Steffen Ziegler

 

 

 

Keltenkind

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

STEFFEN ZIEGLER

 

 

 

K e l t e n k i n d

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schwarzdorn-Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

© Copyright 2018

1. Auflage

Schwarzdorn-Verlag

 

Illustrationen: Anke Eißmann, Herborn

Gestaltung des Einbandes: Agentur FederhenSchneider, Siegen/Köln

 

www.keltenkind.de

 

 

 

„Wild verstreut liegt der Basalt,

Düstre Wolken jagen.

Über Halm und Dorn und Wald

Will die Nacht den Mantel bald

Leise um mich schlagen.

 

Rascheln – Flüstern ringsumher,

Windeslied in Zweigen.

In den Tälern grau und schwer

Kriecht der nasse Nebel her.

Bald wird alles schweigen.“

 

aus dem Gedicht „Westerwald“

des Herborners Heinzcarl Bender (1904-1978)

 

 

 

Band II

 

 

Seltsam. Auch der heutige Morgen hüllt sich in Stille.

Nur die Brandung ist zu erahnen. Ob es der Wille

Jupiters1 ist, mir erneut die nötige Ruhe zu schenken,

Jener Liebe, die einst Germania gebar, zu gedenken?

 

Möglicherweise. So will ich beginnen, mehr zu erzählen.

Möge Minerva2 mir helfen, die rechten Worte zu wählen!

Auch Apollo3 steh’ mir – bei allem, was ich berichte –

Bei! – Vor allem in jenen Passagen, in denen ich dichte.

 

Einiges will ich indes so wie gestern auch wieder bebildern,

Um Dir das Leben von Luna und Velent genaustens zu schildern.

Bleibt doch mein Ziel, dass ich seine Gründe dafür erhelle,

Sie zu verlassen. Und ganz nebenbei: Die einzige Quelle

Bleibt für mich Lunas Brief. Bei seinen poetischsten Zeilen

Wollen wir nun zu Beginn dieses Tages ein wenig verweilen.

 

 

*

 

 

 

 

Lunas Geschichte der verwunschenen Götterkinder

 

Image

 

Ich möchte Dir eine kurze Geschichte erzählen und ich vertraue darauf, dass Du nicht lachen wirst, wenn Du sie liest.

Es ist die Geschichte zweier Götterkinder. Ich sah sie ein ums andere Mal; es ist schon Jahre her. Beim ersten Mal saß ich so still am Ufer der Logana, dass ich annehmen darf, dass sie mich einfach übersahen, versunken in ihr Liebesspiel.

Es fällt mir schwer, Dir zu beschreiben, was genau es war, das sie beim ersten Mal verriet. Es war nicht viel, das anders war als sonst im leichten Nebel eines gerade erst geborenen Tages. Doch etwas schon.

Nicht jeder Nebel, musst Du wissen, ist, obwohl er auf den ersten Blick so wirken mag, tatsächlich leicht. Doch dieser, in der Mitte all des andren Nebels, war es, sogar auf ganz besondre Weise. Er war so leicht wie eine Feder, so leicht wie Atem oder feinster Rauch. Er hatte gar nichts Schweres, so gar nichts Träges. Auch müde, kalt und feucht schien er mir nicht zu sein. Doch kann ich dies nicht mit Gewissheit sagen, war ich ihm dafür letztlich doch nicht nah genug. Was ich hingegen sagen kann, ist, und dies ist es, was mich stutzig werden ließ: Fremd schien ihm jede Art von Traurigkeit, die eigentlich jedem Nebel eigen ist. Jener wirkte heiter und gelöst auf mich, ja, glücklich.

Und auch der Fluss erschien mir fremd. Die Wasseroberfläche schien zu zittern oder, vielleicht noch treffender gesagt, ganz leicht zu flackern, auf einem unterschiedlich breiten Fleck in seiner Mitte.

Womöglich hätte ich es übersehen, so leicht war es, dieses Vibrieren. Doch in Verbindung mit der eleganten, dünnen, lang gezognen Nebelschwade, die zärtlich über diese Fläche strich, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass dort zwei Wesen aufeinandertrafen, zwei Wesen, fast wie wir.

Ich sah sie als zwei Götterkinder zweier mächtiger Geschlechter, die sich so hoffnungslos zerstritten hatten, dass die bekannt gewordene Liebe ihrer Kinder für alle Zeit verboten worden war. Doch Liebe lässt sich nicht verbieten; sie findet ihren Weg. In diesem Fall auch ihre Zeit und ihren Ort:

Die Dämmerung am Fluss, wenn leichten Nebel er gebärt. Denn gerade dann kann es geschehen, dass die, von den zerstrittnen Göttervätern einst mit viel Bedacht erwählten, sonst pflichtbewussten Wächter über Tag und Nacht, sich um ein paar Augenblicke nur verpassen.

Wir alle kennen sie als kurze, ganz besondere Momente, in denen selbst die Zeit den Atem anzuhalten scheint. In denen alles sonderbar verschwimmt. Momente, die nicht Tag sind und nicht Nacht, nicht Sommer und nicht Winter, nicht Leben und nicht Tod. In denen selbst der stete Wandel innehält, Pendel und Waage in der Mitte stehen. Die selbst der Wind nicht stören mag.

Es sind diese Momente, in denen alles ist und nichts. In denen kein Gesetz bestehen, keine Regel gelten und kein Fluch mehr währen muss. Die ihren eignen Zauber haben und auf die Verwunschne wie Verdammte deshalb nicht nur in alten Mären hoffen dürfen.

Ja, ich glaube, in sie hinein schlüpften die Götterkinder. Als feinster Wasserschleier und als dünnster Wasserspiegel.

