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Egon Günther

WATSCHENBAUM

Roman einer Kindheit

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Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2012
Originalveröffentlichung · Erstausgabe August 2012
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Druck und Bindung: CPI books
1. Auflage
Print ISBN 978-3-89401-762-0
E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-086-0
E-Book PDF ISBN 978-3-86438-087-7

Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind.

W. G. Sebald

Was waren denn die Furcht, durch die er Tag und Nacht gewandert war, die Ungewissheit, die ihn umschlossen, die Scham, die ihn innerlich und äußerlich gedemütigt hatte, anderes als Tücher, die er abschüttelte von dem sterblichen Leib, Tücher, Leichentücher?

James Joyce

Die Geschichte und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden, die Worte trotzdem wahr.

E. G.

I

da war der bettstall mit den weißen stäben und das abgedunkelte zimmer und die tür ging auf weil jemand hereinkam der sich vergewissern wollte ob beide hände keusch und artig auf der zudecke lagen

In der Richtung des Sonnenaufgangs, an der Morgenseite der mit Kopfsteinen gepflasterten Fahrstraße, an deren Abendseite eine kurze Zeile unscheinbarer vorstädtischer Mietshäuser in die Höhe ragt, und noch jenseits der Bahntrasse, die sich hinter einer hohen Ligusterhecke verbirgt, befindet sich das Lager einer Holz- und Kohlenhandlung. Vom Wohnzimmerfenster aus kann Cornelius das Geschehen vor den Bretterbuden auf dem weitläufigen Gelände gut überblicken. Zu Beginn der kalten Jahreszeit, meist früh am Morgen und abermals am frühen Nachmittag, beladen kräftige, von Kohlenstaub geschwärzte Männer einen robusten Pritschenwagen mit Säcken, stapeln etliche Lagen Briketts auf die Ladefläche und geben, bevor der Laster zu seiner Auslieferungstour startet, vielleicht noch einige mit Draht umwickelte Bündel Holz dazu. Deutlich dringen die lebhaften Zurufe der Kohlenträger und Ausfahrer, ihr Gelächter, Fluchen und Scherzen in seine behütete Abgeschiedenheit. Die restliche Zeit des Tages wirkt das Kohlenlager mit seinen zur Frontseite hin offenen Schuppen öde und verlassen. An das nüchterne Gelände fügt sich eine schmale, gleichfalls ungeteerte Straße, die einen Werkkanal flankiert. Ein solider, breiter Holzsteg führt über das flaschengrüne Gewässer, das sich gleichförmig in seinem Bett wälzt. Am anderen Ufer wartet eine naturwüchsige Auenlandschaft, die in der Phantasie des Jungen eine lockende Wildnis darstellt, in deren Buschwäldern und Lichtungen er mit Natty Bumppo und Chingachcook ausgedehnte Streifzüge unternimmt. Im März kann er das ferne Tosen des Hochwasser führenden Flusses hören.

weiß wie schnee rot wie blut und schwarz wie ebenholz behutsam zwischen herd anrichte und spülstein hantierend trägt ihm die großmutter ruckediguck blut ist im schuck in immer gleichbleibendem singsang die schaurig schönen märchen vor vom schneewittchen vom aschenputtel vom rotkäppchen vom dornröschen von der frau holle von hänsel und gretel und vom wolf und den sieben geißlein ei großmutter was hast du für große hände dass ich dich besser packen kann

