Karl Heinz Brisch

Schwangerschaft
und Geburt

Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte
Beratung und Psychotherapie

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Klett-Cotta

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Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

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Cover: Roland Sazinger
Unter Verwendung eines Fotos von © DaraZett – Fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94781-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10498-1

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20188-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Dank

Vorwort

Einleitung

Teil 1 – Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie

und bindungsbasierten Beratung

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Intervallbehandlung

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für werdende Eltern

Teil 2 – Bindungsentwicklung vor und nach der Konzeption

Gesunde Entwicklung

Schutz- und Risikofaktoren

Die Bedeutung des Vaters

Präimplantationsdiagnostik (PID)

Beispiel: Präimplantationsdiagnostik nach traumatischen Erfahrungen bezüglich der Geburt des ersten Kindes

Verlust des Kindes in der Frühschwangerschaft

Beispiel: Bindungsdiagnostik nach mehrmaligem

Verlust des Fetus

In-vitro-Fertilisation

Schwangerschaft zu erreichen

Ei- und Samenspende

Beispiel: Die Entwicklung einer Bindung ans Baby nach einer Ei- und Samenspende

Leihmutter

Beispiel: Ein schwieriges Verhältnis zu Leihmutter und Baby

Psychiatrische Erkrankung der Mutter und/ oder des Vaters

Beispiel: Babywunsch nach traumatischen Erfahrungen der Eltern

Mehrlinge

Beispiel: Bei der Geburt von Zwillingen Unterstützung annehmen

Unfruchtbarkeit

Beispiel: Probleme bei der Bindungsentwicklung zu Pflegekindern

Ungewollte Schwangerschaft

Beispiel: Schwangerschaft in der Phase der Ablösung von den Eltern

Unentdeckte oder verleugnete Schwangerschaft

Beispiel: Die Schwangerschaft wird im Alltag ignoriert

Teil 3 – Bindungsentwicklung während der Schwangerschaft

Pränatale Diagnostik

Beispiel: Angst der Eltern nach unklaren Befunden der pränatalen Diagnostik

Beispiel: Pränatale Diagnostik einer Fehlbildung am Herzen des Fetus

Frühgeburt

Beispiel: Frühgeburt und die Bindung zum Kind nach der Trennung vom Partner

Fehl- und Totgeburt

Beispiel: Eine Fehlgeburt verarbeiten

Beispiel: Eine völlig unerwartete Totgeburt

Psychiatrische Erkrankung der Mutter bzw. des Vaters

Beispiel: Depressive postpartale Episoden nach der Geburt der Kinder

Teil 4 – Bindungsentwicklung während und nach der Geburt

Gesunde Entwicklung

Schutz- und Risikofaktoren

Die Bedeutung des Vaters

Komplikationen bei der Geburt

Für Mutter und Kind lebensbedrohliche Notfallsituationen

Beispiel: Notfalleinweisung in die Klinik nach dem Ultraschall

Trennung von Eltern und Kind nach der Geburt

Beispiel: Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung nach der Trennung vom Kind

Behinderung des Kindes

Beispiel: Belastung der Eltern bei einer Spina bifida des Kindes

Plötzlicher Kindstod

Beispiel: Verarbeitung des Traumas nach plötzlichem Kindstod

Psychiatrische Erkrankung der Mutter bzw. des Vaters

Beispiel: Schizophrene Erkrankung des Vaters

Häusliche Gewalt

Beispiel: Die Auswirkungen von Gewalterfahrungen der Eltern in ihrer Kindheit

Anonyme Geburt, Babyklappe und Findelkinder

Beispiel: Anonyme oder offene Adoption?

Geburt nach einer Vergewaltigung

Beispiel: Die Distanz einer Mutter zum Kind nach der Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung

Geburt nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit

Beispiel: Die Geburt »triggert« Missbrauchserfahrungen . . .

Bindung und Umgang nach einer Trennung der Eltern während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt . . .

Beispiel: Die neue Beziehung der Mutter stellt den Aufbau einer Bindung zwischen Vater und Kind infrage . . . 176

Teil 5 – Primäre Prävention durch »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern«

Ziele der primären Prävention

Zielgruppe für eine Prävention

Inhalte des Programms SAFE®

SAFE® – pränatales Modul

SAFE® – postnatales Modul

Individuelle Traumapsychotherapie

Hotline

SAFE®-Mentorenausbildung

Evaluation und Forschung zum Programm SAFE®

Teil 6 – Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Über den Autor

Dank

Ich danke allen Schwangeren, Eltern und Kindern sowie Kolleginnen und Kollegen, durch die ich die verschiedensten Therapieerfahrungen machen konnte, die in die Fallgeschichten dieses Buchs eingeflossen sind. Ohne diese gesammelten klinischen Erfahrungen wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben.

Ich bin Herrn Dr. Beyer vom Verlag Klett-Cotta zu großem Dank verpflichtet, weil er den Anstoß zu dieser Reihe der Bücher zur Bindungspsychotherapie gab und sich beim Verlag für die Umsetzung eingesetzt hat. Ich danke ebenso Birgit Vogel, die sehr zuverlässig und mit großem Engagement aus meinen Diktaten die Rohfassung der Manuskripte zu diesem Buch erstellt hat. Ohne ihre rasche und intensive Arbeit wäre es nicht möglich gewesen, das Buch in so kurzer Zeit zu erstellen. Herrn Thomas Reichert danke ich von Herzen, weil wiederum er – wie auch schon bei vielen meiner bisherigen Bücher – mit großer Genauigkeit sowie mit viel Engagement das Manuskript zu diesem Buch lektoriert hat.

Abschließend danke ich meiner Frau Lizzy dafür, dass sie mir kritische Rückmeldungen zu den einzelnen Beispielen aus Beratung und Therapie gab und mich auf notwendige Ergänzungen aufmerksam machte, so dass das Buch wesentlich prägnanter und für den Leser verständlicher wurde.

Vorwort

In der Vergangenheit wurde ich in vielen Workshops und Seminaren immer wieder gefragt, wie das bindungstheoretische Wissen am besten psychotherapeutisch umgesetzt werden könnte. Dabei kamen Berater und Therapeuten aus den verschiedensten Einrichtungen auf mich zu mit der Frage nach genauerem Wissen, wie die verschiedenen Klienten- und Altersgruppen, die sie betreuen – von Schwangeren, Säuglingen, Kindern und Jugendlichen bis zu Erwachsenen und Patienten im hohen Alter – am besten unter bindungstheoretischen Aspekten versorgt und behandelt werden könnten.

Aus diesem Anliegen heraus hat sich eine aus Modulen bestehende Weiterbildungsreihe entwickelt, die ich unter dem Namen »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Therapie« anbiete. Sie setzt sich aus vier Modulen zusammen, einem Modul 1 über Bindungsentwicklung, Bindungsstörungen und über die Grundlagen der bindungsbasierten Beratung und Therapie sowie aus drei weiteren Modulen: Die Teilnahme an dem ersten Modul mit dem Erwerb des Grundlagenwissens ist Voraussetzung für die Ausbildung in den weiteren Modulen: Modul 2 beschäftigt sich mit der Zeit der Schwangerschaft, Geburt und dem Säuglingsalter, Modul 3 umfasst die Altersgruppe »Kinder und Jugendliche« und Modul 4 bezieht sich auf die bindungsorientierte Behandlung von Erwachsenen.

Diese Weiterbildungen zur bindungsbasierten Therapie und Beratung finden bei verschiedensten Berufsgruppen sehr große Resonanz. Die Rückmeldungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Seminarkurse sind sehr positiv und zeigen, dass das dort von mir vermittelte Wissen von den Seminarteilnehmern in der alltäglichen Arbeit in verschiedensten Kontexten unmittelbar umgesetzt und angewandt werden kann.

kleineren Bänden zu veröffentlichen. Diese sollen unter dem Oberbegriff »Bindungspsychotherapie« einer größeren Leserschaft sowohl das sehr spezifische bindungstheoretische Grundlagenwissen bezüglich der jeweiligen beschriebenen Klientel und Altersgruppe vermitteln als auch an vielen Behandlungsbeispielen verdeutlichen, wie die Theorie der Bindungspsychotherapie und der bindungsbasierten Beratung konkret für verschiedene Altersgruppen umgesetzt werden kann.

Der vorliegende Band fokussiert auf die Entwicklungszeit von Konzeption, Schwangerschaft und Geburt. Er steht am Anfang der Reihe »Bindungspsychotherapie«, weil die Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind bereits ganz früh, mit der Konzeption und dem Beginn der Schwangerschaft bzw. sogar noch davor, beginnt. Bereits in dieser Zeit sind die werdenden Eltern emotional und in ihren Fantasien sowie Erinnerungen mit ihren inneren Bindungsgeschichten, die sie aus ihrer Kindheit mitbringen, beschäftigt. Hierdurch wird auch die weitere Entwicklung von Schwangerschaft und Geburt beeinflusst, wie die Beispiele zeigen. Besonders die vorgeburtliche Entwicklung der Bindung der Eltern zum Baby, das elterliche pränatale Bonding, ist für die spätere Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind nach der Geburt von großer Bedeutung.

Dieser Band zeigt die Möglichkeiten, aber auch die Belastungen in der Zeit der vorgeburtlichen Bindung auf; er erläutert, wie man Eltern auf der Grundlage der Bindungstheorie beraten und psychotherapeutisch zur Seite stehen kann, wenn die Entwicklung von der Konzeption bis zur Geburt nicht optimal verläuft und es beim Kind und/oder den Eltern zu Problemen kommt. In diesem Band wird auch betrachtet, welche Veränderungen bei den werdenden Eltern während der Schwangerschaft sowie in der Zeit während und nach der Geburt selbst ablaufen. Ausführliche Therapiebeispiele verdeutlichen das Vorgehen und runden den vorliegenden Band ab.

Dieser Band richtet sich an alle, die mit Schwangeren, Eltern und Säuglingen arbeiten und diese auf ihrem Entwicklungsweg begleiten, Beispiel: Psychotherapie nach vergeblichen Versuchen, über eine In-vitro-Fertilisation eine wie etwa Schwangerschaftsberaterinnen, Hebammen, Geburtshelfer, Kinderärzte, Allgemeinärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater und Psychotherapeuten, Krankenschwestern und -pfleger, Psychologen, Berater, Sozialarbeiter, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes und der Sozialdienste, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Erzieher und Seelsorger, sowie letztlich auch an werdende und junge Eltern.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Die Bindung der werdenden Mutter und des werdenden Vaters an das Kind beginnt bereits während der Schwangerschaft. Die Entwicklung und Qualität der Bindung hängt stark von ihren eigenen früheren Bindungserfahrungen ab. Diese beeinflussen die Wünsche, Hoffnungen und Vorstellungen in Bezug auf das Baby, welche die Eltern bereits vor der Schwangerschaft hatten und die sie während der Schwangerschaft weiterentwickeln. Oft sind es ausgeprägte Fantasien über Eigenschaften des Kindes, die die Eltern beschäftigen und ihre emotionale Bindung an das Kind stärken oder auch schwächen können. Komplikationen bei der Konzeption, Befunde während der Schwangerschaft über Fehlbildungen des Fetus oder Vorstellungen vom Temperament des Kindes, seinen Fähigkeiten, Widerstandskräften, manchmal auch Ängste hinsichtlich der Behinderungen, die es haben könnte, können die Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung günstig oder ungünstig beeinflussen. Probleme gibt es besonders dann, wenn Fehl- oder Totgeburten vorausgegangen sind oder die werdenden Eltern frühere Erfahrungen von sexueller Gewalt gemacht haben. Eine bindungsbasierte Psychotherapie kann die werdenden Eltern sehr gezielt beim Aufbau einer Bindung zu ihrem Fetus begleiten, wie die vielfältigen Therapiebeispiele ausdrücklich zeigen.

Nach der Darstellung der allgemeinen Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und der speziellen Grundlagen der Bindungspsychotherapie für werdende Eltern im ersten Teil beschreibe ich in Teil 2 die Bindungsentwicklung vor und nach der Konzeption sowie während der Schwangerschaft und nach der Geburt. Nach einer Einleitung, welche die gesunde Entwicklung beschreibt, werden Schutz- und Risikofaktoren dargestellt. Schon diese Zeit spielt eine besondere Rolle für die Entwicklung einer Bindung zwischen Vater und Fetus, das Verhalten des »werdenden Vaters« hat aber auch große Bedeutung für die Entwicklung der Bindung zwischen Mutter und Kind. Es werden weiter besondere Risikokonstellationen und stressvolle Ereignisse rund um die Konzeption gewürdigt, wie etwa In-vitro-Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, Ei- und Samenspende, Leihmutterschaft, Unfruchtbarkeit, psychiatrische Erkrankung der Mutter oder des Vaters oder auch eine Mehrlingsschwangerschaft. Alle dies kann in der einen oder anderen Weise die Bindungsentwicklung komplizieren, so dass die werdenden Eltern möglicherweise eine bindungsorientierte Hilfestellung und Therapie benötigen. Dies wird an verschiedenen Therapiebeispielen verdeutlicht.

Im dritten Teil wird wieder besonders aus bindungstheoretischer Sicht in Therapiebeispielen auf komplikationsreiche Konstellationen, die Risiken bergen, auf die Bedeutung des Vaters, die stressvolle Situation der pränatalen Diagnostik, die Situation bei einer Fehlbildung des Fetus, aber auch bei Früh- und Totgeburt eingegangen. Auch eine psychiatrische Erkrankung der Mutter oder des Vaters kann die Schwangerschaft und die sich entwickelnde Bindung der werdenden Eltern zu ihrem Fetus beeinträchtigen; dieses wichtige Thema wird in einem eigenen Abschnitt gesondert behandelt.

Der vierte Teil widmet sich der Zeit kurz vor, während und nach der Geburt. Ob eine gesunde Bindungsentwicklung möglich ist, hängt sehr davon ab, wie die Geburt verläuft, welche Erfahrungen die Eltern im Kreißsaal und während der Geburt machen und wie der Kontakt mit dem Kind nach der Geburt aufgebaut werden kann. Besondere Schutz- und Risikofaktoren, das Verhalten des Vaters in dieser Situation, Geburtskomplikationen, eine für Mutter und Kind lebensbedrohliche Notfallsituation, aber auch die Trennung von Eltern und Kind oder eine bei der Geburt festgestellte Behinderung können die gesamte Bindungsentwicklung negativ beeinflussen und die emotionale Situation der Eltern prägen sowie ihre Fähigkeit, sich auf das geborene Kind einzulassen, erheblich beeinträchtigen; für die emotionale Situation der Eltern hat natürlich auch ein Tod des Kindes nach der Geburt große Bedeutung. In der Zeit unmittelbar nach der Geburt kann sich auch bereits eine psychiatrische Erkrankung der Mutter – wie eine postpartale Depression (Murray 2011; Murray & Cooper 1997; Murray et al. 2002) oder eine postpartale Psychose (Brockington 2007; Riecher-Rössler 2001) – oder eine postpartale Depression des Vaters zeigen; all dies beeinträchtigt ebenso die Bindungsentwicklung.

Einen besonderen Abschnitt widme ich – mit Beratungsbeispiel – dem Thema »Anonyme Geburt, Babyklappe und Findelkinder«. Diese Kinder haben es besonders schwer, weil oftmals zunächst keine Bindungspersonen da sind, zu denen sie eine sichere Bindung entwickeln könnten. Pflege- und Adoptiveltern können zwar hier »einspringen«, die besonderen Umstände der Geburt und die Tatsache, dass diese Kinder nicht wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind, beschäftigen sie aber in der Regel doch zeitlebens, so dass sie in besonderem Maße bindungspsychotherapeutische Unterstützung benötigen.

Wenn sich die Eltern noch während der Schwangerschaft oder nach der Geburt trennen oder wenn sie nie ein Paar waren noch je eines sein werden, sind sie mit der Frage beschäftigt, wie der Umgang mit dem Kind geregelt werden soll: Wo soll das Baby aufwachsen, wie kann der Vater eine eigenständige sichere Bindung mit dem Säugling entwickeln, wenn dieser noch sehr intensiv – etwa wegen des Stillens – die Mutter braucht? Solche Fragen können sehr drängend sein und sollen hier in einem eigenen Therapiebeispiel bindungsspezifische Antworten finden.

Im fünften Teil beschreibe ich die Möglichkeiten einer primären bindungsorientierten Prävention, die in der Schwangerschaft beginnt und die Eltern in Gruppen mit ihren Kindern begleitet, so wie dies in dem Programm »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« schon realisiert wird.

Das Buch schließt im sechsten Teil mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick; hier werden auch die Möglichkeiten weiterer Präventionsmöglichkeiten und frühzeitiger psychotherapeutischer bindungsorientierter Interventionen beschrieben.

TEIL 1

Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Eine bindungsbasierte Beratung und Therapie – im Folgenden auch kurz Bindungspsychotherapie genannt – ist keine eigenständige Therapiemethode. Vielmehr geht es darum, eine bindungsorientierte Sichtweise in Diagnostik und Behandlung aufzunehmen. Sie kann mit sehr unterschiedlichen Therapieschulen und Methoden kombiniert und in sie integriert werden.

Als grundsätzliche Voraussetzung, um mit einer bindungsbasierten Psychotherapie beginnen zu können, gilt, dass ein sicherer äußerer Rahmen gegeben sein muss. Zunächst sollten äußere Stressoren – besonders sowohl soziale Stressoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit, aber auch Stressoren durch nahe Bindungs- und Beziehungspersonen – so weit wie möglich reduziert werden.Weiterhin ist eine Grundvoraussetzung, dass ein sicherer »innerer Rahmen« gegeben ist. Damit ist gemeint, dass die betroffenen Klienten zu einer ausreichenden Stress- und Affektregulation im Alltag fähig sind. Hierzu ist eine gewisse emotionale Sicherheit und ein gewisses Maß an Stabilisierung notwendig.

Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so ist eher an eine stationäre denn an eine ambulante Beratung oder Bindungspsychotherapie zu denken. Ein sicherer äußerer wie innerer Rahmen als Grundvoraussetzung für die Psychotherapie ist immer so frühzeitig und so langfristig anzustreben wie irgend möglich (Bowlby 2001; Brisch 2011; Holmes 2002, 2006, 2012).

Ich beschreibe im Folgenden verschiedene Phasen der Bindungspsychotherapie.

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Phase 1: In der Anfangsphase ist es immer von großer Bedeutung, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin einen sicheren emotionalen therapeutischen Bindungsrahmen herstellen kann. Bei den Klienten/Patienten gibt es die verschiedensten Bindungsstörungsmustern und auch Bindungsschwierigkeiten, wenn sie in der Anfangsphase mit dem Therapeuten einen therapeutischen Kontakt herstellen wollen. Hier ist es sehr wichtig, wenn die Therapeuten die verschiedenen Muster der Bindung sowie auch der Bindungsstörungen kennen, um sich auf die bizarren Varianten der Interaktionsmuster und der Kontaktaufnahme einzustellen und dem Patienten dennoch die Möglichkeit zu geben, eine sichere Beziehung im Sinne einer therapeutischen Bindung herzustellen. Dies muss der Therapeut an erster Stelle leisten.

Wenn ein Patient z. B. mit einem bindungsvermeidenden Muster einen Termin, den er als dringlich bezeichnet und verabredet hat, nicht wahrnimmt, könnte ein Therapeut daraus schließen, dass er kein Interesse an der Therapie hat. Dies wäre aber ein Fehlschluss, da viele bindungsvermeidende Patienten zwar einen Therapiewunsch haben, gleichzeitig aber Therapietermine zu Anfang nur zögerlich, verspätet oder gar nicht wahrnehmen. Hier ist es erforderlich, dass der Therapeut im telefonischen Kontakt nachfragt und nicht gleich die Therapie daran scheitern lässt, dass der für den Erstkontakt vereinbarte Termin nicht wahrgenommen wurde.

Für die Herstellung einer therapeutischen Bindung ist es von großer Bedeutung, dass die Therapeuten mit maximaler therapeutischer Feinfühligkeit vorgehen. Dies heißt aber, dass sie die Fähigkeit hierzu vorher selbst durch entsprechende Ausbildung erworben haben müssen; es mag »Naturtalente« geben, die von Haus aus große Fähigkeiten zur therapeutischen Feinfühligkeit mitbringen, alle anderen Therapeuten müssen dies im Rahmen der Ausbildung anhand von entsprechenden Supervisionen, Feedbacks, Videotrainings, Selbsterfahrung und dergleichen lernen – andernfalls bestünde keine gute Voraussetzung, um eine sichere therapeutische Bindung herstellen zu können. Nach wie vor ist aber die Ausbildung in therapeutischer Feinfühligkeit nicht Kernbestandteil jeder therapeutischen Ausbildung – das gilt für viele therapeutische Schulen.

Phase 2: Wenn sich der Patient in der therapeutischen Beziehung langsam sicherer fühlt, wird er beginnen, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Konflikte und Probleme etwas mehr zu explorieren, sprich: uns zu berichten. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen sich entwickelnder Bindungssicherheit und beginnender Exploration ein Gleichgewicht bzw. eine wechselseitige Abhängigkeit besteht – das heißt konkret: Wenn die Bindungssicherheit wächst, der Patient sich sicherer fühlt, wird automatisch die Explorationsfreude und -bereitschaft aktiviert. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn der Patient in der Therapie Angst bekommt oder wir als Therapeuten ihm durch unsere Haltung, Gestik, Mimik, Art der Intervention Angst machen, wird er automatisch seine Explorationsfähigkeit und damit auch den Bericht über seine aktuellen Schwierigkeiten und Probleme oder seine Lebensgeschichte einschränken.

Von besonderer Bedeutung für die bindungstherapeutische Arbeit sind Trennungserfahrungen, Verluste sowie traumatische Erfahrungen, weil diese das Bindungssystem gemäß dem Ansatz der Bindungstheorie am meisten aktivieren. Die Exploration soll in der Therapie mehr an bindungsrelevanten Themen »entlanggehn« und diese auch fokussieren und weniger konfliktzentriert arbeiten. Es geht also weniger um Konflikte zwischen Wunsch und Angst, die sich aus verschiedenen lebensgeschichtlichen Perspektiven und aus verschiedenen entwicklungspsychologischen Phasen ergeben haben können, sondern um eine Bindungsanamnese, die speziell auf bindungsrelevante Themen fokussiert. Das Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI; vgl. Main et al. 2003) stellt ein Verfahren dar, eine Bindungsanamnese sehr strukturiert durchzuführen. (Die Fragen des AAI finden sich in Brisch 2011a, S. 319 – 324.) In der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Vätern und jungen Eltern kann das Bindungsinterview bei der Frage danach, ob die Betreffenden wichtige Menschen verloren haben, noch um die Frage nach verstorbenen Kindern – auch nach etwaigen Schwangerschaftsunterbrechungen, Fehl- und Totgeburten – ergänzt werden.

Phase 3: Der Patient macht in der Beziehung zum Therapeuten neue Bindungserfahrungen, erfährt entsprechend Sicherheit und emotionale Unterstützung, womit auch die therapeutische Bindungsbeziehung sich stabilisiert und wächst; gleichzeitig wird er aufgrund erster Enttäuschungen und Irritationen in der Bindungssicherheit in der Übertragung beginnen, alte Erfahrungen von Verlusten und Trennungen und stressvolle Erfahrungen auf den Therapeuten zu projizieren. Das heißt, es kommt zu einer Bindungsübertragung in der Therapie; dies bedeutet, dass der Patient seine Bindungswünsche und -ängste auf den Therapeuten überträgt und auch seine bisherigen Bindungserfahrungen – z. B. Bindungstraumatisierungen in der Beziehung mit frühen Bindungspersonen – in der Beziehung mit dem Therapeuten aktivieren und inszenieren wird. Besonders am Anfang und am Ende der Stunde kann das Thema »Trennung« relevant werden, bewirkt durch mit dem Setting verbundene Trennungen wie eben das Ende der Stunde, vorhergesehene Therapieunterbrechungen etwa durch Urlaube, unvorhergesehene Unterbrechungen z. B. durch Krankheiten des Therapeuten. All diese Trennungen können das Bindungssystem des Klienten »erschüttern«, etwa wenn der Patient traumatische Trennungserfahrungen erlebt hat, oder »stressen«, so dass er hierdurch in der Übertragung seine bindungsrelevanten Erfahrungen neu zeigen und für den Therapeuten auch offenlegen kann. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut diese Inszenierung der Bindungsübertragung versteht, die in der Regel mit Angst, Wut, Enttäuschung und Hoffnung auf mehr Sicherheit und Stabilität verbunden ist.

Gleichzeitig werden auch Realtraumatisierungen aus der Kindheit oder der Vergangenheit des Patienten zum Thema werden, da er durch die Trennungserfahrungen aus der Therapie in der Regel, wie wir sagen, »getriggert« wird, so dass er alte, ungelöste traumatische Erfahrungen jetzt plötzlich wieder intensiver mit allen damit verbundenen Gefühlen wahrnimmt. (»Trigger« ist im Amerikanischen der Abzug am Gewehr. Wenn dieser bis zu einem Druckpunkt und schließlich darüber hinaus gespannt wird, dann löst sich beim Überschreiten des Druckpunktes die Kugel, der Schuss geht los und lässt sich nicht mehr aufhalten oder zurückhalten; ähnlich ist es mit alten unverarbeiteten Affekten: Werden sie durch andere Reize aus der Erinnerung wachgerufen, kommen sie immer mehr an die Oberfläche des affektiven Erlebens. Steigt der affektive Druck über den »Druckpunkt« an, dann kommt es zu einer plötzlichen affektiven Überflutung und einem Ausbrechen der Affekte, diese können weder »zurückgeholt« noch kontrolliert werden.)

Solche Triggerungen von früheren Verlusten und Trennungserfahrungen oder traumatischen Erfahrungen lassen sich erfahrungsgemäß nicht vermeiden; sie sind auch durchaus erwünscht, wenn erst einmal eine stabile therapeutische Bindungsbeziehung etabliert ist. Denn dann können die Erfahrungen mit eigenen unverarbeiteten Affekten in der therapeutischen Bindungsbeziehung gehalten, neu in einer geschützten sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung prozessiert und verarbeitet und somit auch integriert werden. Jetzt hat der Klient – im Unterschied zu der früheren traumatischen Situation – eine therapeutische Bindungsperson zur Seite, so dass er sich nicht mehr vor den heftigen Affekten fürchten muss. Es wird nun möglich, alte traumatische Erfahrungen entsprechend zu prozessieren. Hierbei können weitere therapeutische Methoden, wie auch EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) (Brisch 2012 a, b) und Screentechnik (Brisch 2004 b, 2006 b), Anwendung finden.

Es können viele therapeutische Methoden, auch kreative Methoden wie Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie, angewandt werden, um Affekte, die noch nicht verarbeitet sind, zu integrieren. Grundsätzlich ist zu bemerken: Bei den alten unverarbeiteten Bindungstraumatisierungen, die der Klient – mit den entsprechenden seelischen Wunden – überlebt und überstanden hat, besteht das größte Problem darin, dass die mit diesen Erfahrungen verbundenen Affekte abgespalten oder dissoziiert wurden. In der therapeutischen Beziehung können diese Affekte mit den entsprechenden Erfahrungen wiederbelebt und aktiviert werden, z. B. auch durch die Bindungsübertragung. Aufgrund dieser Aktivierung wird es jetzt möglich, auf dem Boden einer hilfreichen, realen, sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung die alten unverarbeiteten Affekte erneut zu verarbeiten und auch mit den entsprechenden Geschichten bzw. Narrativen der Erfahrung zu verbinden, so dass es zu einer Integration des Erlebten kommen kann.

Phase 4: Wenn mehr und mehr solcher alten affektiven Erfahrungen positiv verarbeitet und integriert werden können, hat der Patient (oder Klient) in der Regel mit seinen Affekten mehr »Luft« zum »Atmen und Handeln« und Möglichkeiten für eine Veränderung seiner Realbeziehung. In der Regel berichten die Patienten dann, dass sie auch außerhalb der Therapie neue Erfahrungen mit Personen machen konnten. Gleichzeitig beginnt eine intensive Phase der Trauerarbeit. In der Regel können die Patienten jetzt realisieren, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie diese oder jene traumatische Trennungs- und Verlusterfahrung nicht gemacht hätten.

Am Ende der Therapie wird es möglich zu sehen, dass der Patient seine ursprüngliche Bindungsrepräsentation – diese kann vermeidend, ambivalent oder auch desorganisiert sein – verändert hat und er in der therapeutischen Beziehung vielleicht zum ersten Mal ein inneres Gefühl von emotionaler Sicherheit erlebt und integriert und auch »emotional abgespeichert« hat. Wir sprechen dann von einer erworbenen Bindungssicherheit (»earned secure«; vgl. Main 1995) – von einer Sicherheit, die durch den therapeutischen Prozess erst auf den Weg gebracht wurde, sprich: durch die Therapie erst erworben oder gewonnen werden konnte.

In der Phase der Trauerarbeit kann es den Patienten phasenweise noch mal sehr schlecht gehen; sie sind depressiv, suizidal und hadern teilweise mit ihrem Schicksal, dass sie etwa in ihrer Kindheit durch solche Höllenqualen und schlimmen Erfahrungen hindurchgehen mussten und ihnen dadurch so viele Möglichkeiten, Entwicklungen in ihrem Leben versperrt geblieben sind. Es ist wichtig, dass diese Phase ausreichend bearbeitet und in der therapeutischen Beziehung erlebt werden kann, d. h. es ist genügend Raum für die Trauerarbeit erforderlich. Wenn ein Klient viele bindungsrelevante Trennungsund Verlusterfahrungen durchgemacht hat, gibt es genügend Grund, auch hierüber real zu trauern. Oftmals sind die heftigen Gefühle von Schmerz und Trauer bisher noch nie in eine Beziehung eingebracht worden, so dass jetzt, in der therapeutischen Bindungsbeziehung, erstmals auch Trost, Unterstützung, Verständnis, Anerkennung des Leids und liebevolle Begleitung im Trauern erfahren werden können. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was die Patienten oft vorher erlebt haben: nämlich Verleugnung des Schmerzes, reale Traumatisierung, keine Anerkennung der schmerzvollen und leidvollen Erfahrungen, die vielmehr bagatellisiert oder als solche verleugnet wurden.

Phase 5: Wenn mehr und mehr traumatisches Material und bindungsaffektgeladene Erfahrungen verarbeitet wurden, kann der Patient zunehmend außerhalb der Therapie explorative neue Wege gehen, sich auf neue Beziehungen, aber auch auf neue berufliche Aktivitäten und andere Weisen der explorativen Erkundung des Lebens einlassen. Zum ersten Mal kann er über einen Abschied von der Therapie nachdenken; gleichzeitig ist diese Phase dann aber auch von Ängsten im Hinblick darauf geprägt, wie der Patient in der Lage sein wird, ohne die therapeutische Unterstützung und die Sicherheit der Therapie den Alltag zu leben und zu gestalten.

Intervallbehandlung

Aus diesem Grunde biete ich den Patienten immer wieder an, dass sie jederzeit in die Therapie zurückkehren können, wenn sie erneut Angst haben oder unvorhersehbare Dinge geschehen oder wenn sie feststellen sollten, dass der Schritt der Ablösung und Trennung von der Therapie und der Abschied zu früh erfolgt sind. Wenn die therapeutische Bindungsbeziehung von Sicherheit und Schutz geprägt war, werden Patienten immer wieder auf die therapeutische Beziehung zurückgreifen, wenn sie zu späteren Zeiten in Not, Angst und Schrecken geraten und ihnen diese Empfindungen so bedrohlich erscheinen, dass sie glauben, dies nicht alleine bewältigen zu können. Oftmals sind die Behandlungsphasen dann kürzer. Solche erneuten Kurzbehandlungen bezeichne ich dann als »Intervallbehandlung«.

Es ist selbstverständlich, dass der Patient in solchen Fällen auf die sichere emotionale therapeutische Beziehung der früheren Therapie zurückgreifen kann, da die therapeutische Bindung in der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Abschied am Ende der ersten Therapie nicht aufgelöst wird. Vielmehr nimmt der Patient die innere sichere Repräsentation aus der therapeutischen Beziehung mit in sein Alltagsleben hinein und kann dann auch bei schwierigen, komplexen, Angst machenden Situationen auf diese zurückgreifen, ohne dass er den Therapeuten real aufsuchen oder überhaupt kontaktieren muss. Wenn er die Situation aber nicht bewältigen kann und sie ihm als sehr stressvoll erscheint, ist es eine wichtige Erfahrung und Information für den Patienten, dass er sich dann selbstredend jederzeit wieder bei seiner »therapeutischen sicheren Basis« melden und an den vorigen therapeutischen Prozess anknüpfen kann.

Da die gesamte Vorgeschichte des Patienten mit seinen spezifischen Verletzungen bekannt ist, können solche therapeutischen Intervallbehandlungen in der Regel ohne größere Verzögerung und »Anwärmphase« beginnen. Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, dass Patienten Platz nehmen und auch nach Jahren in der Therapie fortfahren, als ob sie gestern die letzte Stunde gehabt hätten.

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für werdende Eltern

Werdende Eltern verstehen sich vor, während und nach der Geburt nicht als Patienten. Sie befinden sich in einer Situation mit stressvollen Erlebnissen, die mit vielen Ängsten verbunden sind. Gleichzeitig sind unter Umständen vielfältige alte Erfahrungen wieder aktiviert. Wenn Eltern stressvolle Erfahrungen gemacht haben, wie sie in den folgenden Kapiteln geschildert werden – etwa Tod, Fehlgeburten, psychiatrische Erkrankungen –, und auch die Geburt ihres Kindes stressvoll war und als Krise erlebt wurde, ist ihr Bindungssystem, so können wir annehmen, extrem stark aktiviert. Selbst wenn sie keiner längeren Psychotherapie oder Beratung bedürfen, können beraterische und psychotherapeutische Interventionen als eine »phasenweise Begleitung« vor, während oder nach der Geburt solchen Eltern sehr gut helfen, sich zu stabilisieren, und sie damit auch befähigen, eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Wenn sich aber zeigt, dass frühere Erfahrungen traumatischer Art waren und jetzt durch die stressvollen Erlebnisse während der Geburt wieder aktiviert wurden, ist es notwendig, den Eltern auch die Möglichkeit einer längeren psychotherapeutischen Begleitung einzuräumen; so kann man ihnen in der Therapie die emotionale Sicherheit geben, um alte Verletzungen und traumatische Erfahrungen verarbeiten zu können, so dass sie trotz der eigenen schwierigen Vorgeschichte eine sichere Bindung zu ihrem Säugling aufbauen können.

Therapeuten machen immer wieder die Erfahrung: Wenn Eltern einen guten eigenen therapeutisch sicheren Kontext haben, unterstützt werden und die Möglichkeit erhalten, eigene schmerzvolle Erfahrungen wiederzuerleben und zu verarbeiten, können sie unmittelbar feinfühliger und reflektierter sowie differenzierter mit ihrem Baby umgehen; sie projizieren dann weniger von ihren eigenen Anteilen auf das Baby bzw. übertragen auf es weniger – durch entsprechende projektive Mechanismen – ihren eigenen Stress und die eigenen Ängste, z. B. Aggressionen oder Gefühle der Bedürftigkeit und bestimmte Erwartungen.

Wichtig ist, dass auch und gerade die Väter die Möglichkeit haben, solche therapeutischen Angebote zu nutzen, und dass sie hierzu auch motiviert werden. Frauen sind in der Regel schneller bereit, sich auf ein therapeutisches Bindungsangebot einzulassen; Männer mit einer eher bindungsvermeidenden Haltung gehen dagegen eher davon aus, dass sie Spannungen, Konflikte, Ängste im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt alleine lösen bzw. bewältigen müssen. Damit sind sie aber in einer sehr einsamen Position, oftmals sehr gestresst, überfordert, und all diese Gefühlskonstellationen sind nicht sehr hilfreich, um einen liebevollen, entspannten, bindungssicheren väterlichen Kontakt mit dem Baby aufzubauen. Aus unserer Erfahrung ist es aber möglich, Väter für die Psychotherapie zu gewinnen, wenn man um ihre bindungsvermeidende Haltung weiß.

Bei Frauen finden wir eher bindungsambivalente Haltungen, d. h. sie signalisieren sehr deutlich ihre Not, haben aber auch einen bindungsvermeidenden Anteil, der dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie Termine kurzfristig wieder absagen, dies etwa mit schlaflosen Nächten oder damit, dass sie von den Nöten des Babys überwältigt seien, begründen; entsprechend ist es wichtig, um ihre Ambivalenz zwischen dem Suchen und gleichzeitigen Vermeiden therapeutischer Nähe zu wissen, um ihr Verhalten, das man mit den Worten: »Komm her – geh weg« beschreiben kann, richtig einordnen und verstehen zu können. Nicht immer ist es das Baby, das anstrengend ist und die Absage der Stunde oder der gesamten Therapie erforderlich macht, sondern es sind die eigenen inneren Ambivalenzen, aufgrund deren sie therapeutische Unterstützung suchen, gleichzeitig aber auch therapeutische Hilfe vermeiden wollen. Dies äußert sich dann oft darin, dass die Schwangeren oder auch Mütter immer wieder anrufen und kundtun, dass sie doch glauben, mit dem Problem alleine zurechtzukommen, und sich fit und stark genug fühlen, so dass sie keine therapeutische Unterstützung annehmen müssen. Der differenzierte therapeutische Umgang hiermit wird z. B. in einem Therapiebeispiel am Ende von Teil 3 geschildert (vgl. auch Brisch 2007 a).1

TEIL 2

Bindungsentwicklung vor und nach der Konzeption

Gesunde Entwicklung

Die Entscheidung der Eltern für eine Schwangerschaft bedeutet in der Regel auch eine Entscheidung für die Bindungsbeziehung des Paares. Beiden Elternteilen ist in der Regel – bewusst oder unbewusst – klar, dass sie durch ein Kind in einer besonderen Weise miteinander verbunden sein werden, und zwar zeitlebens, auch wenn es später zu einer Trennung oder Scheidung kommen sollte. Kinder können nicht wieder »aufgelöst« oder »geteilt« werden, wenn die Eltern sich trennen wollen. Sie bleiben zeitlebens ein mit Mutter und Vater verbundenes Neues, das mit beiden Elternteilen in einer besonderen Bindungsbeziehung stehen wird, die, je nach Psychodynamik, von positiven wie auch von negativen Gefühlen geprägt sein kann. Selbst wenn der Vater nicht dabei ist, die Mutter das Kind alleine aufzieht oder der Vater gar nicht bekannt ist, lebt er in der Fantasie der Mutter und des Kindes und spielt eine eigene spezifische Rolle; auf den abwesenden oder unbekannten Vater werden Gefühle projiziert – Wünsche, Erwartungen, Ängste, Aggressionen, Hoffnungen.

Der Wunsch nach einer Schwangerschaft und danach, ein Kind zu bekommen, ist im positiven Falle mit sehr intensiven Gefühlen zwischen den Partnern verbunden. Sich auf eine Schwangerschaft einzulassen bedeutet auch, dem anderen nahe zu sein, ihm Schutz und Unterstützung und Vertrauen im Sinne des Urvertrauens angedeihen zu lassen. Ob es bei diesem emotionalen Hintergrund zu einer Schwangerschaft kommt, entzieht sich zunächst einmal dem Einfluss der Partner. Wichtig sind auch emotionale Sicherheit und Vertrauen in die eigenen Körperfunktionen und die eigene Fruchtbarkeit. Ist die Schwangerschaft zustande gekommen und auch der dritte Schwangerschaftstest positiv, ist dies in der Regel – bei einer gewünschten Schwangerschaft – für beide Elternteile eine große Freude. Zweifelsohne wird hierdurch die emotionale Verbindung des Paares gestärkt und intensiviert.

Schon bald tauchen in der Schwangerschaft regelmäßig Ängste und Ambivalenzen auf, sowohl gegenüber der Schwangerschaft, dem werdenden Kind als auch gegenüber dem Partner. Es entstehen Zweifel und Fragen in Bezug darauf, ob der Zeitpunkt der Schwangerschaft, der jetzige Partner oder die Partnerin oder auch die Lebensumstände die richtigen waren, um sich für ein Kind zu entscheiden. Wäre es nicht besser gewesen, sich zu einem anderen Zeitpunkt, unter anderen Gegebenheiten, mit einem anderen Partner, einer anderen Partnerin für eine Schwangerschaft zu entscheiden?

Während sich, wie gesagt, zwischen den werdenden Eltern eine intensive emotionale Verbindung entwickelt, können zugleich auch die Sorge, ein behindertes Kind zu bekommen, und etwaige Befunde der pränatalen Diagnostik, die Fehlbildungen anzeigen, bei ihnen Ängste hervorrufen und die pränatale Bindungsentwicklung (das »Bonding«) zu ihrem Fetus beeinträchtigen. Unter Umständen werden die Eltern versuchen, ihre Bindungsgefühle zurückzuhalten und sich nicht so sehr auf das werdende Baby einlassen, bis alle pränatalen diagnostischen Untersuchungen nach Möglichkeit eine gesunde Entwicklung des Fetus anzeigen. Wenn dies der Fall ist, wird die Bindungsentwicklung auch durch die Pränataldiagnostik, unter Umständen auch durch die Fotos vom wachsenden Fetus, enorm gestärkt. Es erfolgt dann eine intensive Phase des Sichvorbereitens auf die bevorstehende Geburt. Unmittelbar vor der Geburt entstehen erneut Ängste, ob sich denn das Baby gesund entwickelt, sich in die richtige Geburtslage dreht und bei der Geburt alles gutgehen wird. Die Eltern sind dann sehr entlastet, wenn die Geburt ohne größere Komplikationen erfolgt und sie ihr Baby endlich in den Armen halten dürfen.

Dieser Moment nach der Geburt und auch die nächsten Tage fördern – dadurch verstärkt, dass bei der Mutter während der Geburt und auch danach während des Stillens das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird, sowie auch durch das Halten und Tragen des Babys und den häufigen Körperkontakt – intensiv die emotionale Bindung der Eltern zu ihrem Kind (Uvnäs-Moberg 2011). Es ist dann typischerweise so, dass die Eltern, insbesondere die Mutter, das Kind immer in ihrer Nähe haben möchten; wird das Baby zur Untersuchung oder auch zum Schlafen ins Säuglingszimmer gebracht, damit die Mutter sich erholen kann, vermisst die Mutter ihr Kind, sehnt sich nach ihm, fragt sich, ob es ihm gutgeht. All dies sind bereits Zeichen dafür, dass sich eine positive emotionale sichere Bindung der Mutter zum Kind, also ein Bonding, entwickelt (M. Klaus 2007).