Ich saß nur still und staunte. Wie sie sich lockten, streiften, küssten. Wie sie sich aneinanderschmiegten. Wie schwerelos die Nebelschwade aufstieg, zuweilen rauchgleich fast in leichten Wirbeln. Und wie liebestrunken sie sich dann alsbald auch wieder fallen, nein, viel eher niedersinken ließ.

War er der Nebel oder sie? Oder tauschten sie gar ihre Rollen?

Wer wären wir? Mal sehe ich Dich als Nebel; dann wieder mich.

Was wohl aus ihnen geworden ist? Ich habe sie lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch saß ich auch lange nicht mehr alleine am Ufer des Flusses. Die Wirren des Krieges verbaten es mir.

Du wirst es kaum wissen, aber dort saß ich im Übrigen auch, um jenen ersten Brief zu lesen, den Du mir vor zehn Jahren hast zukommen lassen.

 

 

*

 

 

Nah’ den Ruinen Artaouns war es Venus4 gelungen –

Wie Du ja weißt –, das Herz des nun vierzehnjährigen Jungen,

Welches gerade zur Reife gelangt war, sanft zu erwärmen.

Wieder zuhause, neigte er folglich zum träumenden Schwärmen.

 

Degenar fiel es nicht schwer, die Blicke des Knaben zu lesen.

Lächelnd meinte er schließlich, auch er sei ein Jüngling gewesen.

Sicher sei Velent gescheiter als er und würde es wagen,

Jenem Mädchen, wer immer es sei, die Wahrheit zu sagen.

Dass er sie gerne mal träfe und spräche und oft an sie denke.

Anders sei es kaum möglich, dass sie ihm Zuwendung schenke.

 

Nun, es mag Dich nicht überraschen: Weil Velent sich schämte,

Lief er davon. Was sein Schwärmen indes nur kurzzeitig lähmte.

Glaubte er sich alleine, hörte man ihn sogar flöten!

Gleichzeitig sollten die Wangen des Knaben nicht selten erröten.

 

Anders als andre neigte er aber niemals zum Prahlen,

Seins war es eher, ein stilles „L“ auf den Boden zu malen.

Oder – seufzend und selig zugleich – den Mond zu betrachten.

Was sicher vor ihm schon viele andere Schwärmende machten.

Aber zusammengenommen half dies dem Schmied zu erraten,

Wen er verehrte. Degenar zwang sich, noch etwas zu warten,

Dann riet er Velent – als könne er kein Wässerchen trüben –,

Weil sein Latein nicht gut sei, sich öfters im Schreiben zu üben.

 

Diese Fertigkeit könne sich durchaus als nützlich erweisen.

Auch, um die Anmut und sanfte Art eines Mädchens zu preisen,

Welches womöglich außerhalb seiner Reichweite lebe.

Und der er einen Brief schreiben könne, wenn er danach strebe.

 

Wieder lief Velent davon. Indes in den kommenden Tagen

Sah man ihn tatsächlich beim Üben. Aber behagen

Sollte ihm die Lernerei nicht. Als nutzloses Schinden

Sah er sie an, misslang es zunächst doch, Wörter zu finden,

Um auch nur einen Anfang des Briefes an Luna zu machen!

Was auch immer er schrieb, sie würde es sicher belachen!

 

Folglich sollte Velent hart um jedes Wort ringen.

Doch nach schier endlosen Mühen sollte es letztlich gelingen.

Velent war halbwegs zufrieden. Er hatte Luna geschrieben!

Durch einen Händler erhielt sie den Brief und sollte ihn lieben!

 

 

Wieder und wieder las ich den Brief, den Du mir sandtest. Er war mir unendlich teuer. Dann war er plötzlich verschwunden. Ich suchte ihn, überall. Und nicht weniger verzweifelt als Jahre später Deine Kette. Doch fand ich ihn nirgends.

Und ich ahnte auch nicht, wer ihn mir genommen haben könnte.

 

*

 

 

Bild I

10 Jahre vor Lunas Brief an Velent –

im Marktflecken Mattiacum an der Logana

 

 

„Herr, Titus Postumus ist eingetroffen!“

Gewissenhaft unterrichtete Menelaos seinen Herrn von der Ankunft des hohen Gastes. Doch Quirin blickte nicht einmal auf. Er lag mit zwei Männern zu Tisch. Während der eine ein klein wenig älter als Quirin war und vor allem durch sein schlichtes, langes Priestergewand auffiel, bestach der andere, deutlich jüngere Mann durch seinen muskulösen Körper, der jedem Gladiator zur Ehre gereicht hätte.

„Ave, Aulus!“, grüßte der Grieche zunächst Letzteren, aber der Angesprochene antwortete nicht. Was Menelaos nicht weiter verwunderte. Aulus kaufte und verkaufte Sklaven, aber er gab sich in der Regel nicht mit ihnen ab.

Tray, der einflussreichste Priester der Matthen im Bereich der mittleren Logana, war da aus anderem Holz geschnitzt. Ja, er kam dem Gruß des Griechen sogar zuvor: „Ave, Menelaos!“

Der Grieche nickte zurück – mehr höflich als freundlich. Er mochte den Priester noch weniger als den Sklavenhändler. Zwar neigten beide zum Prahlen, Aulus indes war zugleich ein so ungebildeter Mensch, dass Menelaos beinahe schon Mitleid mit ihm hatte. Nicht so mit Tray, sah er den leicht graubärtigen Matthen doch – so wie sich selbst auch – als einen Mann des Geistes. Und gerade deshalb warf er ihm gleichsam vor, was er Aulus verzieh: dass er – nicht anders als der Sklavenhändler – für Geld so ziemlich alles getan hätte. Womit sie bei Quirin in bester Gesellschaft waren. Ohne Frage lagen mit diesen dreien die reichsten Männer Mattiacums beisammen.

