warteten schon so lange auf ein Baby. Eigentlich seit Jahren. Die Experten konnten uns nicht erklären, warum. Sie fanden keinen einzigen Grund dafür, weshalb es Doug und mir nicht gelang, ein Kind zu bekommen. »Ungeklärte Unfruchtbarkeit«, mehr brachten sie nicht zustande. Man denkt, es wäre so leicht, eine Familie zu gründen, und wenn einem dann die Hoffnung genommen, die Zukunft, die man sich ausgemalt hat, entrissen wird, fühlt es sich an wie der Tod. Ich hatte schon immer nur einen Wunsch: Mutter zu werden. Als meine Freundinnen zur Uni gingen oder eine Stelle in London annahmen, wusste ich, dass das nichts für mich war. Ich wollte keine Karrierefrau sein, ich brauchte kein großes Haus und viel Geld. Ich war mit unserem Cottage in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war, und mit Dougs Bauunternehmen zufrieden. Ich wollte nur Kinder haben, und Doug ging es genauso.

Hin und wieder traf ich mich mit meinen alten Klassenkameradinnen, wenn sie an den Wochenenden in unser Dorf zurückkehrten. Und ich merkte, wie sie mich ansahen, mit meinen Klamotten von der Stange und meinem mangelnden Ehrgeiz, ich sah das überhebliche oder verwirrte Flackern in ihren Augen, wenn sie erkannten, dass ich nicht wie sie sein wollte. Doch es war mir egal. Ich wusste, dass das, was ich wollte, mir all das Glück bringen würde, das ich brauchte.

Jahr um Jahr, Stück für Stück veränderten sich die Dinge. Die Frauen veränderten sich. Als wir alle auf die dreißig zugingen, tauchte bei diesen Wochenendbesuchen ein Baby nach dem anderen auf. Klar, da hatte ich bereits jahrelange Versuche hinter mir, hatte unzählige Monate der Enttäuschung wegstecken müssen, doch nichts traf mich so hart wie die endlose Prozession von Kindern dieser jungen Frauen, mit denen ich zur Schule gegangen war.

Schon an ihren Gesichtern sah ich, wie die Kinder sie verändert hatten. Wie die hübschen Kleider, die interessanten Karrieren und die erfolgreichen Ehemänner, über die sie sich anfänglich definiert hatten, praktisch über Nacht zweitrangig geworden waren, angesichts dessen, was sie nun hatten. Es war nicht die körperliche Veränderung, nicht die mit Milch bekleckerten Blusen oder die müden Augen, nicht der gestresste Ausdruck von Verantwortung, die Mitgliedschaft in einem neuen Club oder gar die offensichtliche Hingabe, mit der sie diese Aufgabe übernahmen. Was mich am meisten verletzte, war das, was ich jetzt in ihren Augen erkannte – ein neues Bewusstsein, vermute ich. Mir schien es, als wären sie in eine andere Dimension eingetaucht, in der das Leben erfüllend und bedeutungsvoll war, etwas, das ich niemals erleben würde. Die Eifersucht und die Verzweiflung, die mich überwältigten, waren niederschmetternd. Es gab viele Frauen, das war mir durchaus bewusst, die auch ohne Kinder glücklich waren, ein vollkommen zufriedenes Leben führten, in dem Kinder keinen Platz hatten, doch zu denen gehörte ich nicht. Solange ich mich erinnern konnte, hatte ich von nichts anderem geträumt, als eine eigene Familie zu gründen.

Als dann das Wunder endlich geschah, war es das Erstaunlichste und Schönste, was mir widerfahren konnte. Hannah zum ersten Mal in den Armen zu halten, war ein Moment reinsten Glücks. Wir liebten sie über alle Maßen, Doug und ich, und das von Anfang an. Wir hatten so viele Entbehrungen hinter uns, wir hatten so lange auf sie gewartet, so entsetzlich lange.

Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann die bohrenden Zweifel begannen. Anfangs wollte ich sie mir nicht eingestehen. Ich führte sie auf meine Erschöpfung zurück; den Schock und den Stress der Mutterschaft oder hundert andere Dinge, statt der Wahrheit ins Auge zu sehen. Ich erzählte niemandem, wie beunruhigt ich war. Wie ängstlich. Ich redete mir ein, dass sie gesund war, wunderschön, und dass sie uns gehörte. Und nur darauf kam es an.

Trotzdem wusste ich es. Irgendwie wusste ich schon damals, dass mit meiner Tochter etwas nicht stimmte. Es war ein Instinkt, rein und wahr, so, wie Tiere eine bevorstehende Gefahr wittern. Insgeheim verglich ich sie mit anderen Babys – im Krankenhaus, im Mutter-Baby-Club oder im Supermarkt. Ich beobachtete die Gesichtsausdrücke der anderen Kinder, ihre Reaktionen, die ständig wechselnden Gefühle in ihren kleinen Gesichtern, und dann schaute ich in Hannahs große dunkle Augen und erkannte nichts davon darin. Intelligenz, das ja – um ihre geistigen Fähigkeiten machte ich mir niemals Sorgen –, aber Gefühle fand ich nicht. Ich spürte jedenfalls keine. Obwohl ich sie mit Liebe überschüttete, war es, als erreichte ich sie nicht, als perlten die Gefühle an ihrer Haut ab wie Wasser an einer Öljacke.

Als ich Doug zum ersten Mal von meinen Sorgen erzählte, schob er sie unbekümmert beiseite. »Sie ist nur ein bisschen kühl, sonst nichts«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen, Liebling.« Und ich ließ mich beruhigen, redete mir ein, dass er recht hatte, dass es Hannah gut ging und meine Ängste nur Einbildungen waren. Doch kurz vor ihrem dritten Geburtstag geschah etwas, das auch Doug zu denken gab.

Ich machte uns gerade Frühstück in der Küche, während sie auf dem Boden saß und mit Töpfen, Pfannen und Löffeln spielte, die ich ihr gegeben hatte, um sie zu beschäftigen. Sie schlug die ganze Zeit auf eine Pfanne ein, der Klang hallte in meinem Schädel wider, doch gerade als ich mir innerlich Vorwürfe machte, ihr dieses Spielzeug gegeben zu haben, hörte sie plötzlich auf. »Hannah Keks«, erklärte sie.

»Nein, Schätzchen, noch nicht.« Ich lächelte ihr zu. »Ich mache dir Haferbrei. Hmmm! Ich bin gleich fertig.«

Da stand sie auf und sagte mit lauter Stimme: »Hannah Keks!«

»Nein, mein Schatz«, entgegnete ich bestimmt. »Zuerst das Frühstück. Du musst noch ein bisschen warten.«

Ich ging in die Hocke, um eine Schale aus einem niedrigen Unterschrank zu nehmen, und hörte nicht, wie sie sich heranschlich. Als ich mich umdrehte, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz im Auge und taumelte erschrocken zurück. Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, was passiert war, bis ich begriff, dass sie mir die Spitze des metallenen Löffels ins Auge gestoßen hatte, mit einer Kraft, die ich ihr niemals zugetraut hätte. Und ich sah trotz meines Schocks ihre Reaktion, nur eine Sekunde lang: diesen Anflug von Genugtuung, bevor sie sich abwandte.

Ich musste sie mit mir ins Krankenhaus nehmen, da Doug erst Stunden später von der Arbeit nach Hause kommen würde. Keine Ahnung, ob die Krankenschwester in der Notaufnahme mir meine Geschichte abnahm oder meine fadenscheinige Ausrede durchschaute und mich für eine misshandelte Ehefrau hielt, für das weitere Opfer eines Ehestreites mit einem betrunkenen Ehemann. Falls sie meine Beschämung und meine Angst erkannte, so ließ sie sich nichts anmerken. Hannah sah die ganze Zeit zu, wie die Frau meine Wunde versorgte, hörte stumm und gleichgültig, wie ich log, ich sei gegen eine Tür gelaufen.