Auf der Fahrstraße vorm Haus gibt es noch keinen nennenswerten Kraftwagenverkehr. Die Kinder glauben, getrost den Bällen nachlaufen zu können, die beim Schutzen von den Häuserwänden abgeprallt sind, und sie halten bei wilden Fangspielen wie Räuber und Schandi oder Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?, mit ausgelassenem Geheul von einem Hydranten zum anderen galoppierend, nicht inne, um vor dem raschen Überqueren der Fahrbahn erst einmal achtsam nach links oder rechts zu blicken. Gelegentlich vorbeifahrende Automobile kündigen sich schon von weitem mit unverwechselbarem Motorenklang an, der unschwer den gerade gängigen Fahrzeugtypen zugeordnet werden kann. Schlimme Verkehrsunfälle, an denen Autos beteiligt sind, bleiben dennoch keine Seltenheit. Wie selbstverständlich rollen aber immer noch mit hölzernen Biertragen, Banzen und Eisbalken befrachtete Fuhrwerke einher, die von starken Brauereirossen gezogen werden. Allwöchentlich erscheinen fahrende Eier- und Gemüsehändler, die unterm Ausrufen ihrer Ware laute Schellen rühren, oder der Kartoffelbauer kommt mit Zugmaschine und Gummiwagen. Schrotthändler und Lumpensammler, säumige Boten einer untergegangenen Welt, schieben ratternde, großrädrige Karren über das Pflaster. Mehr als nur einmal bestaunt Cornelius den vorüberrasselnden grün und rot gestrichenen Wohn- und Werkstattwagen eines Kesselflickers, dem ein Maultier vorgespannt ist, ein braunes Pferdchen trottet gefügig hinterdrein. Außen am Wagen hängen kupferne Kessel, Pfannen und große Schöpflöffel, die scheppernd aneinanderschlagen. Vermutlich rollt er stadteinwärts, zu der von alten Kastanien gesäumten Brache, die nur die unwirtliche Zeit des Jahres belebt ist, wenn dort fahrende Schausteller ihre bunten, von Straßenschleppern gezogenen Wägen abstellen und ihre Kinder als Winterschüler in die nächstgelegenen Konfessionsschulen schicken.

ockerfarbene in die nacken sanfter herdentiere mit spitzen fängen sich verbeißende raubkatzen sind scharf konturiert in das verschlungene ziermuster des rotbraunen teppichs gestickt auf dem das kind cornelius anfangs bunt bedruckte bauklötze hin und her schiebt und worauf es später eine kleine sammlung von spielzeugautos und gummifiguren manövriert als tauschobjekte begehrte indianerkrieger und trapperfiguren aus heinerles wundertüte unförmige pranken packen den leib der erjagten beute seitwärts gekehrte tieraugen sind erstarrt in stummer qual

Fensterhocker, alte verbrauchte Ehepaare, die Ellenbogen auf weiche Kissen gestützt, die Arme verschränkt, starren tagaus tagein auf die Gasse hinunter, beobachten voller Misstrauen den mit dunklen Backsteinen gepflasterten Gehsteig, rucken mit den Köpfen, sobald wer um die Ecke biegt. Lange noch blicken sie von ihrer Brüstung dem zufällig vorbeischlendernden Passanten nach, der unfreiwillig ein wenig Abwechslung, womöglich sogar kargen Gesprächsstoff in ihre eintönige Welt getragen hat. Sie ähneln triefäugigen, mürrischen Vögeln, denen einst die Flügel gestutzt worden sind, aber fragte sie jemand auf den Kopf zu, ob sie unglücklich seien, würden sie dies mit Entschiedenheit verneinen. Ein paar Wohnblocks entfernt notiert ein von heillosen Zwangsvorstellungen besessener Rentner, dem die Welt aus den Fugen geraten ist, von seinem Fenster aus die tatsächlichen An- und Abfahrtzeiten der Trambahn und vergleicht sie in allumfassender Pedanterie mit dem gedruckten Fahrplan. Jeder Abweichung abhold, lässt er bei der geringsten Verspätung im nächsten Polizeirevier das Telefon klingeln.

Der schlichte, überaus devote Hausmeister von nebenan hat sich in den Sonntagsstaat geworfen, voller Stolz und vor lauter Glück strahlend sitzt er nun in selbstgefälliger Fahrerpose hinter dem Steuer des auf Abzahlung gekauften funkelnagelneuen Kleinwagens, seine Frau harrt duldsam an seiner Seite aus, adrett ausstaffiert, in getüpfeltem Kleid und blütenweißen Seidenhandschuhen, klammert sie sich steif an den Bügel des schwarzen Lacktäschchens, das sie auf eng aneinandergepressten Knien abgestellt hat. Der Sprössling kauert derweil auf dem Rücksitz, hält ebenfalls Maulaffen feil, drückt aber ab und an sein gelangweiltes Gesicht an der Scheibe platt. Seit Stunden schon hocken sie im Gehäuse des auf der Bordsteinkante geparkten, mit dem Bug in den Gehsteig ragenden Wagens, eines NSU Prinz, und stellen sich als wahr gewordenes Reklamestandbild den teils davon faszinierten, teils darüber belustigten Passanten zur Schau. Die stolze Familie nennt nun eines der ersten Autos in der Straße ihr Eigen, von den anderen Anwohnern fahren die meisten mit dem Rad, der Trambahn oder der Zündapp, viele arme Schlucker gehen weiterhin auf Schusters Rappen zur Arbeit ins Obersendlinger Industriegebiet.