 

Kaum sichtbar schüttelte Menelaos den Kopf und blickte nun – auch um sich abzulenken – zu Luna hinüber. Das Mädchen, das er wie kein zweites mochte, saß ein gutes Stück abseits der drei tafelnden Männer auf einem Hocker und übte sich, wie er es ihr aufgetragen hatte – eine Wachstafel und einen Griffel in den Händen – im Rechnen. Ihr Lächeln tat ihm gut. Menelaos erwiderte es mit einem leichten Seufzer. Dann schaute er zurück zu Aulus, der sich – wie er längst wusste – so gut wie nie darum scherte, was andere wohl gerade von ihm dachten. Gänzlich ungeniert hatte der bullige Sklavenhändler soeben dem Druck in seinem Inneren nachgegeben und lauthals aufgestoßen.

Ob es wohl einen Menschen geben mag, der Dir noch weniger ähnelt als dieser Mann?, fuhr es Menelaos durch den Kopf.

Aulus war tatsächlich gänzlich ungehobelt. Zwar pflegte er sich in teuerstes Tuch zu hüllen, doch nur, um sich bei Bedarf – wie nun auch wieder – völlig ungeniert mit dem Ärmel über den vom Essen verschmierten Mund zu fahren.

Das wohl Einzige, was ihn mit diesem Menschen verband, war die Tatsache, dass auch Aulus einst als Sklave groß geworden war. Doch vor etwa zehn Jahren hatte er sich, wie er gerne erzählte, zurück in die Freiheit und damit ins Leben gekämpft.

 

„Stell Dir vor: Diese Muscheln sind teurer als Du!“, riss Quirin Menelaos aus seinen Gedanken. Er deutete auf die Austern, die er sich hatte kommen lassen.

Der Grieche war nicht weiter überrascht. Überrascht war er gewesen, als er von dieser Bestellung erfahren hatte. Sie war ihm nicht verborgen geblieben. Schließlich war er es, der einen Großteil der Geschäfte seines Herrn führte. Und dazu gehörte es auch, den Einkauf für seine Küche zu überwachen. Austern hatte sich in diesem Haus noch niemand zu bestellen gewagt! Und auch der helle Wein, den die drei sich zu den Austern gönnten, war alles andere als billig gewesen.

Auf der anderen Seite hatten Aulus und Tray Quirin – und mit ihm die wichtigen Männer Mattiacums – schon so oft zum Essen eingeladen und dabei nie gespart, dass sein Herr kaum noch anders gekonnt hatte, als auch sie einmal einzuladen. Trotzdem hätte er nie damit gerechnet, dass Quirin sich dieses Essen so viel Geld würde kosten lassen. Aber den Grund dafür sollte er nun erfahren.

 

„Man sammelt sie hoch im Norden“, erklärte Quirin zunächst noch, was Menelaos ohnehin wusste. „Am fliehenden Meer und bringt sie von dort bis zu uns. Mit einem Schnellboot, sonst verderben sie. Trotz des Eises, in das man sie unterwegs packt. Das kostet Unsummen. Ich habe noch niemals etwas so Teures gegessen! Und schmecken sie? Nein! Aber bevor diese Geiseln mein letztes Geld bekommen, das ich nicht ohnehin schon nach Mogontiacum zu schicken hatte, schlinge ich es lieber selbst herunter! – Ach!“

Verärgert schleuderte er die Auster in seinen Händen zu Boden und versuchte, seinen Ärger mit einem kräftigen Schluck Wein hinunterzuspülen.

„Lass sie mich bezahlen, wenn sie Dir nicht schmecken!“, gab sich Aulus gönnerhaft. „Als kleine Anerkennung für Deinen Hinweis, dass es sich auch für mich lohnen könnte, meine Hände – so wie Du – ein wenig nach Naoun auszustrecken. Das hat es!“

„Das freut mich!“, entgegnete Quirin und versuchte vergeblich, seinen Unmut zu überspielen.

„Also, was ist?“, hakte Aulus nach. „Soll ich die Muscheln bezahlen? Ich lade Euch ein! – Wäre ja nicht das erste Mal …“

Quirin überhörte die spitze Note seines Gastes. Er schien sich gefangen zu haben. „Zu gütig, danke!“, säuselte er leicht nickend, doch nur, um im nächsten Moment Menelaos fauchend anzufahren: „Nun sag schon, wie viele es sind! Drei? Vier? Fünf?“

 

Auch Tray schaute den Griechen nun gespannt an. Nicht anders als Luna. Längst hatte sie Wachstafel und Griffel sinken lassen und blickte zu Menelaos hinüber.

Der Grieche machte indes noch keine Anstalten zu antworten, sah er doch seinem Herrn an, dass seine Wutrede noch längst nicht vorbei war.

„Was fällt Domitius ein, seine Kosten auf mich abzuwälzen?“, wetterte dieser im nächsten Moment auch gleich weiter. „Ich könnte wetten, dass Augustus die Geiseln zu ihm geschickt hat! Zu ihm, nach Mogontiacum, verstehst Ihr?! Nicht zu mir! Er ist der Statthalter, nicht ich! Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich mir einmal Tiberius zurückwünschen würde, aber es ist so! Nicht genug damit, dass Domitius die Steuern ständig erhöht und sie immer früher haben will, nun soll ich auch noch seine Gäste aushalten! Was wird er wohl als Nächstes verlangen, damit er mich in diesem erbärmlichen Amt hält? Dass ich ihm eine Villa an den Weitehain baue? Am besten baue ich ihm seinen Scheiß-Tempel direkt daneben!“

 

Menelaos verkniff sich ein Widerwort. Sein Herr mochte es nicht, wenn er ihn belehrte. Auch wenn es in diesem Fall angebracht gewesen wäre. Schließlich hatte Domitius’ Vorgänger, Tiberius, den germanischen Stämmen des Umlandes beim Wiederaufbau des Forums drei Jahre zuvor ein Versprechen gegeben, um den Frieden im Lande zu wahren. Er hatte ihnen sein Wort gegeben, dass nie wieder ein Tempel nahe der heiligen Gräber der Valkyrjen errichtet würde.

