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Franziska Klinkigt

Wer sein Kind liebt …

Theorie und Praxis

der strukturellen Gewalt

Für Nele, Marla und Laurin, Mackenzie, Tjelle und Onno … und für alle Menschen, die sich betroffen fühlen und die es betrifft …

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie erkannt, worin der Titel dieses Buches seinen Ursprung hat? In den biblischen Sprüchen Salomons (13,24) von Luther sinngemäß übersetzt mit: »Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn liebhat, der züchtigt ihn bald«. Uns ist heute der Satz bekannt in den zwei Formulierungen: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es« und »Wer sein Kind liebt, der schont die Rute nicht.« Diesem Erziehungsgebot folgten seit dem 16. Jahrhundert Generationen von Menschen – bis auch heute noch. In der Übersetzung aus dem frühen 20. Jahrhundert von Martin Buber und Franz Rosenzweig heißt es entsprechend »Wer seinem Stecken kargt, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, bereitet ihm Zucht«.

Als tragisch ist nun allerdings nicht nur unsere jahrhundertelange Vergangenheit als züchtigende Gesellschaft anzusehen, die noch immer nicht überwunden ist, sondern darüber hinaus die Vermutung, dass diese Vergangenheit ihre Wurzeln in einer tendenziösen Interpretation, einer Fehldeutung der Originalschriften haben könnte: in diesen war nicht die Rede von Gewalt als Führungskunst. Das Wort, welches Luther mit »züchtigen« übersetzte, hatte eigentlich die Bedeutung von »erziehen« im Sinne der Akkulturation, im Sinne eines Nicht-Vernachlässigens. Die dortigen Worte sind eher als ein Appell gegen eine Laissez-faire-Haltung anzusehen: Der Nachwuchs möge mit Sorgfalt erzogen und nicht vernachlässigt werden. Entsprechend könnte es lauten »Wer als Eltern seiner Verantwortung für sein Kind nicht nachkommt, schadet ihm; wer es liebt, versucht es zu erziehen«1. Das mit »Rute« oder »Stecken« übersetzte Wort trägt auch die Bedeutung »Hirtenstab« oder »(Familien-)Stamm«, wodurch die Botschaft ebenfalls eine völlig andere Färbung erhielte: Wer seinen Familienstamm liebt, der übernimmt auch die Verantwortung für sein gesundes und der Gemeinschaft förderliches Dasein. Dieser Appell wäre vermutlich durchaus zeitgemäß gewesen angesichts der rohen, chaotischen, brutalen und von Umbruch und Wertzerfall gekennzeichneten Zustände des Mittelalters, die allerdings den Umgang der Menschen allen Alters miteinander prägten (eine Trennung zwischen »Kindheit« und »Erwachsenenwelt« gab es damals nämlich nicht). Die gewalttätige Konnotation der Übersetzung Luthers hingegen, gemäß der er die Menschen aufforderte, ihre Kinder zu erziehen, entsprach offensichtlich seinem Menschenbild, welches anschaulich in Carl-Heinz Mallets Buch Untertan Kind. Nachforschungen über Erziehung beschrieben ist:

Kinder waren für ihn von Geburt an böse, schlecht und verderbt. Ohne Erziehung seien sie »eitel wilde Tiere und Säu in der Welt, die zu nichts nutze sind, denn zu fressen und saufen«. Von da leitete Luther die Notwendigkeit ab, jedes Eigensein der Kinder zu unterdrücken und sie zu willenlosen Untertanen von Eltern und Obrigkeit zu machen. Das war es, was er unter Erziehung verstand, und er sah nur einen Weg, sie wirksam durchzusetzen: mit dem Knüppel.

Obwohl körperliche Gewalt heutzutage verboten und von »gewaltfreier Erziehung« die Rede ist, ist ganz und gar nicht davon auszugehen, dass erzieherische Gewalt überwunden wäre. Die erzieherische Gewalt zu der Zeit, als Mütter und Väter noch an den berühmten Satz glaubten und danach zu handeln suchten, müsste eigentlich offenkundig gewesen sein und demjenigen, dem sie zuteil wurde, muss sich die Frage aufgedrängt haben: »Kann das ein Ausdruck von Liebe sein?« Welche Möglichkeiten gab es für die Empfänger dieser Liebe, damit umzugehen?

1. An die Liebe zu glauben und Leid zu ertragen im Namen der Liebe, was schließlich zu einer Identifikation mit dem Aggressor führen muss, zu der Verinnerlichung der Vorstellung: Gewalt ist dann keine Gewalt, wenn sie im Namen der Erziehung, denn im Namen der Liebe stattfindet.

Diese vermutlich häufigste Reaktion spiegelt sich u. a. in dem weit verbreiteten Satz wider: »Mir hat das auch nicht geschadet!«

2. Die schreckliche Möglichkeit in Erwägung zu ziehen oder gar zu der entsetzlichen Erkenntnis zu gelangen: »Meine Eltern lieben mich nicht.« Das Leid aufgrund dieses Gedankens dürfte unermesslich sein und einen Menschen dazu bringen, sich völlig allein und verlassen zu fühlen und an »gar nichts mehr« zu glauben.

3. Die schwierigste und vielleicht gesündeste Reaktion: zu erkennen, dass der Satz nicht wahr sein kann: »Meine Eltern müssen sich irren. Sie lieben mich, und denken, das sei gut für mich – die Armen! Aus irgendeinem Grund können oder dürfen sie nicht anders – die Armen!«

Erzieherische Gewalt war schon immer heimtückisch, nur ist sie im Laufe der Zeit immer heimtückischer geworden. Aus dem »Ja, Gewalt muss sein im Namen der Erziehung!« wurde »Nein, Gewalt darf nicht sein, das darf es nicht mehr geben – und das gibt es auch von jetzt an nicht mehr – dafür werden wir sorgen, koste es, was es wolle!« Die vermeintliche offene Bekundung, Gewalt in der Erziehung abzulehnen, verbunden mit der Angst vor Strafe (denn wir haben die kultivierte Gewohnheit verinnerlicht, Verbotenes durch die Androhung und Umsetzung von Bestrafung durchzusetzen) haben dazu geführt, dass wir Gewalt immer weiter verstecken mussten, Altes neu definieren und es nun so zurechtlegen müssen, dass es passt: so werden Strafen heute »Konsequenzen« genannt – die dürfen nicht nur, sondern müssen ja sein! Der Eingriff in die freie Selbstentfaltung des Menschen wird heute »Förderung« genannt. Im Zweifel kann jegliches Verhalten, welches unter mündigen, erwachsenen Menschen als Übergriff oder Gewalt angesehen würde, unter den Begriffen »Schutz« und »Erziehung« getarnt und legitimiert werden – und dies wird es auch.

Wir haben uns schöne Gesetze ausgedacht. So lautet seit dem Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch der §1631 (2): »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Nur wer hat das Definitionsprimat darüber, was verletzend und entwürdigend ist? Ist dies im Namen der Erziehung zu relativieren?

Wir machen uns viele Gedanken darüber, wie wir mit weniger gewaltvollen, mit möglichst gewaltfreien Methoden unsere Ziele – nämlich all jene des Erziehungs- und des Bildungsauftrags – erreichen können … Seltener machen wir uns Gedanken über die Ziele selbst, deren Inhalt und Sinn. Und eigentlich nie machen wir uns Gedanken darüber, ob die Tatsache, dass wir überhaupt Ziele verfolgen, fraglich ist? Offen bleibt die Frage:

Kann Erziehung jemals gewaltfrei sein?

Die Frage »Was ist Gewalt und wie begegnen wir ihr?« bildet einen roten Faden, der sich durch die folgenden Kapitel zieht. Aus einigen schmerzlichen Beobachtungen heraus entstand bei mir der Wunsch, Dinge einmal aus anderen als den üblichen Perspektiven zu betrachten: den Ursachen von Gewalt auf den Grund zu gehen, anstatt sie »symptomatisch« zu behandeln – also nur oberflächlich etwas verändern zu wollen; Gesamtzusammenhänge zu betrachten und die Dinge im Rahmen ihres Kontextes zu sehen, anstatt vereinzelte Schuldige zu suchen und zu finden; aus dem Täter-Opfer-Denken auszusteigen, welches Gewalt verlagert und weiterhin nährt; und vor allem: unsere Krisen, Sorgen und Nöte als Chancen zu begreifen, etwas zu erkennen und uns weiterzuentwickeln.

Im Fokus steht die Schule, und zwar aus dem Grunde, weil an ihr deutlich wird, wie es um die Würde des Menschen und um den Respekt vor seinem Sein, seiner Freiheit, seiner Selbstbestimmtheit, seiner Grundrechte steht. Auch deshalb, weil gerade hier der Aspekt der Gewalt von besonderer Bedeutung ist, da ein Staat, der sich verfassungsmäßig dazu verpflichtet hat, Menschen vor Gewalt zu schützen, selbst als Akteur systematisch und tiefgreifend gewalttätig ist – aber offiziell wird offensichtliche staatliche Gewalt nicht als Gewalt definiert. Aus dem Grunde ist es so schwer, staatliche Institutionen und Behörden, von denen klar Gewalt ausgeht, wegen der eindeutigen Verletzung der Würde eines Menschen juristisch zu belangen.

In diesem Buch geht es um ein mit einem Tabu belegtes Thema, also nicht nur ein Thema, welches keinen Platz im öffentlichen Raum einer Gemeinschaft hat, somit vor jeder wirklich grundlegenden Diskussion darüber geschützt ist, sondern welches viel mehr noch unangreifbar, unhinterfragbar ist und sich jeglicher rationalen Begründung und Kritik entzieht. Im Dorsch – Lexikon der Psychologie ist zu lesen: »Die Tabus der modernen Gesellschaft sind vielfach in der Rechtsprechung verankert oder werden als Verhaltensregeln anerzogen.«

Es gibt Hinweise, aufgrund derer wir vermuten können, auf ein Tabu-Thema gestoßen zu sein: Die Erwähnung des Themas führt zu starken emotional aufgeladenen Spannungszuständen bei den Zuhörern (oder Lesern). Eine Diskussion auf sachlicher, vernünftiger, rationaler Ebene scheint unmöglich; es geht meist nicht mehr um die Sache und die Inhalte des Themas, sondern um die Infragestellung der Person, die das Thema ansprach (»unglaubwürdig«, »nicht ernst zu nehmen«, »Verrückter«, »Spinner« usw.). Lassen wir uns also überraschen, was nach dem Tabubruch geschieht, welcher mit dieser Schrift begangen wird.

An dieser Stelle ist es mir wichtig, den Leserinnen und Lesern meiner in den unerzogen Magazinen publizierten Beiträge zu danken, dass sie durch ihr Interesse mich dazu bewogen haben, das nun vorliegende Buch herauszugeben.

Gießen, Herbst 2015

Franziska Klinkigt


1 auslegungssache.at/4030/wer-sein-kind-liebt-der-zuechtigt-es/