Später am Abend, als sie im Bett lag, blickten Doug und ich uns über den Küchentisch an. »Sie ist erst zwei«, sagte er mit aschfahlem Gesicht. »Sie ist noch so klein, sie wusste nicht, was sie tut …«

»Sie wusste es«, gab ich zurück. »Sie wusste genau, was sie tat. Und danach hat sie nicht mal mit der Wimper gezuckt, sondern einfach weiter auf die verdammten Töpfe eingeschlagen, als wäre nichts.«

 

Danach wurde es immer schlimmer. Alle Kinder prügeln sich, das passiert ständig. In allen Kindergärten sieht man, wie sie sich schlagen, beißen oder einander schubsen. Sie tun es aus einer Laune heraus oder weil das andere Kind ihnen wehgetan hat oder um an ein Spielzeug zu gelangen, das sie haben wollen. Es ist nicht so wie bei Hannah, die aus purer, vorsätzlicher Lust zulangte. Ich beobachtete sie mit Argusaugen, und ich sah, wie sie das tat, ich registrierte den Ausdruck in ihren Augen, wenn sie sich hastig umschaute, ehe sie jemanden kniff oder schlug. Sie wollte anderen Schmerz zufügen. Das trieb sie an. Ich wusste es. Ich sah es.

Wir gingen mit ihr zum Arzt und bestanden darauf, dass er sie zu einem Kinderpsychologen überwies. Dann fuhren wir zu dritt nach Peterborough zu einem Mann in einem roten Pullover mit ernstem Lächeln und sanfter Stimme. Er hieß Neil. Er gab sich alle Mühe, forderte Hannah auf, ihre Gefühle zu malen und ihre Fantasien mit Puppen auszuleben, doch sie weigerte sich. »NEIN!«, rief sie und schob die Kreidestifte und das Spielzeug beiseite. »Hannah will nicht!«

»Schauen Sie«, sagte Neil, nachdem die Sprechstundenhilfe unsere Tochter aus dem Zimmer gebracht hatte. »Sie ist noch sehr klein. Kinder reagieren manchmal mit Trotz. Es ist durchaus möglich, dass ihr nicht bewusst war, wie schwer sie Sie verletzen würde.« Er hielt inne und betrachtete mich mit einem verständnisvollen Blick. »Sie sprachen davon, dass sie gefühllos sei … dass es ihr an emotionaler Reaktion mangelt. Manchmal ahmen Kinder nach, was sie bei ihren Eltern sehen. Und manchmal hilft es, wenn Eltern sich dessen bewusst werden, dass sie die Erwachsenen sind und Kinder nicht dazu da sind, ihre emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen.«

All das sagte er sehr liebenswürdig und einfühlsam, doch in mir stieg sofort Wut auf. »Ich habe dieses Kind den ganzen Tag auf dem Arm«, zischte ich, ohne auf Doug zu achten, der mir die Hand auf den Arm gelegt hatte. »Ich rede mit ihr, spiele mit ihr, küsse sie, zeige ihr meine Liebe und sage ihr unentwegt, was für ein außergewöhnliches kleines Mädchen sie ist. Mit Sicherheit erwarte ich von meiner dreijährigen Tochter nicht, dass sie meine emotionalen Bedürfnisse befriedigt. Für wie blöd halten Sie mich?« Doch der Same war gelegt, die Andeutung war unmissverständlich. So oder so war es meine Schuld. Und tief im Inneren fürchtete ich, dass Neil recht hatte. Dass ich irgendwie unzulänglich war, der Grund dafür, was immer dieses »dafür« bedeuten mochte. Wir verließen die Praxis dieses Psychologen und kehrten nie wieder dorthin zurück.