Wovon Tray mittlerweile sicher am meisten profitierte. Schließlich war er es, der bereits kurz nach der Gründung Mattiacums den Handel mit angeblichen Hinterlassenschaften der heiligen Frauen zunächst an die Gräber und dann unlängst – nachdem seine Stände mehrfach von aufgebrachten Chatten verwüstet worden waren – aufs Forum getragen hatte. Sehr zur Freude Quirins, der nun an diesem Handel kräftig mitverdiente.

Ein Tempelbau, wie ihn Domitius einforderte, hätte ihn indes erst einmal ein kleines Vermögen gekostet. Menelaos wusste dies alles, aber dies waren – wie erwähnt – weder der Ort noch die Zeit, darüber zu reden.

„Es sind zwei, Herr“, meinte er deshalb in versöhnlichem Ton. „Zwei Geiseln. Und des Titus’ Tochter.“ Er schaute kurz zu Luna hinüber, die seinen Blick mit fragenden und zugleich erwartungsfrohen Augen erwiderte. Denn allzu viele römische Mädchen gab es in Mattiacum nicht.

„Seine Tochter?“, mischte sich Tray ungefragt ein, und Aulus ergänzte: „Wie alt ist sie denn, wenn ich fragen darf?“ Er gab sich keine Mühe, den lüsternen Klang in seiner Stimme zu verbergen.

Möglicherweise hätte Menelaos dem Sklavenhändler geantwortet, nicht zuletzt, um auch Luna wissen zu lassen, dass jenes Mädchen sicher nur drei, vier Jahre älter als sie selbst war, aber Quirin ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Anstatt sich zu freuen, dass er bis auf Weiteres nur für zwei und nicht – wie er befürchtet hatte – für drei, vier oder gar fünf germanische Geiseln aufzukommen hatte, hob er beschwörend die Hände zum Himmel. „Was schleppt dieser Kerl denn seine Tochter hier an? Glaubt er, dass ich im Geld bade?“

 

 

Durch die Tür, die Menelaos einen breiten Spalt hatte offen stehen lassen, drangen Stimmen herein. Sie wurden rasch lauter.

Gallus, ein eher schmächtiger, aber sehr gewissenhafter Sklave, der in Quirins Villa seit geraumer Zeit für Ordnung sorgte, betrat – den Kopf geneigt – den Raum.

„Titus Post…“, versuchte er noch den Besuch anzukündigen, da drängte der junge Prokurator ihn bereits zur Seite und spazierte wie selbstverständlich herein. Er war etwas jünger als Quirin und zudem weitaus schlanker. Aber nicht nur deshalb warf seine Toga deutlich mehr Falten als die des Marktherrn. Sie muss ein kleines Vermögen gekostet haben, hatten jener, Aulus und Tray den gleichen Gedanken. Luna kannte sich in solcherlei Dingen noch nicht aus, was sich aber bald ändern sollte.

„Ihr seid Quirin, der Marktherr dieses Ortes?“, näherte sich Titus der Liege ihres Onkels und hob auf dessen kurzes Nicken hin die Hand zum Gruß. Sein „Ave!“ klang indes eher ungehalten.

„Ave! Ave, Postumus!“, entgegnete Quirin höflich, stand aber nicht einmal auf. Stattdessen hieß er Gallus mit knapper Geste zu gehen, um sodann beinahe beiläufig auf seine Tischnachbarn zu deuten. „Falls Ihr eine Sklavin für Euren Aufenthalt wünscht: das ist Aulus. Er handelt mit ihnen. Und Tray sorgt sich um das Seelenheil unserer germanischen Freunde. Womit ihr die wichtigsten Männer in unserem bescheidenen Ort bereits kennengelernt habt!“

„Ave!“, nickte Tray und hob nun – nicht anders als sein Tischnachbar Aulus – ebenfalls kurz die Hand. „Ihr seid recht früh“, ergänzte der Sklavenhändler.

„Früh?“, entgegnete Titus verwundert. „Wir sind fast einen halben Tag zu spät! Dieser Ort liegt ja im Nichts! Und Euer Fluss ist ein Bach! Unser Schiff, ach, was sag ich! Unser Kahn setzte wieder und wieder auf!“

„Ja, es hat recht wenig geregnet in letzter Zeit“, stimmte ihm Quirin gelangweilt zu. „Im Allgemeinen ein Segen, nur für die Boote, da habt Ihr Recht –“

„Habt Ihr denn keine Straßen hier?“, fiel ihm der Legat ins Wort.

