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Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «The Barefoot Lawyer. A Blind Man's Fight for Justice and Freedom in China» bei Henry Holt and Company, LLC, New York.

 

Redaktion Werner Irro

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2015

Copyright der deutschen Erstausgabe © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

«The Barefoot Lawyer. A Blind Man’s Fight for Justice and Freedom in China» Copyright © 2013 by Chen Guangcheng

Foreword Copyright © by His Holiness the Dalai Lama

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-498-02415-4 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-03651-2

www.rowohlt.de

 

ISBN 978-3-644-03651-2

Fußnoten

1

Das «Gesetz über den Schutz von Personen mit Behinderungen» wurde seit seiner Einführung geändert. Sofern nicht anders erwähnt, beziehe ich mich in diesem Buch auf die ursprüngliche Fassung aus dem Jahr 1991.

2

Deutscher Verleihtitel: Die Verurteilten

Für meine Mutter Wang Jinxiang

und meine Frau Yuan Weijing

Gibt es in der uns bekannten Welt schwierige und einfache Dinge? Wenn wir handeln, können Dinge, die schwierig scheinen, einfach werden. Wenn wir untätig bleiben, werden einfache Dinge schwierig.

Peng Duanshu (1699 – 1799), Über das Lernen

Fördere das Gute in der Welt zutage, und lösche das Schlechte aus.

Menzius (372 – 289 v. Chr.), Universelle Liebe

Wer eingesperrt ist, kann die Welt kennenlernen. Wer nicht aus dem Fenster schaut, kann die Prinzipien des Himmels verstehen.

Laozi (5. Jh. v. Chr.), Daodejing

Vorwort des Dalai-Lama

Ich freue mich über die Veröffentlichung von Chen Guangchengs Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Diese Geschichte musste erzählt werden, denn sie beweist, dass ein Mensch, dem wirklich an seinen Mitmenschen gelegen ist, mit Entschlossenheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten große Hindernisse überwinden kann. Chen Guangcheng überwand die beträchtliche Benachteiligung, die seine Blindheit und die Vorurteile der Gesellschaft bedeuteten, und bekam eine Ausbildung. Er nutzte sie, um den Armen auf dem Land zu helfen, die ansonsten nirgendwo Unterstützung fanden.

Mit seinem klaren Antrieb erinnert mich Chen Guangcheng an die erste Generation kommunistischer Führer, denen ich vor sechzig Jahren in China begegnete; ihre aufrichtige Sorge um das Wohlergehen des einfachen Volks beeindruckte mich seinerzeit. Als das Engagement dieses barfüßigen Anwalts ins Visier eigennütziger Interessen geriet, wurde er mit der fingierten Anschuldigung, er habe die öffentliche Ordnung gestört, vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt. Als er nach seiner Entlassung feststellen musste, dass er und seine Familie kein normales Leben mehr führen konnten, entschloss er sich zur Flucht. Sie nahm insofern ein glückliches Ende, als er und seine Familie ein neues Leben in Freiheit in den Vereinigten Staaten beginnen konnten. Trotzdem kämpft er weiter für die Rechte seiner Brüder und Schwestern in China, insbesondere für die Rechte der in Armut lebenden Landbevölkerung.

Ich habe Chen Guangcheng kennengelernt und bin von seiner Leidenschaft und Warmherzigkeit beeindruckt. Wer wie er Menschen dabei hilft, ihre Rechte zu verteidigen, bedroht weder den Frieden noch die gesellschaftliche Ordnung, sondern trägt zur sozialen Harmonie bei. Ich hoffe, dass in der chinesischen Gesellschaft eines Tages Platz für inspirierende und engagierte Menschen wie Chen Guangcheng und Liu Xiaobo sein wird, denn solche Menschen können eine positive Rolle spielen.

18. Oktober 2014

Prolog Flucht

Wir beobachteten sie, während sie uns beobachteten. Wir prägten uns ihre Bewegungen und Gewohnheiten ein. Seit mehr als einem Jahr planten wir meine Flucht. Wir gingen jedes Detail wieder und wieder durch. Wir flüsterten nur, wir hauchten die Worte, weil wir davon ausgehen mussten, dass das Haus verwanzt war und unsere Geiselnehmer alles mithörten, was wir sagten.

Ich musste unbedingt aus dem Dorf herauskommen – aus dem Haus, das einmal mein Heim gewesen war und sich in eine private Hölle verwandelt hatte. Ich musste an den siebzig oder mehr Wachen vorbeikommen, die das Haus belagerten und jeden Ausgang versperrten. «Zu Hause wird es auch nicht besser sein als im Gefängnis», hatte mir ein Wärter gesagt, kurz nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war. Über vier Jahre hatte ich dort verbracht. Er hatte recht: Seitdem ich nach Dongshigu zurückgekehrt war, stand ich unter unmenschlichem Hausarrest – ein Epizentrum des riesigen Gefängnisses, in das sich China verwandelt hatte.

Ich hatte schon viele Male versucht, aus dem Haus zu fliehen. Meine Frau Weijing und ich diskutierten und stritten endlos über Risiken und Vorteile jedes einzelnen Plans, und ich ging alle möglichen Fluchtwege wieder und wieder in Gedanken durch. Ich musste unbedingt entkommen: Nicht nur mein seelisches Befinden, sondern mein Leben hing davon ab.

Ich war schwerkrank aus dem Gefängnis zurückgekehrt, durfte jedoch keinen Arzt aufsuchen, ja nicht einmal mit einem sprechen. Ich war in meinem eigenen Haus praktisch vollkommen isoliert. Niemand wurde zu mir gelassen, ich erhielt keine Nachrichten, durfte nicht vor die Tür gehen und keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Ich litt unter schwerem Durchfall, hatte oft Blut im Stuhl und war ständig erschöpft. Mittlerweile verbrachte ich die Hälfte des Tages im Bett, weil ich zu schwach war, um mich zu bewegen. Sollte ich sterben, würden die Behörden erklären, ich sei zu Hause in meinem Bett an dieser oder jener Krankheit gestorben. Wer würde je erfahren, was wirklich geschehen war? Allein meine Entschlossenheit hielt mich am Leben.

Am 20. April 2012 ruhten Weijing und ich am Vormittag im Hauptraum des Hauses aus. Das Haus war eines von vier kleinen Gebäuden, welche rund um einen nicht gepflasterten Hof standen und die Wohnanlage unserer Familie bildeten. Vor einigen Tagen hatten wir bemerkt, dass der Hund der Nachbarn fort war. Ein Hund ist gefährlicher als hundert Wächter. Jetzt, da er nicht mehr da war, konzentrierten wir uns auf einen Fluchtweg, der an der Ostseite des Nachbarhauses vorbeiführen würde.