 

An dem Tag, als meine fünfjährige Tochter Lucy tötete, sah ich sie von der Tür ihres Zimmers an und ließ alle Hoffnung fahren, dass ich mich geirrt hatte, dass es nur eine Phase und sie im Grunde genommen ein ganz normales und gesundes Kind war. Ich marschierte quer durchs Zimmer und nahm sie an der Hand. »Komm mit«, sagte ich und führte sie in mein Schlafzimmer. Ihr fügsamer, leicht interessierter Gesichtsausdruck machte mich nur noch wütender. Ich zog sie bis an mein Bett, und sie blieb neben mir stehen, betrachtete Lucys Kopf auf meinem Kopfkissen, und ich sah – ich weiß genau, dass ich es sah –, wie in ihren Augen so etwas wie Freude aufblitzte. Als sie wieder zu mir aufblickte, waren sie voller Unschuld. »Mummy?«, wisperte sie.

»Das warst du.« Meine Stimme war vor Wut erstarrt. »Ich weiß es.« Ich liebte diesen Vogel. Ich hatte ihn von einer älteren Nachbarin geerbt, die mir sehr nahegestanden hatte. Während meiner kinderlosen Jahre war Lucy zum Fokus all meiner Aufmerksamkeit geworden; ein hübsches, wehrloses Geschöpf, um das ich mich kümmern konnte, das mich brauchte. Hannah wusste, wie sehr ich den Vogel liebte. Sie wusste es genau.

»Nein«, antwortete sie, neigte den Kopf zur Seite und sah mich an. »Nein, Mummy. Das war nicht ich.«

Ich ließ sie neben dem Bett stehen und lief die Treppe hinunter in die Küche. Dort stand Lucys Käfig mit weit geöffneter Tür, der winzige kopflose Rumpf lag kalt und steif auf dem Boden daneben. Mein Blick schoss durch den Raum. Wie hatte sie es gemacht? Was hatte sie benutzt? Zu den Küchenmessern hatte sie natürlich keinen Zugang. Dann fiel mir etwas ein, und ich lief die Treppe wieder hinauf zu ihrem Zimmer. Und da war es. Das metallene Lineal aus Dougs Werkzeugkasten; es lag auf ihrem Schreibtisch. Ich hatte gehört, wie sie am Tag zuvor darum gebeten hatte – es sei für etwas, das sie bauen wolle, hatte sie gesagt. Jetzt lag es neben ihren Bastelsachen, und ich starrte darauf, während mir schwindelig wurde.

Ich hatte nicht gehört, wie Hannah mir aus der Küche gefolgt war, bis sie sich ins Zimmer stahl und plötzlich neben mir stand.

»Mummy?«

Mein Herz machte einen Satz. »Was?«

Ihr Blick schweifte zu meinem Bauch. »Ist alles in Ordnung mit ihm?«

Das leichte Lispeln, diese sanfte, melodische Stimme, die so entzückend war, dass sie jedem auffiel. Ich schluckte meinen Abscheu hinunter. »Was meinst du?«, fragte ich. »Was soll in Ordnung sein?«

Sie betrachtete mich. »Das Baby, Mummy. Das kleine Baby in deinem Bauch. Ist alles in Ordnung mit ihm? Oder ist es auch tot?«

Ich umfasste schützend meinen Bauch, als hätte sie mir einen Schlag versetzt. Sie spießte mich mit ihrem Blick auf. »Warum sollte das Baby tot sein?«, flüsterte ich. »Warum sagst du so was?« Sie konnte nicht wissen, dass sie den Finger auf meine größte Angst gelegt hatte – dass das neue Baby, unser zweites Wunder, nicht überleben, nicht lebendig auf die Welt kommen würde. Vermutlich war es der Stress wegen meiner Beziehung zu Hannah, der für diese Ängste verantwortlich war. Ich hatte fast das Gefühl, dass ich es verdiente, weil ich alles, was mit ihr zusammenhing, so verpfuscht hatte. Und zur Strafe würde ich mein zweites Kind verlieren.

Ich schaute ihr in die Augen und spürte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Du bleibst in deinem Zimmer«, sagte ich. »Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich es dir erlaube.«

Abends saßen Doug und ich mit einem Glas Wein auf der Couch, und ich erzählte ihm, was vorgefallen war. »Was sollen wir tun? Was, um Himmels willen, sollen wir nur tun?«

»Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob es tatsächlich Hannah war«, sagte er leise.

»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«

»Vielleicht … was weiß ich, Herrgott! Vielleicht war es ein Fuchs oder eins der Nachbarkinder, das dir einen Streich spielen wollte?«

»Mach dich doch nicht lächerlich!«

»Ständig kommen Füchse in den Garten«, entgegnete er. »Bist du sicher, dass die Tür zum Garten geschlossen war?«

»Nein. Sie stand offen. Aber …«

»Und wir haben Hannah schon mehrmals gesagt, dass sie die Käfigtür nicht offen stehen lassen darf«, setzte er hinzu.

Das stimmte, sie liebte es, Lucy zu füttern, und obwohl sie wusste, dass sie die Käfigtür nicht öffnen durfte, wenn ich nicht dabei war, konnte es durchaus sein, dass sie mit dem Riegel gespielt hatte. »Na schön, aber was sollte die Bemerkung über das Baby?«

Doug rieb sich müde das Gesicht. »Sie ist erst fünf, Beth. Sie weiß noch gar nicht, was der Tod bedeutet, meinst du nicht? Vielleicht hat sie Angst davor, ein Geschwisterchen zu bekommen.«

Ich starrte ihn an. »Wie kannst du so was sagen! Und außerdem weiß ich, dass es Hannah war. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben!«

»Und wo warst du?« Jetzt erhob auch er die Stimme. »Wo zum Teufel warst du, als es passierte? Warum hast du nicht auf sie aufgepasst?«

»Willst du etwa sagen, dass es meine Schuld ist?«, schrie ich ihn an. »Wie kannst du es wagen!« Und so stritten wir uns weiter, gingen aus Sorge und Verzweiflung aufeinander los, rechtfertigten uns auf hinterhältigste Weise.

»Mummy? Daddy?« Plötzlich stand Hannah in der Tür, verschlafen und entzückend in ihrem rosafarbenen Schlafanzug. Sie hielt ihren Teddy in der Hand. »Warum schreit ihr so?«

Doug stand auf. »Hallo, Kleines.« Seine Stimme klang plötzlich warm und fröhlich. »Wie geht es meiner kleinen Prinzessin? Willst du deinem Daddy nicht einen Kuss geben?«

Sie nickte und näherte sich, dann sagte sie ganz traurig und leise: »Ist es wegen Lucy?«

Doug und ich sahen uns an. Er hob sie hoch. »Weißt du, wie es passiert ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mummy glaubt, dass ich es war, aber ich war es nicht! Mummy liebt ihren Vogel und ich auch.« Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ich würde Lu-Lu niemals wehtun.«

Doug drückte sie. »Ich weiß, dass du das niemals tun würdest, natürlich nicht. Jemand hat uns einen üblen Streich gespielt, das ist alles. Oder es war ein Fuchs. Vielleicht war es ein böser Fuchs. Komm, mein kleiner Liebling, nicht weinen, bitte nicht weinen. Wir bringen dich wieder ins Bett.«

Ich wusste, dass er sich selbst etwas vormachte und viel zu viel Angst hatte, sich die Wahrheit einzugestehen, trotzdem hatte ich mich noch nie so einsam und niedergeschlagen gefühlt wie in diesem Augenblick. Als sie den Raum verließen, sah ich, wie Hannah mich über die Schulter ihres Vaters hinweg teilnahmslos ansah. Ich hielt ihrem Blick stand, dann bogen sie um die Ecke und verschwanden.