„Nun, es braucht seine Zeit!“, entgegnete Quirin. Er rang sich ein eher gequält wirkendes Lächeln ab. „Das habe ich Euch in Mogontiacum auch wieder und wieder ´wissen lassen! Ich habe Euch gleich mehrere Briefe zukommen lassen! Mattiacum ist noch nicht so weit! Es dauert hier alles ein wenig länger! Überzeugt Euch davon! Oder – wenn Euch das langweilt, was ich Euch nicht verdenken könnte – kommt in einem Jahr noch einmal vorbei! Ja! Ich bin mir sicher, wenn Ihr im kommenden Jahr noch einmal wiederkämt, wäre sicher Vieles hier zu Eurer Zufriedenheit! In einem Jahr, aber nicht jetzt!“

 

Quirin gönnte seiner Ausführung, die er in den Tagen zuvor mehrmals durchdacht hatte, eine kurze Pause, dann fuhr er mit leicht gesenkter Stimme fort: „Wir wären Euch übrigens sehr verbunden und würden womöglich sogar einen Weg finden, unsere Dankbarkeit auszudrücken, wenn dies die Erkenntnis wäre, die Ihr möglichst bald wieder mit nach Mogontiacum nehmt: dass Mattiacum noch Zeit braucht!“

Er ließ seinen Worten erneut etwas Raum, dann schloss er zusammenfassend: „Im Moment seid Ihr gleichsam noch am falschen Ort! So leid es mir tut: Wir sind noch nicht so weit, als dass man uns zur Stadt erheben sollte!“

 

„Diesen Eindruck habe ich allerdings auch!“, vernahmen die Männer eine helle Stimme und blickten zur Tür.

Eine junge Frau betrat den Raum und blickte sich kopfschüttelnd um. Ihr Gesicht war hell geschminkt, ihre Augen dafür umso dunkler. Wobei man ihr ansah, dass sie noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich nach ihrer Ankunft herzurichten.

„Livia, die Tochter des Postumus“, stellte Menelaos die auffallende Erscheinung vor. Ihm war bereits am Hafen aufgefallen, wie teuer und doch geschmackvoll sie gekleidet war. Ihre Tunica war aus feinstem Leinen. Ihr ockerfarbener Ton fand auf den Lippen der jungen Frau ein blasses Echo, so wie das dunkle Rosa ihres breiten, langen Seidenschals auf ihren Wangen. Ein hoher Gürtel stützte ihre Brust. Auch ihre Haare trug sie recht ungewöhnlich. Sie waren zu mehreren kleineren und größeren Zöpfen verflochten, die kunstvoll zusammengelegt waren und entfernt an ein Schlangennest erinnerten. Durchsetzt waren sie von kleinen Netzen und Bändern. Einige Strähnen schienen rot gefärbt. Sie trug gleich mehrere Ohrringe, dazu Ketten, Ringe und Reife.

Aulus konnte seine Augen kaum von ihr lassen. Ihre Erscheinung verriet Geschmack und war vulgär zugleich. Zumindest ein wenig. Auf eine Stola oder Palla verzichtete sie gleich ganz. Es schien zu ihrem Spiel zu gehören, ihre Jugend und ihre Unverfrorenheit zugleich und unverhohlen zur Schau zu stellen.

Auch Luna war sichtbar beeindruckt. Doch aus anderem Grund. Denn seit geraumer Zeit litt sie zuweilen darunter, sich nicht ein wenig weiblicher kleiden und geben zu dürfen. Aber bislang war ihr Onkel nicht bereit gewesen, dafür Geld auszugeben.

Entsprechend mitleidig und kurz hatte Livia sie beim Betreten des Raumes gemustert. Dass Menelaos die Legatentochter dabei beobachtet hatte, war jener nicht aufgefallen. Aber es hätte sie auch nicht weiter gestört. Im Gegenteil. Alles an ihr war ja darauf ausgelegt, aufzufallen und betrachtet zu werden.

Der Grieche wiederum liebte die Freiheit im Geiste. Interessiert versuchte er zu ergründen, welcher Mensch sich hinter dieser aufwendig inszenierten Fassade verbarg. Er versuchte, hinter die Kulisse des Theaters zu blicken, das Livia ohne Frage beschlossen hatte, aus ihrem Auftritt zu machen. Zugleich genoss er aber auch den lieblichen Geruch des teuren Öls, das sie ihrer Haut gegönnt hatte.

 

„Wo hast Du uns nur hingebracht, Vater?“ Fassungslos schaute sich Livia um. Dies sollte das Haus des Marktherrn sein? „Ans Ende der Welt! Es kann nicht anders sein!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Keine Fresken an den Wänden, nur hier und da etwas Stoff. Keine Pflanzen in Schalen oder Töpfen. Kein Mosaik auf dem Boden, nur hier und da das Fell eines Tieres. Vermutlich gab es hier noch nicht einmal eine Fußbodenheizung! Und hier sollte sie nach dem Willen ihres Vaters wohnen? „Bei allen Göttern!“, trat sie an die drei Statuen zu ihrer Rechten heran. „Die sind tatsächlich aus Holz!“

Aulus lachte leise auf. „Meine sind aus Marmor!“, warf er großkotzig aus dem Hintergrund ein. „Ich zeig sie Euch gerne einmal!“

 

Quirin rang sich ein Lächeln ab und blickte zu Titus. „Ihr tätet Livia sicher einen Gefallen, wenn Ihr nicht länger als nötig bleiben würdet …“

„Tja, ich weiß nicht“, entgegnete der Prokurator unschlüssig. „Es hat ja seinen Grund, warum sie mich begleitet. Sie brachte es nicht übers Herz, sich von ihren Freundinnen zu trennen. Thusnelda und Claudia. Und die haben ja bei Euch zu bleiben.“

„Die beiden Geiseln aus Rom“, flüsterte Menelaos seinem Herrn zu. „Die Töchter von Segestes und Bandomir.“

Tray, der des Griechen Worte verstanden hatte, nickte wissend, während Quirin nur missmutig seufzte. „Ja, das werden sie wohl: bei mir bleiben. Und ich hoffe, sie sind zufrieden mit den bescheidenen Unterkünften, die Mattiacum ihnen bieten kann.“

Nun nickte Titus. „Ja, sie richten sich gerade ein. Sehr viel Platz ist dort ja nicht! Aber meine Tochter und ich werden ja ohnehin bei Euch wohnen.“

Quirin rang mit seiner Fassung. Nicht minder verzog Livia ihr Gesicht.