Wie an jedem Morgen folgte ich der Route im Geist. Ich stellte mir jede Einzelheit vor – wo genau ich abbiegen würde, wie weit Dinge voneinander entfernt waren, wo Mauern verliefen, all die Kleinigkeiten, die sich Weijing im Lauf der Monate bei ihren täglichen Erledigungen eingeprägt hatte. Nur wir beide wussten von dem Plan, obwohl wir uns darin einig waren, dass ich, wenn es gelang, an den Wachen vorbeizukommen, versuchen musste, im Dorf Hilfe bei einem engen Kindheitsfreund oder einem befreundeten Zimmermann zu suchen. Beide wohnten an meinem Fluchtweg, aber wir hatten keine Möglichkeit, mit jemandem außerhalb des Hauses zu kommunizieren. Es wäre sogar zu gefährlich gewesen, meine Mutter einzuweihen, die jeden Gedanken an eine Flucht ablehnte.

Weijing und ich hatten oft darüber gesprochen, wie ich ihr mitteilen konnte, dass ich mich in Sicherheit befand, sollte mir die Flucht gelingen. Wir konnten weder schriftlich noch mündlich kommunizieren. Die einzige Möglichkeit war, eine verschlüsselte Botschaft zu schicken. Schließlich beschlossen wir, dass ich jemanden mit sechs Äpfeln zu ihr schicken würde, sollte ich lebend hinauskommen. Im Chinesischen kann das Wort für «sechs» auch «Erfolg» bedeuten, und das Wort «Apfel» klingt so wie «sicher». Ich malte mir aus, wie jemand meiner Frau sechs große rote Äpfel überbringen würde. Und wenn es keine Äpfel gab, würde ich ihr sechs Stück von etwas anderem schicken, damit sie wusste, dass ich frei war.

Den ganzen Vormittag spähte Weijing aus den Fenstern und beobachtete die Wachen. Sie wartete auf die richtige Gelegenheit. Am Morgen war sie auf dem Dach des flachen Küchengebäudes gewesen, wo wir Mais trockneten und unsere Wäsche aufhängten, und hatte bemerkt, dass das Auto des Kommandanten der Wacheinheit fort war. Normalerweise waren in unserem Hof sechs Wachen stationiert, die auf kleinen Stühlen vor unserer Haustür saßen. An diesem Tag hatten sich die Wachen jedoch in der Nähe des Hoftors niedergelassen, und nur zwei von ihnen hatten die Haustür direkt im Blick. Kurz vor elf Uhr war es so weit. Der Wärter, der am nächsten beim Haus saß, stand langsam auf und ging hinaus. Er hatte einen Teebecher in der Hand, den er mit heißem Wasser aus einer der Thermoskannen füllen wollte, die die Wachen draußen auf der Straße aufbewahrten. Er schien keine Eile zu haben. Auf dem Weg würde er für wenige Sekunden seinem Kollegen den Blick auf die Tür verstellen. In diesem Augenblick musste ich hinausspringen und durch den Hof zur etwa fünf Meter entfernten Ostmauer laufen. Nach einem Moment würde der Wärter die Tür wieder im Blick haben.

«Los!», flüsterte Weijing und drückte meinen Arm. Ich folgte ihr durch die Tür und ging mit schnellen, behutsamen Schritten durch den Hof, überholte sie und huschte an den alten Mühlsteinen vorbei, mit denen wir Getreide und andere Nahrungsmittel mahlten. Ich erreichte eine Steintreppe, die außerhalb des Gesichtsfelds der Wärter lag. Heftig atmend stand ich am Fuß der sechs grob aus dem Stein gehauenen Stufen. Ich lauschte angestrengt auf ein Zeichen dafür, dass die Wachen unruhig waren oder etwas bemerkt hatten.

Mein Herz raste. Das Knacken eines brechenden Zweigs konnte mich verraten; die Folge wäre eine weitere Runde von Schlägen oder Schlimmeres. Weijing hatte in letzter Zeit alle möglichen Hindernisse auf meinem Fluchtweg eingesammelt, wobei sie stets darauf achten musste, nicht zu viele Dinge auf einmal aufzuheben, um keinen Verdacht zu erregen. Jeder Stein, jedes Ästchen, ein Blatt, ein Wassereimer oder eine Pfanne konnten ein Geräusch machen, das mich verraten würde.

Ich stand bei der Treppe und hörte, wie Weijing trockenes Laub und Gras von dem wenige Schritte entfernten Holzstapel klaubte und in die Küche zurückkehrte, um Feuer zu machen. Der Wärter war mit gefülltem Teebecher zurückgekehrt und plauderte mit seinen Kollegen. Weijing kam erneut aus dem Küchengebäude und trat an den Wasserhahn im Hof, um den Kessel zu füllen – all das tat sie natürlich nur, um die Wärter abzulenken –, und kurz darauf hörte ich den metallischen Klang, als sie den Kessel auf den Ofen stellte. Weijing kam erneut heraus und ging zu dem Holzstapel zurück, um größere Stöcke und Äste zu holen. Jedes Mal, wenn sie an mir vorbeiging, flüsterte sie mir zu, was sie gerade sah. Für den Augenblick war ich in Sicherheit.

Ich rührte mich nicht. Weijing war sehr nervös, aber nachdem ich es durch den innersten Ring von Wachen geschafft hatte, konnte ich nicht mehr aufgeben. «Wir müssen weiter», flüsterte ich. «Es muss klappen.»

Als Weijing das nächste Mal aus dem Haupthaus kam, hatte sie Wäsche auf dem Arm. Im Vorbeigehen flüsterte sie mir zu: «Ich gehe hinauf, um mich umzusehen.» Sie würde auf das Flachdach des Küchengebäudes steigen, von wo aus sie alle Bewegungen rund um unseren Hof sehen konnte. In den vergangenen Monaten hatte sie unter verschiedensten Vorwänden zahllose Stunden dort verbracht, um meinen Fluchtweg auszuspähen. Die «Kastenhäuser» erfreuten sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit in unserem Dorf, jetzt erwies sich das Flachdach als sehr nützlich.

Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück und flüsterte mir zu, ich könne hinaufschleichen. Inzwischen atmete ich wieder ruhiger und hatte meine Nerven besser im Griff. Leise stieg ich die Stufen, die meine Füße genau kannten, hinauf. Oben angekommen, kroch ich auf der Ostmauer unseres Hofs unter dem Dach des Küchengebäudes entlang. Im Osten, jenseits der angrenzenden Höfe der Nachbarn, wartete die Freiheit.

Zum Glück kannte ich jeden Zoll des Hofs meiner Nachbarn, ich hatte mir längst jedes Detail eingeprägt. Ich wusste, dass mich die Wachen, die in einer Entfernung von nur sieben Metern im Umkreis meines Hauses patrouillierten, sehen konnten, wenn ich auf die Mauer kletterte. Also duckte ich mich und bewegte mich langsam vorwärts. Ich fand die von Weijing erwähnte Flasche, die die Wachen als Hindernis auf der Mauer platziert hatten, und stellte sie ein Stück zur Seite, bevor ich mich über die Mauer schob. Dann stellte ich die Flasche wieder an ihren Platz zurück, um keinen Verdacht zu wecken, und ließ mich in dem schmalen Gang zwischen der Mauer und der Seitenwand des Nachbarhauses in den Hof hinab.