4 – Als Clara den Hörer …

London 2017

Als Clara den Hörer der Gegensprechanlage abnahm, hörte sie Macs Stimme. Sie krächzte wie aus einer anderen Welt zu ihr herauf; von einem ganz gewöhnlichen, harmlosen Ort, an dem man keine Mails bekam, bei denen einem das Herz stehen blieb und einem das Blut in den Adern gefror.

»Liebe Güte«, sagte er, als sie ihm die Tür öffnete. »Du siehst ja furchtbar aus. Ich habe im Büro angerufen, aber dort hieß es, du wärst nach der Mittagspause nicht zurückgekommen …« Er stockte. »Clara? Ist alles in Ordnung?«

Ohne zu antworten, führte sie ihn zum Computer und deutete auf den Bildschirm. »Lies das mal.«

Folgsam setzte er sich hin. Sie beobachtete, wie er mit gesenktem Kopf las, sein dichtes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, sein hoch aufgeschossener, ein Meter neunzig großer Körper hockte krumm und unbequem auf dem kleinen Stuhl, als könnte er jeden Moment explodieren und wie ein Schachtelmännchen hochspringen. Es tat ihr gut, ihm zuzusehen, zu spüren, wie sich das Band aus Angst, das sich immer enger um ihre Brust gezogen hatte, langsam lockerte.

Mac war seit der Schulzeit Lukes bester Freund und verbrachte fast genauso viel Zeit in ihrer Wohnung wie sie selbst. Er verkörperte das Leben, wie Clara es noch vor vierundzwanzig Stunden gekannt hatte: Nächte im The Reliance, Bierabende vor dem Fernseher, lange verkaterte Mittagessen an Sonntagen im Owl and Pussycat; Privatwitze und eine gemeinsame Geschichte, die Behaglichkeit und Leichtigkeit einer alten Freundschaft. Er war der Anker in ihrer und Lukes Beziehung, Zeuge ihres normalen, glücklichen Lebens, ehe alles so ganz anders geworden war, vor der gruseligen Erkenntnis, dass es weit von jeder Normalität entfernt war.

»Ach, du Scheiße«, sagte er, nachdem er die letzte Nachricht gelesen hatte.

»Hast du davon gewusst?«

Er warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Na ja, mehr oder weniger, Luke hat mir erzählt, dass er komische Mails bekam, aber ich hatte keine Ahnung, dass es so viele und dass sie so schlimm waren.«

Frustriert erhob Clara die Stimme. »Warum zum Teufel hat er mir nichts gesagt? Ich kapier das einfach nicht. Sie sind so scheußlich – manche sogar richtiggehend krank.«

»Ja«, sagte Mac. »Er wollte nicht, dass du dir Sorgen machst …«

»Herrgott noch mal!«

»Ich weiß, ich weiß. Ich glaube, es war ihm peinlich, dass sie von einer Frau stammten.«

»Soll das ein Witz sein? Diese Spinnerin ist in meine Wohnung eingebrochen! Sie hat meinen Freund bedroht. Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht, mir nichts davon zu erzählen?« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Weiß er, wer sie ist?«

Mac schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ganz ehrlich, Clara, ich glaube nicht, dass er die geringste Ahnung hat.«

Sie trat an den Bildschirm und las die letzte Nachricht laut vor. »›Ich kriege dich.‹ Verdammt noch mal.« Sie sah sich nach ihrem Handy um. »Ich rufe jetzt die Polizei an.«

Mac stand auf. »Ich bin sicher, dass sie nichts unternehmen werden, bevor er nicht vierundzwanzig Stunden verschwunden ist. Hör zu, Clara. Es kann sein, dass diese Mails von einer Verrückten stammen, die Luke aus irgendeinem Grund ärgern will – einer Ex vielleicht, trotzdem glaube ich nicht, dass sie etwas damit zu tun haben, warum er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist.«

»Wo ist er denn dann?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er eine Nacht weggeblieben, um einen klaren Kopf zu kriegen.«

»Einen klaren Kopf? Was um alles in der Welt soll das heißen?«

Mac wandte den Blick ab, statt ihr zu antworten. Dann sagte er: »Ich hab all seine Freunde angerufen, aber vielleicht ist er ja auch zu seinen Eltern gefahren. Hast du es dort versucht?«

Bei der Frage hielt Clara inne. »Nein, noch nicht.«

»Vielleicht solltest du es probieren. Es wäre das Erste, was die Polizei tun würde.«

Mac hatte recht.

Luke war bestimmt zu seinen Eltern nach Suffolk gefahren – wieso war sie nicht selbst darauf gekommen? Sie kannte niemanden, der seinen Eltern so nahestand wie Luke. Vielleicht hatten die Mails ihn dermaßen aufgewühlt, dass er für eine Weile aus London hatte verschwinden wollen. Aber warum hatte er ihr dann nichts gesagt?

Sie blickte auf das Handy und zögerte. »Aber was ist, wenn er nicht dort ist? Du kennst ja seine Eltern – sie würden sich furchtbar aufregen.«

»Ja, stimmt, da könntest du recht haben.«

Mac und sie sahen sich an, und beide dachten an dasselbe: Emily.

 

Luke sprach nie von seiner älteren Schwester, und Clara kannte nur die schlichten Fakten. Mit achtzehn hatte Emily das Elternhaus verlassen, und seitdem hatte nie wieder jemand von ihr gehört. Er war zehn gewesen, sein Bruder Tom fünfzehn. Ein paar Monate nachdem sie ein Paar geworden waren, hatte er ihr davon erzählt. Damals wohnte er in einer Wohnung in Peckham, die er sich mit einem Freund teilte, in einem halb zerfallenen, viktorianischen Haus in einer Nebenstraße von Queens Road. Nachts lagen sie im Bett, während die Musik und die Stimmen aus den Restaurants und Bars in den Bahngewölben auf der anderen Straßenseite zu ihnen heraufdrangen und die Züge über die erhöhten Gleise ratterten.

»Und du weißt nicht, was aus ihr geworden ist?«, fragte sie ihn erstaunt.

Luke zuckte die Achseln, und als er weitersprach, entdeckte sie eine ihr bis dahin unbekannte Traurigkeit in seiner Stimme. »Nein, wir hatten keine Ahnung. Eines Tages ging sie einfach weg. Sie hinterließ eine Nachricht, sie würde nicht mehr wiederkommen, und danach haben wir nie mehr etwas von ihr gehört. Es hat die ganze Familie zerstört, meine Eltern sind nie darüber hinweggekommen. Mum hatte einen Nervenzusammenbruch, und am Ende war es besser, ihren Namen möglichst nicht mehr zu erwähnen. Ihre Fotos verschwanden, und keiner sprach je wieder von ihr.«

Clara hatte sich entsetzt aufgerichtet. »Das ist ja furchtbar! Du warst erst zehn, du hast doch bestimmt von ihr reden wollen! Es muss schrecklich für dich und deinen Bruder gewesen sein.«

Die Hand, die ihren Schenkel gestreichelt hatte, hielt inne. »Na ja, wir lernten schnell, dass es so besser war, nehme ich an.«

»Aber … habt ihr … ich meine, habt ihr nicht die Polizei eingeschaltet?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie war aus freien Stücken gegangen. Ich glaube, das war für meine Mum und meinen Dad am schlimmsten – dass sie eine Nachricht hinterließ, in der sie ihr Weggehen ankündigte, aber nicht, warum oder wohin. Mein Dad erzählte mir, sie hätten einen Privatdetektiv engagiert, um nach ihr zu suchen, aber es kam nichts dabei heraus.« Er zog die Schultern hoch. »Als hätte der Erdboden sie verschluckt.«

Und da wurde ihr etwas über Luke klar, das ihr bislang ein Rätsel gewesen war. Etwas, das sich hinter seinem Lachen und seinen Scherzen verbarg, hinter seinem Bedürfnis, auf allen Partys im Mittelpunkt zu stehen, eine Trauer, die manchmal kaum wahrnehmbar am Rand aufflackerte und aus der sie zuvor nie schlau geworden war.

»Wie war sie?«, fragte sie leise.

Er lächelte. »Sie war umwerfend. Lustig und süß, aber irgendwie … na ja, wild, weißt du? Ich war erst zehn, und wahrscheinlich bin ich voreingenommen, aber ich fand sie einmalig. Voller Leidenschaft und an allem interessiert, sie ging zu Demos und Märschen, um die Wale zu retten, setzte sich für Frauenrechte ein, was auch immer. Sie machte Mum und Dad verrückt, weil sie nie still sitzen konnte, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Ich war noch ein Kind, aber schon damals habe ich sie bewundert, für ihre Prinzipien und weil sie sich immer so sicher darüber war, was richtig und was falsch war. Sie hatte ihren eigenen Kopf, verstehst du?« Er seufzte und rieb sich über das Gesicht. »Vielleicht war unser Elternhaus zu streng, und sie wollte frei sein. Wer weiß? Vielleicht ist sie deshalb fort.«

»Es tut mir wahnsinnig leid«, sagte Clara leise. »Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie schwer es für euch alle gewesen sein muss.«

Er stand auf, ging durchs Zimmer und reichte ihr ein Buch aus dem Regal. Es war ein dünnes Bändchen mit Kindergedichten. Old Possums Katzenbuch von T. S. Eliot. »Dieses Buch hat sie mir geschenkt, nur wenige Monate bevor sie verschwand. Als ich klein war, hatte sie mir immer daraus vorgelesen. Es war …« Er verstummte. »Na ja. Das ist alles, was ich von ihr habe.«

Ehrfürchtig schlug Clara das Buch auf und las die Widmung auf der ersten Seite: »Für Mungojerrie von Rumpelteazer. Ich hab dich lieb, Kiddo. Auf ewig, E xx.«

»Mungojerrie?«, fragte sie, und er lächelte ihr zu.

»So hießen die Katzen in einem der Gedichte, ihrem Lieblingsgedicht.«

Eine Weile schwieg er, und dann sagte er kopfschüttelnd: »Wie auch immer, das ist alles Schnee von gestern.« Damit nahm er ihr das Buch aus der Hand und zog sie an sich, um sie zu küssen, vermutlich, damit sie keine weiteren Fragen stellte. Und jedes Mal, wenn sie später Emily erwähnte, hatte er die Achseln gezuckt und das Thema gewechselt, sodass sie schließlich aufgab, obwohl sie ihr nicht aus dem Kopf ging, die verlorene Schwester ihres Freundes, die eines Tages das Haus verlassen und von der niemand je wieder etwas gehört hatte.

Jetzt erklärte sie Mac mit plötzlicher Entschiedenheit: »Ich fahre hin.«

Er runzelte die Stirn. »Nach Suffolk? Ist dir das jetzt nicht zu weit?«

Sie sah sich nach ihrer Handtasche und ihren Schlüsseln um. »Etwas mehr als anderthalb Stunden. Zumindest habe ich dann was zu tun. Ich kann nicht einfach hier sitzen und auf ihn warten. Es macht mich verrückt. Und ich glaube, dass du recht hast – vielleicht ist er dort. Er hat ein so enges Verhältnis zu seinen Eltern. Und wenn er wegen der Mails hingefahren ist, will ich mit ihm persönlich sprechen.«

»Na gut«, sagte Mac leise. »Und wenn er da auch nicht ist?«