„Hier?“, fuhr sie zischend herum. „Das kann nicht Dein Ernst sein!“

„Nun lass uns doch erst einmal ankommen!“, versuchte Titus seine Tochter zu besänftigen.   „Und sag nicht, ich hätte Dir nicht gesagt, dass es sich hier ein wenig zu bescheiden gilt!“

„Ein wenig?“, lachte Livia verächtlich auf. „Wo soll ich hier eigentlich baden? Im Fluss?“

 

Im nächsten Moment betrat noch einmal Gallus den Raum. „Die Träger“, kündigte er die Sklaven an, die ihm folgten. „Wohin sollen sie mit dem Gepäck?“

Quirin kochte innerlich vor Wut, doch gelang es ihm, sich nichts anmerken zu lassen. Hilfe suchend schaute er sich kurz nach Aulus um, doch der Sklavenhändler tat ihm nicht den Gefallen, den Legaten und seine Tochter in seine Villa einzuladen. „In meine Kam…, in mein Gemach!“, entschied Quirin deshalb. „Ich schlafe dann hier!“

Gallus nickte. Die Träger drehten ab, und Titus breitete zufrieden den Arm aus, um Livia nach draußen zu bitten. Sie indes zog es noch einmal kurz zu Aulus’ Liege. Als sei er gar nicht da, beugte sie sich langsam über ihn; doch war sie sich durchaus bewusst, dass die Falten ihres Gewandes sein Gesicht streiften. „Austern! Immerhin etwas!“, seufzte sie und nahm sich gleich die ganze Schüssel, die auf dem kleinen Tisch zwischen den Liegen stand. Halbwegs versöhnt ging sie zur Tür, um Aulus im Hinausgehen noch einen kurzen, frechen Blick zu gönnen.

Der Sklavenhändler genoss ihn schweigend und selbstsicher; Quirin indes musste an sich halten, nicht laut aufzuschreien! Er presste die Lippen aufeinander, bis er seine Gäste weit genug entfernt glaubte. Dann aber brach es klagend aus ihm heraus:

„Was habe ich den Göttern getan!“, flehte er. „Was? Was? Wehe Titus, wenn er Mattiacum zur Stadt erklärt!“

„Ich verstehe, dass Du keine Lust hast, Dich ständig irgendwelchen Wahlen zu stellen“, zeigte Aulus Verständnis. „Am Ende käme ich noch auf die Idee, mich wählen zu lassen!“

Tray lachte – wie er es oft und gerne, nein, genauer: nahezu wahllos tat –, während Quirin dem Sklavenhändler einen bangen Blick zuwarf, der sich erst entspannte, da Aulus schließlich lauthals in des Priesters Lachen einstimmte.

„Haha! Du solltest Dir mehr Entspannung gönnen! Wirklich, glaub mir! Preise meine Sklavinnen nicht irgendwelchen dahergelaufenen Legaten an, sondern gönne Dir selbst mal wieder eine! Du weißt, dass ich Dir Vorzugspreise gewähre!“

Quirin ging nicht weiter auf Aulus’ Angebot ein, stattdessen wies er Menelaos barsch zurecht. „Du erfüllst ihm jeden Wunsch! Hörst Du? Jeden! Und wenn ihm danach ist, bückst Du Dich auch für ihn!“

Verzweifelt schüttelte Lunas Onkel den Kopf. Aulus hatte Recht. Er war in den Norden gezogen, um Geld zu verdienen, um reich zu werden und nicht, um arm zu werden, weil er sich die Gunst irgendwelcher Wähler zu erkaufen hatte. Er kannte die Überlegungen, Mattiacum zur Stadt zu erklären, aber er hielt nichts von ihnen!

 

„Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Luna sich mit Livia anfreunden würde“, wechselte Menelaos das Thema.

„Luna?“ Quirin blickte zunächst sein Mündel und dann seinen Sklaven überrascht an.

„Ja“, nickte der Grieche. Zwar war es ihm bislang immer wichtiger gewesen, das Innere seiner Schülerin zu formen, doch ahnte er auch, dass Luna mittlerweile durchaus Gefallen an ein paar neuen Gewändern und Schuhen finden würde. Deshalb kam es ihm recht gelegen, was Aulus in seiner direkten Art im nächsten Moment zu bedenken gab: „Ich fürchte, diese Livia wird sie kaum beachten. So wie sie derzeit gekleidet ist ...“

Erneut fiel Quirins Blick auf Luna. Er überlegte einen Moment, dann entschied er: „Kauf ihr, was nötig ist! – Aber auch nicht mehr! Und keine zu teuren Schuhe!“

 

Ein Räuspern ließ ihn erneut zur Tür schauen.

„Was gibt es schon wieder?“, fuhr er Gallus an.

Man sah dem Hausdiener an, wie unangenehm ihm die Botschaft war, die er zu überbringen hatte. „Livia verlangt nach einer Wanne“, meinte er kleinlaut. „Und heißem Wasser!“ Er schaute unter sich, als würde er im nächsten Moment Schläge erwarten.