Ich krabbelte so rasch wie möglich am Haus der Nachbarin vorbei zu den Betonstufen, die zum Dach ihres Küchengebäudes hinaufführten, das an einer ganz ähnlichen Stelle stand wie unseres. Jetzt musste ich auf eine andere Gruppe von Wachen achten, die außerhalb des Nachbarhofs postiert waren und mich unter Umständen durch einen Spalt im Hoftor erspähen konnten. Vom Dach der Küche kletterte ich auf die Ostmauer, von wo aus ich in den Garten des zweiten Nachbarn hinabsteigen wollte. Auf diese Art würde ich Mauer für Mauer überwinden und einen Hof nach dem anderen durchqueren, um den Cordon der Wachen zu überwinden. Ich trug nichts bei mir, aber im Geiste sah ich jedes Detail des Fluchtwegs klar vor mir.

Ich begann, die Treppe im Hof meiner Nachbarin hinaufzusteigen, und tastete nach den Gegenständen, vor denen mich Weijing gewarnt hatte. Auf der zweiten Stufe standen zwei Metalleimer, an denen ich ohne einen Laut vorbeikam. Ein paar Stufen höher ertastete ich das Bündel von Stromkabeln für Störsender, mit denen die Wärter den Empfang unserer Mobiltelefone unterbanden. Ein Stück weiter oben stieß ich auf die mit Ziegelsteinen gefüllte Pfanne, die Weijing beschrieben hatte. Ich tastete mich mit beiden Händen voran und entdeckte eine wackelige Stelle in der Mauer. Es war klar, dass ich hier nicht auf die andere Seite hinüberklettern konnte, da das Mauerwerk unter meinem Gewicht nachgeben würde.

In diesem Augenblick hörte ich das Quietschen des Hoftors. Ich glitt auf das Küchendach und legte mich flach auf den Rücken. Wenn mich die Nachbarin sah, würde sie höchstwahrscheinlich Alarm schlagen. Ich wusste, dass die Wachen sie mit Essen und vielleicht auch mit Geld bestochen hatten, damit sie mich im Auge behielt.

Ich lag mehrere Minuten mit pochendem Herz auf dem Dach und versuchte, mich zu beruhigen. Bisher hatte mir die Vertrautheit mit der unmittelbaren Umgebung meines Hauses geholfen. Obwohl ich von Kindheit an blind war, hatte ich zahllose Eindrücke von der Umgebung meines Dorfes gesammelt. Ich kannte das Muster der Klänge, die Zusammensetzung der Gerüche, die Anordnung der Straßen und Wege. Ob mir die Flucht gelingen würde, hing vor allem von meiner Erinnerung ab. Und ich würde noch abhängiger werden von meinem Gedächtnis, wenn ich versuchte, mich bis zum Nachbardorf Xishigu durchzuschlagen, wo ich Hilfe zu finden hoffte. Dieses Ziel war nicht weit entfernt, aber es gab zahlreiche Hindernisse. In den Jahren vor meiner Verhaftung und Gefangenschaft hatte ich die Mauern, Straßen und Gärten meines Dorfes in all ihren Details und in ihrer Komplexität kennengelernt. All das lag lange zurück. Nach sieben Jahren in Gefangenschaft musste die Erinnerung mein Führer sein.

 

Von dem Tag an, an dem Guangcheng aus dem Gefängnis heimgekehrt war, hatten wir über die Möglichkeit einer Flucht gesprochen, und seit mehr als einem Jahr arbeiteten wir an einem Plan. Ich suchte oft im Mondkalender nach einem verheißungsvollen Tag, und sei es auch nur, um meine Furcht zurückzudrängen und das Gefühl zu haben, dass die endlosen Tage ein wenig schneller vergingen. Die Wachen hatten uns fast unseren gesamten Besitz weggenommen, aus Furcht, auch der kleinste Fetzen Papier könne uns von Nutzen sein. Nur dieser kleine Kalender des Mondjahres 2012, den Guangchengs Mutter unter den wachsamen Augen unserer Bewacher hatte kaufen dürfen, war uns geblieben.

Ich wusste, dass ich das Misstrauen der Wärter wecken würde, wenn ich den Kalender zu eifrig studierte. Daher hielt ich jeden Tag auf dem entsprechenden Kalenderblatt fest, wie viele Eier unsere Hühner gelegt hatten. Da wir uns auf eine lange Gefangenschaft einstellten, ließen wir die Hennen einige ihrer Eier ausbrüten. Schließlich hatten wir mehr als vierzig Hühner, mit deren Fleisch wir unsere karge Diät ergänzen konnten. Sollte uns nichts anderes mehr bleiben, so konnten wir die Hühner schlachten. Wir mussten uns allein versorgen können. Als mich die Wachen schließlich fragten, warum ich den Kalender so oft studierte, erklärte ich ihnen meine Gewohnheit, die tägliche Eierernte aufzuzeichnen. Sie akzeptierten diese Begründung und fragten nicht mehr nach.

Im Lauf der Zeit wurde mir klar, dass der Frühling die ideale Jahreszeit für einen Fluchtversuch sein würde. Das frische Laubwerk der Bäume würde Guangcheng Deckung geben, das Rascheln der Blätter in einer Frühlingsbrise würde die Geräusche überdecken, die er unvermeidlich machen würde. Beim Blättern im Kalender sah ich, dass der 20. April ein chengri sein würde, ein Tag des Erfolgs. Der Gott des Wohlstands, der Glück und Chancen brachte, würde nach Osten blicken, in eine von Guangchengs möglichen Fluchtrichtungen. An diesem Tag würde das Schwein die Schlange überwinden. Dieses Detail war besonders bedeutsam: Guangcheng war im Jahr des Schweins geboren, und der Kommandant der Wachtruppe, die an diesem Tag Dienst hatte, war im Jahr der Schlange geboren. Auf einer praktischeren Ebene hatten wir die Schichten der Wachtruppe beobachtet und wussten, dass diese Gruppe normalerweise ein wenig weiter entfernt saß als die anderen, womit der nicht einsehbare Winkel, in dem sich Guangcheng bewegen konnte, größer sein würde.

Im Kalender war der Tag in Abschnitte von jeweils zwei Stunden unterteilt, die entweder günstig oder ungünstig waren. Der Zeitraum zwischen elf und ein Uhr mittags würde ideal sein, aber ich konnte nicht wissen, wann genau sich eine Gelegenheit bieten würde oder ob wir in dieser Zeit überhaupt eine Chance zur Flucht bekommen würden. Guangcheng wusste nicht, dass ich mich nach dem Kalender richtete, er hatte keine Ahnung, dass dieser Tag eine besondere Bedeutung hatte. Doch dann fügte sich alles: Der Wärter stand wenige Minuten vor elf Uhr auf, um sich einen Tee zu holen.

 

Ich lag flach auf dem Dach des Nachbarhauses, lauschte auf die Wachen auf der anderen Seite der Hofmauer und dachte über meinen nächsten Schritt nach. Ich hörte das Gespräch der Männer und die Geräusche der Spiele, die sie auf ihren Handys spielten. Ich dachte an die Mauer vor mir: Dahinter ging es mehr als dreieinhalb Meter in die Tiefe. Ich würde einen Weg finden müssen, um hinunterzuklettern. In jüngeren Jahren hätte mir das keine Mühe gemacht, aber die Jahre der Gefangenschaft hatten meinen Körper geschwächt. Es wäre zu gefährlich gewesen und hätte zu viel Lärm gemacht, von der Mauerkrone hinabzuspringen. Ich wusste, dass auf der anderen Seite nahe bei der Mauer ein Baum stand. Weijing hatte mir berichtet, dass der Stamm nur etwas mehr als fünfzehn Zentimeter dick war, aber wenn ich herausfinden konnte, wo genau der Baum stand, konnte ich daran hinabklettern.

Ich lag da und versuchte, mich an die genaue Position des Baums zu erinnern, als ich ein leises Zischen aus der Richtung unseres Hauses hörte. Es war Weijing, die sich geräuschvoll an einem mit getrocknetem Mais gefüllten Sack zu schaffen machte, den wir auf dem Dach lagerten.

«Beeil dich», flüsterte sie nervös. «Beweg dich, bevor sie dich entdecken!»

Ich streckte den Arm in Richtung des nächsten Hofs aus und bewegte ihn hin und her, als versuchte ich, den Baum zu fassen zu bekommen. Sie verstand sofort, was ich meinte.

Die Stimme so gedämpft wie nur irgend möglich, sagte sie: «Er ist genau bei deinen Füßen.» Obwohl wir von Wachen umringt waren, die sich nie mehr als ein paar Meter entfernt aufhielten, hörten sie Weijings Stimme nicht.

Ich kroch zum Rand des Daches, drehte mich um und begann, rückwärts die Füße über die Mauer hinauszustrecken, um nach dem Baum zu tasten. Ich klammerte mich an die Fugen zwischen den Steinen und ließ mich an der Mauer hinunter. Ich hatte erst ein kurzes Stück geschafft, als meine Arme vor Schwäche zu zittern begannen. Ich tastete mit dem Fuß nach dem Baum in meinem Rücken. Einen Augenblick lang berührten meine Zehen den Stamm, aber ich war zu schwach, um mich daran festzuhalten. Ich verlor den Halt, verfehlte den Baum und fiel. Ich schlug hart auf. Zum Glück hatte ich mich nicht ernsthaft verletzt, aber meine dunkle Brille war zerbrochen.

Ich setzte mich auf. Ich hatte mich ein wenig aufgeschürft, sonst war mir nichts passiert. Jetzt sah ich mich einer neuen Schwierigkeit gegenüber: In dem Moment, als ich auf dem Boden aufgekommen war, hatte der im Hof angekettete Nachbarhund zu bellen begonnen. Ich musste ein Versteck finden, bevor die Wachen nachsehen kamen, was der Lärm zu bedeuten hatte. Ich kroch auf allen vieren durch den Hof der Nachbarin und versuchte, nicht ins Blickfeld von Chen Guangfeng, dem geistig behinderten Sohn meiner Nachbarin, zu geraten. Der Mann, der nicht mehr jung war, lebte in einer Art Zelle mit Gittern vor einem offenen Fenster. Er war im Hof eingesperrt, seit ich mich entsinnen konnte, und schrie von morgens bis abends nach seiner Mutter, die keine andere Wahl hatte, als sein unablässiges Geschrei zu ignorieren, um ihren täglichen Aufgaben nachzugehen. Aus Mitgefühl mit ihm hatte ich in der Vergangenheit versucht, ihm zu helfen. Jetzt fürchtete ich, er könnte meinen Namen rufen, wenn er mich sah, und mich verraten.

Ich duckte mich so tief wie möglich, um unter dem Fenster des Mannes zu bleiben. Weijing hatte mir berichtet, dass jenseits seines Raums drei jeweils rund zwei Meter breite Pferche in einer Reihe standen. Sie hatte erwähnt, dass sich an einer Seite der niedrigen Einfriedungsmauer beim ersten Pferch eine Tür befand. Ich fuhr mit der Hand an der Mauer entlang, konnte die Tür jedoch nicht finden. Da der Hund wie wild bellte, musste ich sofort ein Versteck finden. Ich zitterte unkontrolliert vor Angst, als ich über die gut einen Meter hohe Mauer stieg und mich im Pferch flach auf den Rücken fallen ließ. Ich war vollkommen erschöpft. Mein geschwächter Körper war an derartige Anstrengungen nicht mehr gewöhnt. Die Vorderseite des Pferchs war geschlossen, wie Weijing berichtet hatte; die Wachen würden mich also wenigstens nicht sehen, wenn sie einen Blick in den Hof warfen.

Im Pferch waren mehrere Ziegen. Ich hörte, dass sich die Tiere meckernd zurückzogen und auf der anderen Seite des Pferchs zusammendrängten, verschreckt von dem Eindringling. Ich blieb still liegen, und bald wurden die Ziegen mutiger und näherten sich. Nach einer Weile knabberten zwei oder drei von ihnen an meiner Kleidung, was mich nicht beunruhigte, da ich mit Ziegen aufgewachsen bin. Eines der Tiere stellte mir die Vorderhufe auf die Brust und beugte sich herab, um an meinem Gesicht zu schnuppern. Als ich mich in eine andere Position drehte, zogen sich die Tiere erneut zur Hinterseite des Pferchs zurück.

Verängstigt und erschöpft konnte ich nicht anders, als zitternd dazuliegen. Ich würde ein wenig ausruhen und den nächsten Vorstoß wagen, sobald das Zittern nachließ.

 

Nachdem ich ihm geholfen hatte, den Baum zu finden, wagte ich nicht, auf dem Dach zu bleiben. Ich konnte es auch nicht noch einmal riskieren, hinaufzugehen, um nach ihm zu sehen. Kurz darauf hörte ich den Hund unserer übernächsten Nachbarn bellen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte furchtbare Angst, dass das Tier Guangcheng verraten würde. Ich nahm einen Happen Futter und zeigte ihn unserem im Hof angeketteten Hund, in der Hoffnung, er werde ebenfalls zu bellen beginnen, um den Lärm zu überdecken und die Aufmerksamkeit der Bewacher auf unser Haus zu lenken. Dann ging ich hinaus, um mit den Wärtern zu plaudern. Ich bemühte mich, ungezwungen zu wirken. Wie wir waren diese Männer Bauern und Bauernsöhne, und wir hatten sie ein bisschen kennengelernt. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt hatten, kehrte ich ins Haus zurück. Mein Herz raste. Zum Glück stahlen in diesem Augenblick die Hühner das Futter des Hundes, was einen solchen Tumult auslöste, dass die Wachen nicht auf den Lärm im übernächsten Haus achteten.

Den restlichen Tag lauschte ich auf jedes Geräusch, in der Hoffnung, etwas, irgendetwas zu hören, das mir verraten würde, wo Guangcheng war. Ich war außer mir vor Angst, zwang mich jedoch, mich wie an einem ganz normalen Tag zu verhalten. Jedes Mal, wenn ein Wärter unseren Hof betrat, suchte ich in seinem Gesichtsausdruck nach einem Hinweis darauf, dass sie Guangcheng entdeckt hatten.

Am frühen Nachmittag kehrte meine Schwiegermutter von der Feldarbeit zurück. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich kurz von der Arbeit auszuruhen, etwas zu trinken und dann nach Guangcheng zu sehen. Daher bemerkte sie nicht gleich, dass er fort war. Nachdem sie etwas Wasser getrunken hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um nach ihm zu sehen.

«Schläft Guangcheng?», fragte sie.

Ich konnte sie nicht belügen. «Mutter», flüsterte ich, «Guangcheng ist fort.»

In ihrem Blick mischte sich Überraschung mit Wut. «Wie hat er das gemacht?», flüsterte sie.

Ich antwortete nicht.

«Fordert ihr nicht das Schlimmste heraus?», fragte sie. «Dort draußen wimmelt es vor Wachen. Glaubst du wirklich, dass er entkommen kann?»

«Was konnte ich tun, Mutter? Er ist sehr krank, wie lange, glaubst du, kann er das noch aushalten?»

«Sie werden ihn totschlagen», sagte sie in vorwurfsvollem Ton.

«Wenn er hierbleibt, wird er sterben», antwortete ich.

«Nachdem er das Haus einmal verlassen hat», sagte sie, «können wir nicht mehr herausfinden, was mit ihm geschieht. Sie könnten ihn totschlagen und irgendwo verscharren, ohne dass wir es je erfahren würden. Wenn wir schon sterben müssen, dann sollten wir wenigstens zusammen sterben.»

Ich legte ihr eine Hand auf den Mund und bat sie, nicht über so unglückselige Dinge zu sprechen. «Er wird es schaffen», sagte ich, um sie zu beruhigen. «Es wird kein Problem geben. Aber wir sollten einige glückverheißende Worte sprechen und die Götter um Schutz für ihn bitten.»

Meine Schwiegermutter ließ sich nicht besänftigen. Sie war überzeugt, dass der Fluchtversuch scheitern würde, und machte mich dafür verantwortlich. «Kaum gehe ich für kurze Zeit hinaus, da lässt du zu, dass er geht», sagte sie bitter. Dann nahm sie ihren Stuhl, trug ihn in den Hof hinaus und setzte sich hin, um den Hühnern zuzuschauen. Sie weigerte sich, etwas zu essen oder zu trinken.

Normalerweise glaube ich nicht an das Glück, an Gott oder eine andere höhere Macht, aber an diesem Tag wollte ich an alles glauben, was uns helfen konnte. Im Lauf des Nachmittags ging ich mehrmals in die Küche, um zu dem traditionellen Bild des Küchengottes an der Wand zu beten und ihn um Schutz für Guangcheng zu bitten. Ich spähte zur Tür hinaus, um festzustellen, ob einer der Wärter herüberschaute. Wenn nicht, warf ich mich schnell vor dem Bild auf die Knie und betete: «Küchengott, ich flehe dich an. Bitte alle anderen Götter, über Guangcheng zu wachen.»

 

An die Mauer des Ziegenpferchs gelehnt, ruhte ich mich etwa eine Stunde lang aus und lauschte auf einen Hinweis darauf, dass die Wachen meine Abwesenheit bemerkt hatten und nach mir suchten. Der Hund bellte immer noch. Und jetzt begann Chen Guangfeng plötzlich nach seiner Mutter zu schreien. Der regelmäßige Rhythmus seiner Schreie war ein fester Bestandteil der Geräuschkulisse des Dorfes, so wie die Rufe von Vögeln und Insekten. Ich entspannte mich ein wenig, da ich die Hoffnung hatte, das Gebell und die Schreie würden die Normalität des Vormittags wiederherstellen.

Nach einer Weile kehrte wieder Ruhe ein. Meine Anspannung ließ nach, und ich bekam wieder einen klaren Kopf. Ich fragte mich, wie spät es sein mochte, musste jedoch feststellen, dass meine sprechende Uhr beim Sturz in den Hof zerbrochen war. Ich setzte mich auf und lugte über die Mauerkante, aber der Hund begann erneut, wütend zu bellen. In diesem Augenblick bemerkte mich Guangfeng, der nun nicht mehr «Niang! Niang!» (Mutter), sondern «Li Hong! Li Hong!» schrie: Offenbar hielt er mich für seinen jüngeren Bruder. Ich duckte mich rasch wieder in den Pferch.

Es war etwa eine Stunde vergangen, als ich hörte, dass die Wachen mit dem Essen begannen. Sie rutschten auf ihren Stühlen herum. Dann das klimpernde Geräusch von Essstäbchen in Metallschalen, und schließlich hörte ich, dass sie aufstanden – sie gingen ihr Essgeschirr abwaschen. Nach dem Essen wurde es still, und ich wusste, dass die Männer jetzt nicht bei der Sache waren. Mehr als ein Dutzend von ihnen hielt sich auf der anderen Seite der Hofmauer meiner Nachbarn auf einer Freifläche zwischen den beiden Häusern auf.

Das war die Gelegenheit. Ich kletterte so schnell und leise wie möglich über die Mauer zwischen dem ersten und dem zweiten Pferch. Ich tastete mich durch den Raum, der nichts weiter enthielt als einen kleinen Ofen. Ich fand eine Tür auf einer Seite und lauschte eine Weile, um herauszufinden, was im dritten Pferch war, und um den geeigneten Augenblick für den nächsten Schritt zu wählen. Dann warf ich eine Handvoll Sand über die Mauer, und die Geräusche, die ich hörte, verrieten mir, dass dort verstreute Maisstängel und ein paar landwirtschaftliche Werkzeuge herumlagen. Ich riskierte es und kroch in den dritten Pferch.

Dort angekommen, stieß ich auf eine weitere Mauer, die sehr viel schwieriger zu überwinden war. Auf ihrer Ostseite lag ein Hof, den ich sehr gut kannte. Ich nahm mir lange Zeit, überlegte und lauschte. Ich hörte die Wachen, die wenige Meter entfernt ihrer Arbeit nachgingen, wie sie belanglose Unterhaltungen führten, Feuerzeuge aufklappten und Zigaretten rauchten. Sie schienen nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben.

Meine Uhr war kaputt, aber ich hatte von Kindheit auf gelernt, die Zeit zu bestimmen, indem ich die Zeichen der Natur deutete. Ich konnte sie immer noch auf die Stunde und manchmal auf eine halbe Stunde genau schätzen, indem ich auf die Temperatur, die Klänge, die Vorgänge in der Natur und vor allem auf das gewohnheitsmäßige Verhalten der Menschen in meiner Umgebung achtete. Etwa um drei Uhr nachmittags, vier Stunden, nachdem ich aufgebrochen war, hörte ich Guangfengs Mutter heimkommen, die sich sofort daranmachte, im Hof zu arbeiten. Ihr Sohn schrie weiter «Niang! Niang!», und nach einer Weile brachte sie ihm etwas zu essen. Ich wusste, dass sie ihm die Nahrung durch das vergitterte Fenster reichte. Bald nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, begann er nach Wasser und Zigaretten zu rufen.

Ich kauerte im Pferch und tastete die Oberfläche der alten und bröckeligen Mauer auf der Suche nach einer Stelle ab, an der ich hinaufklettern konnte. An der Nordseite des Pferchs stand ein Schuppen. Direkt hinter dieser Mauer saß ein Wärter, der mich zweifellos sehen würde, wenn ich dort hinaufkletterte. An der Ostseite war die Mauer brüchig, ich war sicher, dass sie mein Gewicht nicht tragen würde. Also entschloss ich mich, es in der Südostecke zu versuchen, wo ich mich besser festhalten konnte. Um die Mauer zu prüfen, legte ich die Hände flach auf die raue Oberfläche und zog mich langsam hoch, wobei ich mit den Zehen in den Spalten nach Halt suchte. Ich erkundete jeden Zentimeter und prägte mir die Stellen ein, an denen ich Halt finden würde – wo ich zum ersten Mal einen Tritt finden würde, wo zum zweiten Mal … War ich erst einmal auf der Mauer, würde ich für jedermann sichtbar sein. Ich durfte beim Klettern keinen Fehler begehen: Das geringste Geräusch, und die Wachen würden mich bemerken. Das wäre das Ende.

Als der Nachmittag vorrückte, hörte ich, wie eine Nachbarin, die gegenüber von Chen Guangfeng und seiner Familie wohnte, ihre Hoftür öffnete, ihr Moped auf die Straße hinausschob und wegfuhr. Ich wusste, dass sie ihre Tochter von der Schule abholen fuhr, was bedeutete, dass es mittlerweile halb fünf war. Zwanzig Minuten später näherte sich das Moped wieder.

Die Wachen würden bald zu Abend essen. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, über die Mauer zu klettern, während sie aßen. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich am Vormittag einen Traktor gehört hatte, der aus nördlicher Richtung gekommen war. Der Lärm des Motors war lauter geworden, als er sich rumpelnd auf der schmalen Straße genähert hatte. Der Traktor war nach Osten abgebogen, und die Wachen, die auf der Höhe des Schuppens auf der anderen Seite der Mauer saßen, hatten ihre Stühle bewegt, um dem Fahrzeug Platz zu machen. Ich war ziemlich sicher, dass der Traktor auf demselben Weg zurückkommen würde, vermutlich noch an diesem Abend.

Es konnte keinen besseren Augenblick für einen Versuch geben, über diese gefährliche Mauer zu steigen: Der Traktor würde die Wachen ablenken. Genau wenn die Dunkelheit hereinbrach, würde ich meine Chance bekommen.

 

Unsere Tochter Kesi, die zu jenem Zeitpunkt fast sieben Jahre alt war, kehrte kurz vor fünf Uhr nachmittags aus der Schule heim. (Unser neunjähriger Sohn Kerui lebte bei meiner Mutter in einem anderen Dorf und besuchte eine andere Schule.) Bei ihrer Heimkehr rief sie jeden Tag als Erstes «Baba, ich bin wieder da!» und machte sich auf die Suche nach Guangcheng. Ich war besorgt, dass Kesi geschockt und aufgebracht auf das plötzliche Verschwinden ihres Vaters reagieren würde.

Als sie das Haus betrat und ihre Schultasche fallen ließ, zog ich sie an mich und flüsterte ihr ins Ohr: «Kesi, ruf nicht nach Baba und frag nicht, warum er nicht hier ist. Baba ist fortgegangen.»

«Wo ist er hin?», fragte sie besorgt.

«Still», flüsterte ich ihr zu. «Dein Vater ist geflohen.»

Ich bat sie, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Sie verstand und nickte. Kesi wusste von unseren früheren Fluchtversuchen, sie hatte sogar selbst Ideen beigesteuert. Sie sprach über den Tunnel, den wir im Vorjahr gegraben hatten, und malte sich aus, welcher Route er folgen sollte und wie schnell wir laufen würden, wenn wir am anderen Ende herauskämen. Und sie hatte mit angesehen, wie die Wachen ihre Eltern geschlagen hatten. Sie wusste um den Ernst der Lage.

Gegen halb sechs kochte ich Nudeln zum Abendessen. Kesi nippte an ihrer Schale, aber weder Mama noch ich konnten essen. Ich tat weiterhin so, als ob Guangcheng im Haus wäre, und sprach hin und wieder laut mit ihm. Später ging ich hinaus, holte Wasser, füllte eine Schüssel damit und rief beim Betreten des Hauses: «Lass uns deine Füße waschen.» Ich trug die Nachttöpfe hinaus und leerte sie ins Klohäuschen. Wir legten uns wie gewohnt ins Bett, aber keiner von uns konnte schlafen. Kesi war vollkommen verängstigt. Sie fürchtete sich vor dem, was ihrem Vater zustoßen konnte. Sie lag schluchzend bei ihrer Großmutter im Bett, den Kopf unter einer Decke, um nicht zu laut zu sein. «Ich vermisse Baba», wimmerte sie leise. Ich versuchte, sie zu trösten: «Wir werden Baba bald wiedersehen.» Irgendwann weinte sie sich in den Schlaf.

 

Die Stunden schienen endlos, aber kurz vor Einbruch der Dämmerung hörte ich schließlich den Traktor in der Ferne. Als er sich der Kreuzung näherte, geschah, was ich erhofft hatte: Die Wachen begannen ihre Stühle zu bewegen. Das war meine Chance. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, um auf die Mauer zu klettern, während der Traktor, mein ahnungsloser Komplize, die Wachen ablenkte und die von mir verursachten Geräusche übertönte.

So schnell und leise wie möglich kletterte ich über die raue Oberfläche der Mauer hinauf. Auf der Mauerkrone ließ ich die Beine rücklings auf der anderen Seite hinab. Ich wusste, dass es etwa zwei Meter bis zum Boden waren, eine Höhe, die zu bewältigen war. Und wenn ich diese Mauer erst einmal überwunden hatte, würde ich mich in einem vertrauten Hof wiederfinden.

Vor langer Zeit war dies der Hof meiner Familie gewesen. Ich war in diesem Haus zur Welt gekommen und hatte jahrelang mit meinen Eltern und meinen vier älteren Brüdern hier gelebt. Haus und Hof waren mittlerweile verfallen, aber jedes Detail, jede Erinnerung an diese Umgebung würden von großer Bedeutung sein, sobald ich auf dieser Seite der Mauer landete.

Ich ließ los und fiel. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch meinen rechten Fuß. Der Lärm des Traktors hatte das Geräusch meines Falls übertönt, und irgendwie gelang es mir, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Ich entdeckte, dass genau dort, wo ich gelandet war, ein Haufen großer Steine lag. Trotz des überwältigenden Schmerzes musste ich die freie Fläche zwischen den Mauern überqueren. Ich rollte mich weiter, bis ich gegen die Mauer an der Nordseite des Hofs stieß. Ich versuchte, aufzustehen und den Fuß zu belasten, aber der Schmerz war zu stark und ich sank wieder zu Boden.

War mein Fluchtversuch bis dahin gewagt gewesen, so war er ab jetzt tollkühn. Ich lag da und beurteilte meine Lage. Ich war blind und auf mich allein gestellt. Ich hatte keine Aussicht auf Hilfe von Verwandten oder Freunden. In den Stunden, die vergangen waren, seit ich mein Haus verlassen hatte, war ich nur etwa dreißig Meter weit gekommen, und mein rechter Fuß war ziemlich sicher gebrochen. Mittlerweile war es fast dunkel, aber am Rand des Dorfes befanden sich noch mehr Wachen, die auch in der Nacht Patrouille gingen.

Die Welt war zu unwegsam und zu voll von Gefahren. Wie sollte ich es nur bis ins nächste Dorf schaffen, das anderthalb Kilometer entfernt war? Und warum hatte mir das Schicksal die Flucht zusätzlich erschwert? Aber ich war entschlossen, weder dem Schmerz noch meiner Furcht nachzugeben. Komme was wolle, ich würde nicht aufgeben. Stattdessen konzentrierte ich mich auf den Weg, der vor mir lag, und dachte nur daran, wie ich all die Hindernisse überwinden konnte, die noch vor mir lagen. Ich würde einen Weg finden. Irgendwann würde ich Weijing sechs schimmernde Äpfel schicken.

Eins Nicht wie die anderen

Ich bilde eine Schale mit den Händen und lasse darin das hartgekochte Ei umherrollen, das meine Mutter mir gegeben hat. Es ist noch warm. Ich bin drei oder vier Jahre alt und bekomme nur selten ein ganzes Ei für mich, weshalb ich möglichst lange damit spiele, bevor ich es esse. Ich gehe hinaus und finde die Mühlsteine, mit denen wir unsere Nahrungsmittel mahlen. Ich taste nach dem oberen Stein und reibe die Schale des Eis behutsam daran. Ich lausche den Stimmen der Dorfkinder, die auf der Wiese lachen und spielen. Ich höre die Verwandten und Nachbarn, die ein- und ausgehen. Dann kehre ich ins Haus zurück, klettere auf einen Stuhl und lege das Ei vorsichtig auf den Tisch. Es beginnt zu rollen. Ich sehe so schlecht, dass ich es nicht auffangen kann. Ich höre das dumpfe Knirschen der auf den Lehmboden aufprallenden Schale, danach herrscht Stille. Wenn etwas anstößt, rollt oder ein anderes Geräusch macht, kann ich es oft mühelos anhand des Klangs finden, aber jetzt bin ich hilflos. In der Hoffnung, das Ei zu erspähen, strenge ich mich an, aber ich sehe nichts als verschwommene Formen. Die Nachbarn und Kinder im Raum helfen mir nicht, sie starren mich nur an. Meine Mutter eilt herbei, um mich aus meiner Hilflosigkeit zu befreien. Sie schält das Ei, wickelt es mit gesalzenen Essiggurken in einen Jianbing-Pfannkuchen und legt ihn mir in die ausgestreckten Hände.

 

Ich kam am 12. November 1971 in dem abgelegenen Dorf Dongshigu zur Welt. Die Kulturrevolution hatte ihren Höhepunkt erreicht, es war eine Zeit der Not und der Bitterkeit. Bei meiner Geburt war ich gesund, aber als ich fünf Monate alt war, erkrankte ich an einem schlimmen Fieber. Meine Eltern hatten kein Geld, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Meine Mutter machte sich große Sorgen über meinen Zustand, aber sie musste noch vier weitere Söhne versorgen. Meine Brüder waren fünf, acht, elf und vierzehn Jahre alt. Mein Vater arbeitete zu jener Zeit an einem weit entfernten Ort, und wir hatten keinen Zugang zu einem Telefon. Die Familie meines Vaters war mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.

Auf sich allein gestellt, kümmerte sich meine Mutter um alles in unserem Leben. Jeden Tag musste sie Wasser von einer Quelle unweit des Flusses Meng holen und in Eimern, die an einer Stange auf ihrer Schulter hingen, nach Hause tragen. Vor dem Morgengrauen verbrachte sie Stunden damit, in unserer Mühle Mehl für den Pfannkuchenteig zu mahlen. Wenn sie nicht auf dem Feld arbeitete, sammelte sie in den Hügeln Holz und Reisig für das Feuer. Sie hielt sich stets an die strengen Anweisungen der Kommune, die organisierte, wie wir arbeiteten, lebten und aßen.

Dann kam das Fieber. Mein pausenloses Schreien zerriss meiner Mutter das Herz. Sie wickelte mich in ein paar alte Kleider und legte mich in einem Korb bei dem Feld ab, auf dem sie arbeitete. Sie brauchte zwei Yuan, um einen Arzt im örtlichen Krankenhaus bezahlen zu können. Dies war der einzige Ort, an dem man wirklich ärztliche Hilfe bekam. Aber zwei Yuan waren ein großer Betrag für uns, zu groß, denn wir hatten fast kein Geld. Mein Vater verdiente nur achtzehn Yuan im Monat. In ihrer Verzweiflung versuchte meine Mutter, sich das Geld zu leihen, und wandte sich an den Leiter ihres Produktionstrupps, der sie zum Buchhalter schickte. Dieser schickte sie zum für die Finanzen verantwortlichen Mann. «Wie kannst du dir Geld von uns borgen?», fragte der Mann kopfschüttelnd. «Du schuldest uns Geld, und du hast nicht genug Getreidepunkte verdient.» Die Kommunen waren in Produktionsbrigaden unterteilt, die wiederum aus Trupps bestanden. Die Mitglieder des Produktionstrupps erhielten abhängig von ihrer Arbeitsleistung Punkte. Man musste mindestens eine dem eigenen Nahrungsbedarf entsprechende Arbeitsleistung erbringen, aber da meine Mutter das einzige erwachsene Familienmitglied war, das Ganztagsarbeit leisten konnte, häufte unsere Familie oft ein Punktedefizit an. Keine Punkte, kein Geld, kein Arzt. Der Mann sagte meiner Mutter, sie solle mit einem Schreiben des Chefs ihres Produktionstrupps wiederkommen, aber sie wusste, dass er sie nur loswerden wollte.

Entmutigt und verzweifelt wandte sie sich an Freunde und Verwandte, aber niemand lieh ihr Geld. Der «barfüßige Doktor» des Dorfes, ein Bauer, der eine rudimentäre medizinische Schulung erhalten hatte, um in abgelegenen ländlichen Gebieten im Notfall helfen zu können, hatte keine Idee, wie mein Fieber gesenkt werden konnte.

Ich schrie zwei Tage und Nächte durch. Mein kleiner Körper brannte und wand sich in den Armen meiner Mutter. Am dritten Tag stand meine Mutter wie gewohnt vor Morgengrauen auf, um das Essen für die Familie zuzubereiten, als ich erneut zu schreien begann. Als sie mich hochnahm, um mich an die Brust anzulegen, sah sie mit Entsetzen, dass meine dunklen Augen von einer blauen Masse getrübt waren. Sie sprang auf und lief mit mir zu einer alten Frau in einem Nachbardorf, die sich mit Hausmitteln auskannte. Nachdem die Frau mich untersucht hatte, schlug sie eine Behandlung vor: Meine Mutter sollte auf meine Augen blasen. Doch diese Therapie konnte nichts an meinem Zustand ändern.

Meine Eltern erfuhren nie, was für eine Krankheit ich gehabt hatte oder warum ich durch das Fieber erblindet war. Als mein Vater einen Monat später heimkehrte und erzählt bekam, was geschehen war, brachte er mich in die örtliche Klinik. Mittlerweile war es zu spät, um mein Augenlicht zu retten, aber mein Vater wollte die Hoffnung auf eine Heilung nicht aufgeben. In den folgenden Jahren brachten mich meine Eltern zu einer Reihe von Ärzten. Es nützte alles nichts. Ein Arzt diagnostizierte eine Entzündung der Hornhaut, ein anderer grünen Star – aber alle gelangten sie zu dem Schluss, dass mir nicht zu helfen sei.

Was auch immer die Ursache für das Fieber gewesen war, die Folgen waren furchtbar. In meinen frühesten Erinnerungen gibt es nur Farbflecken, und auch das nur, wenn ich einen Gegenstand genau vor meinen Augen hatte. Man könnte sagen, dass ich vom Kommunismus geblendet wurde, genauer gesagt von einer Welle realitätsferner, leerer kommunistischer Propaganda, die jahrzehntelang im Land verbreitet wurde. Die Kommunistische Partei, die dem Land die «wissenschaftliche Entwicklung» brachte, brüstete sich mit Krankenhäusern und kostenloser medizinischer Versorgung und damit, wie gut die Menschen behandelt wurden. Immer wieder hörten wir, wie viel besser als in der Vergangenheit das Volk jetzt lebe. In Wahrheit erhielten wir nicht einmal eine grundlegende medizinische Versorgung, wir waren Krankheiten schutzlos ausgeliefert. Der Tod kam oft zu uns. Zwei Jahre vor meiner Geburt hatte meine Mutter ein Mädchen zur Welt gebracht, die ersehnte Tochter nach vier Söhnen. Als das Baby erkrankte, hatte meine Mutter kein Geld für das Krankenhaus, sodass sie nicht viel mehr tun konnte als zu warten und zu hoffen. Meine Schwester litt an der «Sieben-Tage-Krankheit», wie sie im Dorf genannt wurde. Nach acht oder neun Tagen war sie tot. Später sagte mir meine Mutter, ich wäre wahrscheinlich nie zur Welt gekommen, wenn das Mädchen überlebt hätte.

 

Ich hänge zwischen Himmel und Erde. Mein Bruder zieht an dem Strick, und ich steige auf in die Luft. Einen, zwei, drei Meter hoch – ich empfinde keine Furcht, nur Freude. Ich bin vier Jahre alt. Weiter oben im Persimonenbaum kann ich alles hören, jeden Ton, der in die Luft geätzt wird. Ich höre die hallenden Rufe der Vögel, ihre einander überschneidenden, melodischen Gesänge, die sich in den Bäumen miteinander verweben. Ich höre die Geräusche, die von einer nahe gelegenen Quelle herüberdringen, wo die Dorfbewohner mit Kellen Wasser schöpfen, das in die Eimer und Krüge plätschert – die Veränderungen des Tons vom ersten Schwall, der auf das Metall des leeren Eimers prallt, bis zum helleren Rauschen im fast vollen Behälter. Ich bin umfangen vom Chor des Lebens: trällernde Singvögel, blökende, meckernde, bellende Tiere, jedes mit seiner eigenen Intensität, seiner eigenen Kadenz, die mit dem Rhythmus der anderen verschmilzt und sich wieder löst.

Wir spielen dieses Spiel nicht zum ersten Mal. Dritter Bruder liebt es, auf Bäume zu klettern und Vögel zu fangen, und er hat einen Weg gefunden, um mich mitzunehmen. Er bindet mir ein Seil um die Brust, klettert auf den Baum und befestigt das andere Ende des Seils an der Gabelung eines kräftigen Asts. Ich stehe unter dem Baum und warte. Dann beginnt er, mich mühsam hinaufzuziehen, Stück für Stück, bis ich die Astgabel erreiche, wo ich einen angenehmen Sitz habe. Anfangs halte ich mich am Ast fest, aber nach einer Weile werde ich mutiger und beginne, die Umgebung zu ertasten.

Die Zweige über mir hängen voller Persimonen. Ich bitte meinen Bruder, mir eine Frucht zu pflücken. Er sagt: «Du weißt, dass du sie nicht essen kannst.» Sie sind noch nicht reif, und man kann sterben, wenn man eine unreife Persimone isst. «Ich weiß», antworte ich. Er klettert zu einem höheren Ast hinauf, um die größte und rundeste zu pflücken, die er finden kann. Ich bin so klein, dass ich die Frucht kaum in einer Hand halten kann, während ich mich mit der anderen am Ast festhalte. Ich bin begeistert – ich starre auf das leuchtende Rot und Gelb der Frucht und fühle die weiche und fein strukturierte Haut. Ich halte mir die Persimone nahe ans Gesicht, fast berührt sie meine Lippen. Die Textur und der Duft sind so verlockend, dass ich nicht länger widerstehen kann. Verstohlen beiße ich ein kleines Stück von der Spitze ab. Zuerst schmeckt das Fruchtfleisch süß, aber als ich einen zweiten, größeren Bissen nehme, legen sich meine Lippen in Falten, und die Warnung meines Bruders kommt mir wieder in den Sinn, weshalb ich die Frucht rasch ausspucke.

Dritter Bruder hat etwas bemerkt und klettert zu mir herab. «Hast du davon gegessen?» Aus Angst, dass er wütend auf mich werden wird, halte ich die angebissene Seite in meiner Handfläche und lüge ihn verlegen an. «Zeig mir die Persimone», sagt er und öffnet mir die Hand. «Warum hast du davon gegessen?» Da ich versprochen hatte, es nicht zu tun, weiß ich nicht, was ich antworten soll.

«Wie wachsen die Persimonen an den Zweigen?», frage ich meinen Bruder, der wieder über mir in der Baumkrone umhertollt, ein paar Minuten später. Er drückt einen mit Früchten beladenen Zweig zu mir herab, damit ich sie berühren kann. In der einen Hand halte ich die Frucht, von der ich abgebissen habe, mit der anderen taste