Beinahe täglich begegnet Cornelius einem verhärmten, alterslos wirkenden Mann, der Zigarettenstumpen vom Pflaster aufliest und an der Heimgartenböschung Weinbergschnecken sammelt. Meist ist ihm schon eine Horde kreischender Kinder auf den Fersen, behände und gemein, die ihn weithin hörbar ankündigt: Der Goggolori kommt, der Goggolori kommt! Wenn es dem schwarzen Mann zu bunt wird, dreht er sich unwirsch um und verzieht sein müdes, stoppelbärtiges Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse. Daraufhin stiebt die Horde seiner Verfolger auseinander und lässt eine Zeit lang von ihm ab. Der unnahbare Stadtstreicher, der zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter in einen schäbigen Mantel gehüllt ist, haust in einem der nahen Schrebergärten, und eine beliebte Mutprobe besteht darin, sich an die armselige Hütte des Einsiedlers anzuschleichen, möglichst laut und mit fester Stimme Goggolori zu rufen, um dann feige und blitzschnell Reißaus zu nehmen. Eine andere Probe erfordert etwas mehr Mut. Dabei handelt es sich darum, sich von den Spielkameraden in einen stockfinsteren ehemaligen Luftschutzkeller sperren zu lassen und die panisch aufsteigende Angst vor dem lautlos in den Ecken lauernden Namenlosen und Unsagbaren so lange zu unterdrücken, wie es nur eben gehen mag.

Auf den Straßen kann man noch jederzeit blinden und entstellten Menschen begegnen, fahlgrauen Kriegsversehrten, die ihre Glieder verloren haben, sich an Krücken voranschleppen oder im Rollstuhl sitzen. Gleich vielen anderen gestrandeten Existenzen, die zumindest äußerlich noch heil wirken, sind diese Parias oftmals mit einem Bauchladen unterwegs, verkaufen als bieder wirkende Hausierer an den Wohnungstüren Nähgarn, Strümpfe und Staublappen, gehen aber auch bloß fechten um Geld oder Brot. Manche wiederum stehen nur wortlos bettelnd an Straßenecken und vor Kirchtüren herum. In nahezu jedem Hausgang müssen diese sogenannten »Invaliden« ein Verbotsschild passieren, das entweder unter oder neben der Hausordnung angebracht ist, auf dem die Worte Betteln, Hausieren und Musizieren strengstens untersagt geschrieben sind. Etliche Bettler und Hausierer ritzen nach ihrem Besuch rätselhafte Zinken in die Türrahmen, Weisungen für nachfolgende Kollegen. Als wären sie geradewegs dem verwunschenen Märchenland entsprungen, schleppen mit Hauben und altmodischen Röcken ausstaffierte Kräuterweiber, der gestrengen Hausordnung zum Trotz, ihre Weidenkraxen die knarrenden Holzstiegen der Mietskasernen hoch. Gelegentlich schafft es ein obdachloser Tippelbruder, still und unauffällig auf dem Treppenabsatz vor dem verriegelten Wäschespeicher zu nächtigen. Anderntags entdeckt vielleicht eine Hausfrau die armseligen Spuren seiner Anwesenheit, die Asche aufgerauchter Zigarettenstumpen, ein paar ausgetrunkene, in gelbes Strohpapier gehüllte Likörfläschchen. Gelegentlich stellt vor dem Haus ein Scherenschleifer seinen Wetzstein auf oder geben sich dunkel gewandete Musikanten die Ehre, die im Hinterhof zwischen den Teppichstangen und dem Holunderbusch die Drehorgel bedienen, Trompete blasen und zur Not auch nur zur Mundharmonika einfache Melodien und geläufige Lieder von der Art des Muss idenn, muss i’ denn zum Städtele hinaus darbieten. Cornelius’ Großmutter wickelt dann etwas Zehrgeld in Zeitungspapier, und er darf auf den Küchenbalkon hinaus und das Knäuel den dafür mit einem Lüften und Schwenken ihrer speckigen Hüte dankenden Hofsängern vor die Füße werfen.

der sonntägliche familienausflug führt ins gebirge und mit der zahnradbahn auf den wendelstein der dreijährige knirps cornelius fühlt sich den ganzen tag nicht wohl in seiner haut das semmelblonde haar ist stramm gescheitelt der leib eingezwängt in den blauen sonntagsstaat unangenehm reibt und kratzt der raue stoff des knabenanzugs scheuert das blütenweiße hemd um dessen zugeknöpften steifen kragen eine graue fliege gebunden ist die steinerne bergkapelle wird von ziehenden wolkenfetzen eingehüllt der steig von der bergstation zum steinernen kircherl ist glitschig die stolpernden füße stecken in engen auf hochglanz polierten schuhen die bergdohlen argwöhnt er haben auf ihn ein scharfes augenmerk auf dem rückweg verfolgt ihn das laute krächzen bis in den schlaf hinein

An Freitagen sitzt er oft am frühen Abend mit der Großmutter, Bilderbücher betrachtend oder mit Buntstiften malend, in der Küche und merkt dabei zusehends, wie sie immer einsilbiger wird und mit immer unsteter werdendem Blick auf die stur vor sich hin tickende Küchenuhr achtet. Die Minuten schleichen bloß noch dahin, und der große Zeiger scheint auf seiner Runde weit langsamer vorzurücken, als er dies gemeinhin zu tun pflegt. Sobald eine angemessene Wartefrist vergangen ist, stößt die Großmutter einen ergebenen Seufzer aus, erhebt sich vom Tisch, geht in den Flur hinaus und langt die Mäntel von der Garderobe.

Cornelius stapft an ihrer Hand den an sich kurzen, ihm aber ewig lang vorkommenden Weg hinauf bis zur Eurasburg, einer Gaststätte, aus der lautes Stimmengewirr ins Freie dringt. Im rauchgebeizten Schankraum herrscht Hochbetrieb, die Arbeitsmänner rauchen, lachen, schwatzen, spielen Karten und vertrinken gemächlich ihren Wochenlohn. Die Großmutter bleibt vor der Schwelle stehen, und Cornelius muss allen Mut zusammennehmen, um allein einzutreten. Im zwielichtigen Trubel macht er den Großvater ausfindig, der beim Watten am Stammtisch sitzt. Unter dem höhnischen Gelächter der abgebrühten Säufer bittet er ihn, zur wartenden Großmutter herauszukommen. Der Junge fühlt sich zwar recht elend dabei, aber immerhin ist dank seines beherzten Eingriffs ein beträchtlicher Teil des Haushaltsgeldes davor bewahrt worden, vertrunken und verspielt zu werden.

An anderen Werktagen trifft sich der Großvater nach der Arbeit nicht mit seinen Kumpanen in der Eurasburg, sondern kommt in der Regel zeitig heim; dafür schickt er den Enkel mit einem leeren Seidel zum Bierholen an die Gassenschenke des nur ein paar Schritte entfernten Wirtshauses am Wasserturm. Cornelius hat sich die Anfeindungen und Vorwürfe, die sich der Großvater wegen seiner Trunksucht aus dem Munde der Großmutter anhören muss, so stark zu Herzen genommen, dass er eines Tages bei der Erledigung seines Auftrages das schäumend helle Nass mit Absicht auf dem Trottoir verschüttet. Mit dem leeren Krug tritt er dann unverrichteter Dinge vor den Großvater hin und versucht, ihm auf kindlich altkluge Weise zu erklären, dass er nicht ungehorsam gewesen sei, sondern nur zu dessen Vorteil gehandelt habe. Es ist das erste Mal, dass er sich eine saftige Ohrfeige einfängt.

Die zweite, damit aber auch schon letzte von der Hand seines Großvaters verabreichte Ohrfeige erhält er, weil er sich erfrecht hat, der Blechnerin, einer ob ihrer Launen gefürchteten Hauswirtin, ins Gesicht hinein zu sagen, was ein jeder im Viertel, sobald die Sprache auf sie kommt, bedenkenlos hinter ihrem Rücken ausspricht. Die übertrieben reinliche, ansonsten merklich freudlose Despotin hat ihren Untertanen nicht nur verboten, in der Wohnung fremden Besuch zu empfangen und Haustiere zu halten, sie schreitet auch umgehend ein, wenn sich bei verheirateten Paaren Zuwachs ankündigt. Sobald die Blechnerin von einer Schwangerschaft Wind bekommt, kündigt sie ihren Mietern. Selbst wohnt die kinderfeindliche Wirtin im Erdgeschoss, wo sie mit Argusaugen und allzeit gespitzten Ohren strengstens darüber wacht, dass ja kein verlumpter Bettler oder Hausierer über die Schwelle gelangen und durch seine armselige Anwesenheit den Hausflur verunreinigen kann. Mit besonderer Lust verscheucht sie aus Unachtsamkeit oder Versehen vor ihrer Behausung spielende Kinder. Als sie den selbstvergessen in ein Spiel versunkenen Cornelius auch einmal mit barschen Worten aufstört und verjagt, ruft er ihr im Weglaufen noch trotzig zu, dass sie eine gefürchtete Bissgurre sei. Abends spricht die durch die ungefälligen, von dem Jungen bei den Erwachsenen aufgeschnappten und ihnen nachgeplapperten Worte zutiefst beleidigte Frau bei dessen Großeltern vor, besteht im Namen alter Freundschaft auf einer umgehenden Bestrafung des Missetäters und verlangt obendrein, dass sich Cornelius für seine dreiste Ungehörigkeit bei ihr entschuldigt. Mit versteinerter Miene steht die Blechnerin daneben, als Wilhelm seinen Enkel kräftig ohrfeigt, nimmt aber nach erfolgter Züchtigung die kaum hörbar gestammelte Entschuldigung gnädig nickend entgegen.

Von dem Wirtshaus an der Ecke weiß Cornelius, dass es vor dem letzten Krieg seinem Großvater gehört hat, genauer gesagt, Urgroßmutter Martha, einer stattlichen Greisin mit vorgewölbtem Bauch, in deren alterszerfurchtem Gesicht an der linken Wange eine dunkle Beere haftet, eine Warze, aus der borstige weiße Haare sprießen. Die befehlsgewohnte, herrische Greisin lebt in der Nachbarschaft, abgekapselt von der Außenwelt, in einem winzigen, stark nach welken Blumen, Zimt, Franzbranntwein und Melissengeist duftenden Parterrezimmer, und alle Kinder fürchten sich vor der schweren Frau mindestens so sehr wie vor dem Goggolori, womöglich ist ihre Angst sogar noch um einiges größer, denn sie stellen der Urgroßmutter bei deren seltenen Ausflügen aus der Wohnung nicht lärmend nach, sondern gehen ihr, dabei einfältige Beschwörungen vor sich hin murmelnd, vorsichtshalber aus dem Weg. Der Umstand, mit dieser allseits gefürchteten Respektsperson verwandt zu sein, verschafft dem Jungen bei den frecheren, die längste Zeit des Tages sich selbst überlassenen Straßenkindern ein passables Ansehen.

der onkel nimmt ihn mit in die dunkle höhle des lichttheaters die böse schwarze fee verflucht die neugeborene prinzessin morgenröte aus ihrem zauberstab zucken heftige blitze und unheilvoll kracht der donner am ende verwandelt sich die fratzenhafte gestalt der fee in einen entsetzlichen feuerspeienden drachen zu den überlebensgroßen bildern baut die begleitmusik eine bedrohliche kaum zu ertragende spannung auf von elementarer angst gepackt und in den sessel gebannt übersteht das kind die filmvorführung mit schockgeweiteten augen

Er spürt, dass irgendetwas mit ihm oder seiner Familie nicht stimmt, denn zuweilen entnimmt er dem unerfindlichen Gerede der Erwachsenen über den Konsumverein, den Lastenausgleich, die Sterbekasse und das Wirtschaftswunder noch andere höchst sonderbare Dinge, aus denen er nicht recht schlau wird, und dann klingen ihm immer wieder die anzüglichen Fragen der Straßenkinder nach dem Verbleib seiner Mutter gehässig in den Ohren. Cornelius kann tatsächlich nicht sagen, wo und bei wem seine Mutter abgeblieben ist und was sie im Grunde davon abhalten mag, nach Hause zu kommen. Aber er weiß, dass weder Tante Carla noch Großmutter Lena sonderlich gut auf die von heute auf morgen Verschwundene zu sprechen sind.

An einem aschgrauen Nachmittag sitzen beide Frauen nach dem Mittagessen und dem gemeinsamen Abwasch noch für eine Weile in stiller Eintracht am Küchentisch. Carla dreht die Kurbel der Kaffeemühle und sieht dem Jungen versonnen dabei zu, wie er gerade mit seinen Buntstiften hantiert und einen unter vollen Segeln stehenden, mit wüsten Piraten bemannten Dreimaster ausmalt. Unvermittelt bricht sie das Schweigen, und es entfährt ihr der furchtbare Satz: »Bevor er so wird wie seine Mutter, hack ich ihm eher die Hände ab.«

ruckediguck,
hackt dir die hände ab,
ei, bub, eh du dich versiehst,
hackt sie dir, ruckedizuck,
gleich beide händchen ab
.

»Die Hände würde ich ihm …«, sagt darauf Lena, und vor Cornelius’ entsetzten Augen fängt die Luft an zu zittern, beginnen die Gesichter der beiden Frauen zu verflachen und ihre Konturen zu zerfließen. Noch bevor die aus der Form geratene Großmutter ihre ungeheuere Antwort fortsetzen kann, gerät die Zeit ins Stocken; rumpelnd wechselt sie das Gleis, erstarrt bis in das Herz des Jungen hinein und läuft erst nach einem unmessbar langen Stillstand wieder an, zögerlich und ruckend. Aus Lenas ins Riesenhafte verzerrtem Mund tropfen gedehnte Silben auf die Tischkante herab, wie ein Gong dröhnt der Nachhall ihres Aufschlags im hohen, schmalen Küchenraum. Stark und unbändig rauscht mit einem Mal das Blut in seinen Ohren. Verwundert starrt er auf die großen Poren in Lenas Gesichtshaut und auf die hervorstechenden Barthaare, die er noch nie zuvor so plastisch wahrgenommen hat. Erneut flackert die Luft, und mitten im Wort löst sich die Zeitlupe auf. Im vertrauten Tempo und in gewohnter Lautstärke bringt die wieder auf Normalgröße zurückgeschrumpfte Großmutter ihre vor Minuten begonnene Antwort zu Ende: »… nicht gleich abhacken«, und sie wirft auf den Jungen einen scharfen prüfenden Blick, »ich würde ihn nur weggeben. Ich hoffe doch sehr, dass er uns niemals so schwer enttäuschen wird.« Spricht’s und klopft zur Bestätigung Cornelius wiederholt mit einem Fingerknöchel hart und kräftig auf die Stirn.

Cornelius scheint es eine halbe Ewigkeit her zu sein, dass er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hat, denn als sie, anscheinend für immer, aus seinem Gesichtskreis verschwand, war er noch ein ganz kleiner Bub. An jenem denkwürdigen Tag knieten seine Mutter und seine Großmutter auf dem Boden der schmalen, langgezogenen Küche einander gegenüber, seine Mutter mit dem Rücken zur Balkontür, seine Großmutter mit dem Rücken zum Küchenherd. Zuerst glaubte der Junge noch, dass sie ein lustiges Spiel miteinander spielten. Die Frauen hatten alle Hocker und Stühle aus dem Weg geräumt und damit eine lange Bahn geschaffen, auf der sie sich gegenseitig einen mit Filz beklebten eisernen Quader zuschoben. Wie ein Eisstock glitt der schwere Block schwungvoll auf dem abgeschabten, mit eintönigen Blumenmustern bedruckten Stragula dahin. Cornelius stand auf den verschlissenen Polstern eines weinroten Kanapees – eigentlich hüpfte er eher aufgeregt von einem Bein auf das andere, als dass er stand – und blickte wie ein quirliger Schiedsrichter von seiner hohen Warte aus vergnügt auf die Bahn, das auf dem gebohnerten Belag hin und her gleitende Geschoss und auf die beiden am Boden knienden Frauen, die jede Fahrt mit erregten Ausrufen und Gelächter kommentierten. Allmählich gellte ihr Rufen und Lachen immer lauter, ihre Schwünge gerieten kraftvoller und heftiger, immer geschwinder schoss der Block hin und her, bald streifte er ein Tischbein und schleuderte aus der Bahn. Da merkte der jauchzende Junge, der die gegnerischen Frauen fröhlich angefeuert hatte, dass unter der Hand aus dem vermeintlich lustigen Spiel ein ernster, unheilbare Wunden schlagender Streit geworden war. Erschrocken begriff er, dass die Rasenden sich längst hasserfüllt angeschrien und dem Eisen jede Menge trotzige Worte, derbe Flüche und irrsinnige Verwünschungen aufgebürdet hatten.

Nachdem das Gerät mit wuchtigem Schlag in eine Ecke gekracht war, richtete sich die Großmutter des Jungen auf, ihr Gesicht war zu einer blutleeren Maske erstarrt, am ganzen Körper zitternd wies sie ihrer Tochter gestreckten Arms die Tür. Die junge Frau, ebenfalls mit entfärbtem Gesicht, vor Wut bebend und vielleicht vor Scham, erhob sich ihrerseits, stöckelte rasch auf den verlorenen Jungen zu, der nun verstummt und schreckensbleich an den einsamen Beobachtungsposten auf dem Hügel seines Kanapees gebannt war, umarmte ihn, drückte ihn ganz fest und erdrückte ihn fast dabei. Darauf machte sie auf dem Absatz kehrt, taumelte unter kurzem, gleichwohl tiefem Aufschluchzen zur Tür, wo sie sich am Rahmen abstützte und einen winzigen verzweifelten Augenblick lang dem herrischen Blick ihrer Mutter aussetzte, die, zur Bildsäule gefroren, höchstens eine Armlänge entfernt dastand. Wortlos gab sie sich dann einen Ruck, wandte sich ab und verließ für immer den Raum. Die Tür schlug sie heftig hinter sich zu, worauf große Flecken Putz sich von der Wand lösten, zu Boden prasselten und in lauter kleine Stücke zerplatzten.

Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind bloß so überstürzt, von heute auf morgen im Stich lassen? Ausgestattet mit einem für das Erfassen und Begreifen solcher Tragödien viel zu schwachen Kinderverstand, kann sich der erschütterte, bis ins Mark getroffene Cornelius lange Zeit keinen Vers darauf machen und muss daher den unerklärlichen Vorfall einstweilen auf sich beruhen lassen. Wenn er auch später oft erzählt, er habe Bertha – mit diesem Namen wurde seine Mutter gerufen – seither nicht mehr wiedergesehen, ist das aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist ihm ihr geliebtes Gesicht nach diesem Zerwürfnis noch des Öfteren erschienen – und zwar nicht bloß in seinen Fieberträumen, sondern auch in der Wirklichkeit –, allerdings immer nur verschwommen, durch die Wimpern seiner nicht ganz geschlossenen Augen hindurch, wobei er jeweils vorschützte, tief und fest zu schlafen.

Zuweilen, mitten in der Nacht, nachdem er und die Großeltern längst zu Bett gegangen sind, holt ihn nämlich heftiges Läuten an der Wohnungstür aus dem Schlaf. Kurz darauf hört er erregte Stimmen im Flur: laut und fordernd die Stimme seiner Mutter, die danach verlangt, ihr Kind zu sehen, etwas gedämpfter die Stimmen der Großeltern, die ihre Tochter davon abhalten wollen, sofort ins Schlafzimmer zu stürmen. Stets ist es der Großvater, ist es Wilhelm, der dann einlenkt, der seine Tochter eindringlich ermahnt, nur still und leise zu sein und den Jungen nicht zu wecken. Dann öffnet sich die Schlafzimmertür, seine Mutter streift ihre hochhackigen Pumps ab, tritt sachten Schritts an das Bett heran und beugt sich, von einer leidenschaftlichen Regung ergriffen, über ihren Sohn.

Der reglos daliegende Cornelius bemüht sich angestrengt, nicht verräterisch zu blinzeln und trotzdem das Antlitz seiner Mutter so genau wie nur möglich in Augenschein zu nehmen. Sie scheint von einer Art Aureole umgeben, und sie kommt ihm vor wie ein blonder Engel – oder vielmehr wie eine auf tragische Weise aus dem Leben geschiedene Filmschauspielerin, deren Konterfei er aus einigen Lesezirkelillustrierten kennt, die Lena abonniert hat. In ihrem mit der Brennschere ondulierten Haar steckt ein ovaler Putz, von dem ein schwarzer Netzschleier herabhängt und bei jeder Kopfbewegung mechanisch mitwippt, ihre Augen wirken verquollen, die Lippen sind grellrot geschminkt, und sie riecht nach einem schweren, süßlichen Parfüm, aber auch nach Likör. Tränen rinnen ihr über die Wangen und hinterlassen schwarze Spuren; zittrig nestelt sie an ihrer Handtasche herum und flüstert dem Kind dabei leise und verloren ins Ohr: »Cornelius, mein Junge, mein lieber Junge.«

Er ahnt, dass die Großmutter, dass Lena im Türrahmen steht und die Szene mit Argwohn verfolgt. Ohnmächtig seufzend schickt sich die unglückliche Bertha ins Unvermeidliche und wendet sich zum Gehen. Am nächsten Morgen liegt auf dem Nachttisch ein neuer Lederstrumpf.

nichtentflammtes gas strömt aus dem herd und hüllt unsichtbar den kopf des jungen ein von einem niedrigen schemel den er erklommen hat um nase und mund an die angelaufene glasscheibe des küchenfensters zu drücken erfolgt ein rückwärtiger sturz in tiefe ohnmacht anschließendes erwachen daraus in einem hohen lichten weißgekachelten raum der kinderklinik behaubte englische schwestern in gestärkter gebleichter tracht schweben geschäftig um ihn herum lächeln ihm zu reiben ihn mit streng riechenden tinkturen ein legen ihm bandagen an schütteln kissen auf und lassen ihn dann wieder allein das tosen der stille schwillt an zu einem wilden schrei

Im Juchhe, der Mansardenwohnung unter der Dachschräge, ein Stockwerk oberhalb der großelterlichen Wohnung, lebt ein Herr namens Klein, ein kahlköpfiger Mann, untersetzt und beleibt, der sich in Gesellschaft betont jovial zu geben pflegt. Brav auf den Fuß folgt ihm ein alter zottelig-schwarzer Hirtenhund, den er Tyras ruft. Wenn Cornelius Schluckauf hat, gilt sein erster Gedanke meist dem Herrn Klein, denn ein altes, angeblich probates Hausmittel gegen Schluckauf besteht darin, sich mindestens dreier Menschen zu entsinnen, deren Kopf eine möglichst vollkommene Glatze schmückt.

Herr Klein ist ein pensionierter Beamter, der alle Tage der Gartensaison, in kurzen Hosen steckend, in einem gleich hinter der Häuserreihe gelegenen, immer ordentlich in Schuss gehaltenen Schrebergarten zubringt, in dessen Beeten mit der Messlatte exakt aufgereihte Salatköpfe salutieren, Bohnenstangen ordentlich Spalier stehen und gigantische Rettiche wurzeln. Jeden, der zufällig des Weges kommt und genug Muße für das Anhören seiner unerschöpflichen Tiraden erübrigen kann, zieht er gleich ins Vertrauen und macht den bedauernswerten Opfern anhand von wahllosen, aus der Zeitung gegriffenen Beispielen über den Staketenzaun hinweg klar, wie wirr und verwerflich die vom allgemeinen Sittenverfall betroffene Gegenwart ist, ein übel riechender, alles in sein Verderben ziehender Morast. Wie die Blechnerin gehört er zu der Sorte Mensch, die so ungeheuer rechtschaffen ist, dass sich ihr das Universum als eine einzige, wirre Abweichung darstellt.

Früher, unter einem gewissen Herrn Hitler, habe es das alles nicht gegeben, pflegt der abgehalfterte Bürohengst dann abschließend zu sagen, nachdem er zuvor ausgiebig auf von »Amiflitscherln« produzierte farbige Besatzungskinder, einen in der Nachbarschaft verübten Diebstahl oder eine Schlägerei, gar eine Messerstecherei unter italienischen Arbeitern zu sprechen gekommen war. Letztere werden von ihm stets abfällig »Itaker«, des Öfteren auch »Katzelmacher« genannt und hausen, dem Vernehmen nach, am anderen Isarufer in unreinen, schäbigen Baracken.