Aulus lachte laut auf. Tray stimmte ein. Quirin indes schloss die Augen und atmete erneut tief durch. Es dauerte einen Moment, bis er sie wieder öffnete. Er blickte Menelaos an und zischte: „Kümmere Dich darum!“ Er zögerte einen weiteren Moment, dann fuhr er fort: „Und sieh zu, dass die Wanne mit genügend Wasser gefüllt wird! Dann wird es mir leichterfallen, diese Schlampe zu ertränken!“

 

**

 

 

Mit Livias Ankunft hier in Mattiacum veränderte sich Vieles. Ich hätte anfangs nicht mal zu hoffen gewagt, dass sie mich groß beachten würde. Unsere Welten konnten ja kaum unterschiedlicher sein. Heute aber glaube ich eher, dass sie mehr und mehr Gefallen an der Rolle fand, die die anfangs so widrig erscheinenden Umstände ihr zu spielen erlaubten. Wo konnte sie mehr im Mittelpunkt stehen als in einem Ort, der Rom weiter entfernt schien als jeder andere? Hier war Livia Rom! Die Mädchen himmelten sie an. Wer sich gut mit ihr stand, erfuhr von ihr sogar die Namen einiger Gladiatoren, die gerade in Rom umjubelt wurden.

Und selbst den Frauen wurde sie zum Maßstab, welche Stoffe gekauft, welche Farben gewählt, welche Frisuren gesteckt, welche Schmuckstücke gefertigt und welche Schuhe getragen wurden – gleichwohl sie sich ob ihrer frivolen Art ihre Mäuler hinter vorgehaltener Hand über sie zerrissen.

Mich kümmerte das nicht weiter. Ich genoss es, mich Livia annähern zu dürfen. Nicht zuletzt, weil es mir ihretwillen gestattet wurde, mich so zu verändern, wie ich hoffte, dass es Dir gefallen könnte.

Gleichzeitig schien es sie zu stören, dass meine Gedanken nicht nur um sie kreisten. Nur deshalb bot sie wohl an, mein Antwortschreiben an Dich von den Boten ihres Vaters überbringen zu lassen. Selbst ihr hätte ich es indes nicht zugetraut, dass sie einen Brief in meinem Namen an Dich schreiben und gleichzeitig unsere Zeilen aneinander verbrennen würde.

Ich muss lachen, Velent. Denn immerhin brannten sie gemeinsam!

Aber Dir war sicher nicht nach Lachen zumute. Welches Bild musst Du von mir angesichts Ihrer Zeilen gehabt haben!

 

*

 

 

Velent hielt Lunas vermeintlichen Brief in zittrigen Händen.

Jedes Wort schien geeignet, sein Schwärmen jäh zu beenden.

Oh, wie laut sollten sie in seinen Ohren doch dröhnen!

Jene, der er sich geöffnet hatte, schien ihn zu verhöhnen.

 

Traurig versuchte er, jeden Gedanken an sie zu verdrängen,

Suchte Streit und trank Bier – zuweilen in größeren Mengen.

Einmal ließ er sich gar von Swidger zum Wetten verleiten.

So verlor Velent für ein Jahr sein Recht an ihn, Adlan zu reiten.

 

 

Doch etwas andres sollte den Ubier noch tiefer berühren.

Viele im Dorf – selbst Swidger – ließen ihn mehr denn je spüren,

Dass er keiner von ihnen war, sondern ein Fremder, der störte.

Dass er, was immer er tat, nicht wirklich zu ihnen gehörte.

Velent zog sich zurück. Und weil die andren ihn mieden

Und er nicht reiten durfte, stürzte er sich nun ins Schmieden.

 

 

Dass sein Schüler litt, sollte Degenar Kummer bereiten.

Doch er genoss es auch sehr, ihn auf diesem Weg zu begleiten.

Weil er sich selbst in ihm sah. Und Belana in ihm erkannte.

Was ihn beseelte und freute. Aber auch oft übermannte.

Denn er scheiterte daran, sich ihren Tod zu verzeihen.

Doch ihren Sohn und ihn selbst konnte dies nun nicht mehr entzweien.

Endlich fühlten sich beide in ihrem Schicksal verbunden.

Denn durch das Schmieden war ein Weg der Versöhnung gefunden.

 

 

Velents Hunger nach Wissen war schließlich kaum mehr zu zügeln.

Selbst seinen Meister sollte der Lehrling bald überflügeln.

Degenar grämte dies nicht. Er fühlte sich lediglich müde.

Velents Quell schien so klar, doch sein eigenes Wasser war trübe.

 

Dass mit den einst von ihm für uns geschmiedeten Waffen,

Tod gesät worden war, machte ihm noch immer zu schaffen.

Häufig war er, statt friedlich zu schlafen, auch nachts auf den Beinen.

Einmal sollte ihm dabei sogar Belana erscheinen.

 

Degenar stand an der Esse. „Was bist Du denn hier noch zugange?“,

Sprach sie ihn an, und da darauf ihre Hand seine Wange

Für einen kostbaren Augenblick tröstend und zärtlich berührte,

Da der traurige Schmied ihre Nähe wie nie zuvor spürte,

Glaubte er nicht mehr zu träumen. „Es ist an der Zeit zu vergeben“,

Hauchte sie noch. „Also geh, um erneut unter Römern zu leben!

Sieh, in Mattiacum fällt es Dir leicht, Dich daran zu gewöhnen!

Dies ist der Ort, um Dich mit der Welt und Dir selbst zu versöhnen!“

 

Degenar zögerte kurz. Doch schließlich sollte er nicken.

Dann entschwand die Drudas des Schmiedes seufzenden Blicken.

Unverhofft wie sie gekommen war, war sie wieder verschwunden.

Dennoch fühlte der Hüne sich an sein Nicken gebunden.

 

Was indes war mit Velent? Dies machte ihm ernsthafte Sorgen.

Da erschien ihm Belana erneut. Indes diesmal am Morgen.

Unweit des Steinrings glaubte er, sie im Nebel zu sehen.

Velent sei alt genug, seines eigenen Weges zu gehen,

Ließ sie ihn wissen. Sein Lehrmeister sei für ihn nun entbehrlich.

So wie sie auch. Zudem sei Quirin für Velent gefährlich.

Noch sei er fort, doch käme er bald zurück in den Norden.

Heim nach Mattiacum. Jeden Versuch indes, ihn zu ermorden,

Hätte der Täter schon bald mit dem eigenen Leben zu büßen.

Ihr indes läge nichts daran, Velent schon bald zu begrüßen.

 

Deshalb riet sie Degenar ab, ihn an sich zu binden.

Lächelte kurz, um sodann im milchigen Grau zu verschwinden.

 

 

Degenar blieb keine Wahl. Er sorgte sich zwar um den Jungen,

Aber gleichzeitig sah er sich nun auch zum Handeln gezwungen.

Deshalb wagte der Schmied es, sich Swidger anzuvertrauen.

Jener gelobte denn auch, wenn nötig nach Velent zu schauen.

 

Bar dieser Sorge entschied der Schmied, sein Bündel zu nehmen.

So geschah es. Und ohne sich groß seiner Tränen zu schämen,

Ging er zu Velent, erklärte sich traurig und ließ ihn versprechen,

Ihm nicht zu folgen und dieses Versprechen niemals zu brechen.

 

Abschließend bat er ihn noch im Gehen, ihm zu vergeben –

Unfähig dabei, noch einmal die Hand zum Gruße zu heben.

 

*

 

So harrte ich vergeblich weiterer Briefe. Und hielt mich wie alle an Livia – ohne zu wissen, was sie getan hatte. Ihr versuchte ich ähnlich zu werden. Hätte ich damals auch nur geahnt, wie einsam und wie wenig geliebt sie sich fühlte, welch geringe Meinung sie von sich hatte und wie schnell auch für mich schon bald die Kindheit vorbei sein sollte, hätte ich vielleicht lieber danach getrachtet, die letzten wirklich zwanglosen Monate, die mir noch bleiben sollten, zu genießen. Um in den Gassen, Gärten, Speichern und Ställen der Stadt Verstecken zu spielen. Um Marktfrauen ein paar Rüben für die Pferde zu stehlen. Um Steine möglichst dicht an eine Mauer zu werfen. Und um durch Murmeln aus Glas in die Sonne zu blinzeln.

Ach, Velent, vergib mir mein Schwelgen! Doch ich kann in all dieser Trostlosigkeit hier zuweilen nicht anders, als manchmal auch an das Schöne zu denken, das uns hier einst vergönnt war. Einiges von dem, was sich bald darauf ereignen sollte, würde ich nur allzu gerne vergessen!

 

 

*

 

 

Degenar hatte alles Römische lange gemieden.

Um stattdessen fernab von uns im Verborgnen zu schmieden.

Auch einen Markt wie Mattiacum hatte er nicht mehr gesehen,

Doch die Erinnerung holte ihn ein und ließ ihn verstehen,

Dass der Ort bis weit in den Osten und hoch in den Norden

Vielen als Wunder galt! Hier schien alles möglich geworden!

 

Da, wo einst Sümpfe gewesen waren, lagen nun Felder.

Breite Straßen waren entstanden, gerodet die Wälder.

Kundige Bauern hatten Obst und Gemüse verbreitet.

Etliche Güter im Umland schienen vortrefflich geleitet.

An der Logana erblickte der Schmied sogar einen Hafen!

Alles schien friedlich und Degenars Bild von uns Lügen zu strafen.

 

Sicher tat es ihm gut, dieses andere Rom zu erleben.

Auch, weil der Ort es verstand, ihm alles zum Leben zu geben.

Arbeit als Schmied und ein Obdach im „Schwan“. Die kleine Taverne

Wuchs ihm ans Herz und abends saß er hier häufig und gerne.

 

Auch Menelaos sollte Degenar bald schon begegnen.

Und er staunte: Der Grieche schien alles und jeden zu segnen.

Mit seiner Art, seinem Wesen und seinen versöhnenden Worten.

Er traf ihn oft. Auf dem Forum, im „Schwan“ und an anderen Orten.

Diese Treffen halfen dem Schmied, seine Schwermut zu heilen.

Und auch Luna traf er dabei – zumindest zuweilen.

 

Sichtbar gereift glich sie nun einer Blume kurz vor der Blüte.

Und auch den Griechen sah er in ihr: seine Demut und Güte.

Und seine Bildung. Dank ihm konnte Luna schreiben und lesen.

Doch war sie scheuer als er und zudem von noch sanfterem Wesen.

 

Kalk trug sie kaum und konnte auf ihn auch gänzlich verzichten.

Nur ihre glänzenden Haare ließ sie sich gern einmal richten.

Oftmals entschied sie sich dabei für einen doppelten Scheitel.

Doch es stand ihr vorzüglich und wirkte keinesfalls eitel.

 

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Kurz gesagt: Es fiel leicht, sich an diesem Mädchen zu weiden.

So bezaubernd war Luna, so klug, so nett und bescheiden.

Vesta5 und Venus schienen sie gleichermaßen zu lieben.

Velent indes hatte sie ganz anders erlebt und beschrieben.

Sie sei verlogen. Dies gab dem Schmied doch erheblich zu denken.

Schien doch Luna nichts ferner zu liegen, denn andre zu kränken.

 

Einmal hatte sie gar gewagt, ihn nach Velent zu fragen.

Leise und seufzend und scheu wie ein Reh. Eine Hand auf dem Magen.

Nicht mal im Ansatz hatte sie dabei verletzend geklungen.

Hatte man Luna womöglich zum Schreiben des Briefes gezwungen?

 

Dann kam die Nachricht, die jegliches Nachforschen hinfällig machte: