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Mauruschberg

Roman

 




 

von

Roland LaGrasse




Impressum

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

EPUB ISBN 978-3-95865-538-6

MOBI ISBN 978-3-95865-539-3

© 110th / Chichili Agency 2015

Urheberrechtshinweis:

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Für

 

Elke,

 

die Wunderbare

 

 

Teil 1 - 1830

I. Der Passierschein

Das Versprechen eines warmen Tages lag in der milden, weichen Luft, als Immanuel den steilen und zerklüfteten Weg ins Flusstal nahm. Der Himmel hatte sich in ein blasses, von weißen Schleierwolken durchzogenes Blau gekleidet.

Immanuel hielt die Zügel des Esels in der einen Hand, während er mit der anderen die Karre zog, die rumpelnd über die Steine ratterte. Er blinzelte gegen das gleißende Sonnenlicht. Heut war es ihm leicht gefallen, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, während das ganze Dorf noch schnarchte und ratzte, dass er es durch jeden Klumpen Lehm hören konnte.

Wie an jedem Morgen hatte er den Ofen angeheizt, den Teig angemischt, geknetet und zu Brotlaiben geformt. Nur das Backen hatte er dem Josef überlassen, seinem quirligen Gesellen, der den lieben langen Tag seine Lieder pfiff.

Während der tönerne Ruf eines Steinkäuzchens von den Hängen widerhallte, schweiften seine Gedanken zu Gerlinde ab, der hübschen Näherin aus dem Dorf. Im Geiste sah er sie vor sich, wie sie am Tisch ihrer Stube gesessen und verlegen am Saum ihres fliederfarbenen Kleides gezupft hatte. Zerbrechlich war sie, aber zugleich von anmutiger Eleganz, von einem unwiderstehlichen Liebreiz mit feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen.

Ohne es zu bemerken, hatte er im Laufe des herrlichen Mahls aus getrockneten Pflaumen, Hühnerfleisch und gerösteten Kartoffeln fortwährend auf ihre himmlisch zarten Hände mit den grazilen, feingliedrigen Fingern gestiert. Bis Gerlinde ihn mit einem Mal angeschaut und gesagt hatte: „So lang du auch zählst, Immanuel, mehr als fünf an jeder Hand kann ich dir nicht bieten.“

Dieser engelgleiche Blick, der ihren Worten folgte, hatte sein Herz im Sturm erobert. Ihre gütigen und sanften Augen, die so fröhlich glitzerten wie der große Weiher im Sommer, wenn die Sonne sich auf dem Wasser spiegelte. Er hatte sie einfach küssen müssen, so sehr war sein Herz vor Glückseligkeit übergeflossen. Nur eine winzige Berührung, ein Hauch auf ihren vollen, leicht nach außen gewölbten Mund. Noch jetzt, am Morgen danach, schmeckte er das himbeerrote Feuer ihrer weichen, warmen Lippen. Ein wohliger Schauer kroch durch seinen Körper.

Indem er die herrlichen Erinnerungen auskostete, sie Bild für Bild an sich vorbeiziehen ließ und im tänzelnden Schritt den Abstieg nahm, war er kurz unaufmerksam, geriet aus der Balance, fing sich aber gleich wieder. Alles war herrlich, alles erschien ihm so neu, so frisch, so leicht. Heut war ein Tag, die ganze Welt zu umarmen, die ganze große weite Welt.

Für einen kurzen Augenblick schien es ihm, als öffnete sich jeder Kelch der am Wegesrand blühenden Glockenblumen und entbot ihm, dem Bäcker aus Mauruschberg, einen freundlichen Gruß.

Was bist du nur für ein alberner Gockel, dachte er vergnügt. Aus seinem Proviantbeutel, den er mit einer Kordel am Gürtel befestigt hatte, schob er ein paar Kirschen zwischen die Zähne und spuckte die Kerne in weitem Bogen über die Wiese. Die Früchte schmeckten köstlich.

Das Tal weitete sich, und die Mühle nahm Gestalt an. In gleichmäßigen Drehungen tauchte das knorrige Holzrad in die Strömung des Flusses ein. Eiserne Schaufeln auf den Querstreben glitten in das Wasser und ließen es mit lautem Klatschen hinabfallen, wenn sie mit der Drehung aus dem Wasser emporgezogen wurden.

Knapp zehn Fuß vor der Mühle nahm der Fluss durch ein vorgelagertes Wehr Fahrt auf und sorgte die meiste Zeit des Jahres für genügend Antrieb, um das Rad in Schwung zu halten. Nun aber hatte die Trockenheit dem Fluss das Wasser genommen.

Immanuel hielt die Hand über die Augen und suchte die Wiese vergeblich nach der Stute des Müllers ab.

„He, Konstantin!“

Seine Worte verhallten ungehört. Sicher wird er den Gaul ins Geschirr genommen haben, ging es ihm durch den Kopf. Der Esel beschleunigte seinen Trab. Flacher führte der Weg nun hinab. Immanuel mühte sich, mit dem Lasttier Schritt zu halten.

Er band den Esel an einer Holzplanke fest und trat in das Innere der Mühle. Ohrenbetäubendes Knarren hölzerner Räder, die über Steinplatten gezogen wurden, schlug ihm entgegen. Das braun und weiß gescheckte Pferd, das heftig schnaubend im Kreis lief, hatte sichtlich Mühe, die Kornmühle in Bewegung zu halten. Es schwitzte am ganzen Körper und war von Unmengen Fliegen bevölkert, die es mit dem Schwanz wegzuschlagen suchte.

„Lang wird sie’s wohl nicht mehr machen.“ Ein schmächtiger, hoch aufgeschossener Rotschopf mit sommersprossigem Gesicht trat hinter der Kornmühle hervor. „Meister Konstantin glaubt, sie leidet an Arthritis, aber ich denke, es ist das Herz.“ Liebevoll strich der Junge über die struppige Mähne.

Dieser vorwitzige Naseweis, dachte Immanuel belustigt und schaute sich in der Mühle um. „Wo ist dein Meister?“

Der Junge ergriff die Zügel und ließ das Pferd anhalten. Das knarrende Geräusch ebbte ab. Übrig blieb nur das nach und nach schwächer werdende Atemholen der erhitzten Stute.

„Kurz vor Sonnenaufgang ist er zu Fuß nach Weidenbrunn aufgebrochen.“

„Die Stadt liegt gute zehn Meilen von hier entfernt.“ Immanuel musterte den Jungen skeptisch. „Bei dieser Hitze braucht dein Meister einen halben Tag für die Strecke. Hast du dich auch nicht getäuscht?“

„Getäuscht? Sicher nicht.“ Julian zog ein beleidigtes Gesicht. „Heut´ ist Pferdemarkt! Und die Mühle braucht ein frisches und starkes Arbeitstier. Die Greta“, er deutete mit dem Finger auf die schwitzende Stute, „ist einfach zu alt.“

Immanuel horchte auf. Aus der kleinen Kammer neben der Mühle war das Rascheln von Stroh zu hören. „Was war das?“

„Ach, das.“ Der Junge spielte das Geräusch mit einer wedelnden Handbewegung herunter. „Sind nur die Mäuse. In diesem Sommer ist es besonders arg. Gleich, wenn Ihr fort seid, werde ich Fallen aufstellen und das Stroh wechseln.“

„Schieb es nicht auf die lange Bank“, sagte Immanuel mit warnend erhobenem Zeigefinger. „Dein Meister hat es nicht gern, wenn das Mäusevieh in seiner Mühle Unterschlupf findet.“ Prüfend schaute er sich um. „Aber meine Ware hat er doch wohl nicht vergessen, oder?“

Wortlos verschwand Julian in einem kleinen Depot hinter der Mühle und holte der Reihe nach drei Säcke heraus. Einen nach dem anderen warf Immanuel über die Schulter und trug sie auf dem Rücken nach draußen. Zwei davon band er an den oberen Enden zusammen und befestigte sie zu beiden Seiten der Flanken am Packsattel des Esels. Den dritten legte er in die Handkarre.

„Bevor ich’s vergesse.“ Immanuels rechte Hand verschwand in einem Beutel, aus dem er ein graues Kuvert herauszog. „Sag der Post einen schönen Gruß. Der Herr Lehrer braucht ein paar neue Bücher für die Schule. Richte ihm aus, dass es dringend ist.“

Julian nickte schwach und legte das Papier in einen kleinen Korb aus geflochtener Weide.

„Und gib dem Esel Futter und Wasser.“ Immanuel warf dem Jungen eine Münze zu. „Ich geh derweil auf ein Bier zum Maximilian.“

Geschickt fing Julian die Münze auf. Im Schein der Sonne leuchteten seine Sommersprossen, als er die Mundwinkel zu einem breiten, zufriedenen Grinsen verzog.

 

Kaum war Immanuels baumlange Gestalt im Haus des Färbers Maximilian verschwunden, öffnete Julian eine Tür, die von der Mühle seitlich zur Schlafkammer des Müllers führte. „Komm heraus, Katharina.“

Zögerlich, den Blick nach allen Seiten gerichtet, trat ein Mädchen in die Mühle, die blasse Haut notdürftig mit einem wollenen Unterkleid bedeckt. Über ihrem linken Arm lag ein weißes Leinenkleid. Strohhalme hingen vereinzelt in den schwarzen Haaren, die dicht und seidig auf die Schulterblätter fielen. Katharina fuhr mit den Händen hindurch und verteilte die Halme auf dem Boden.

Erwartungsvoll richtete Julian seinen Blick auf sie. „Er ist fort.“ Zärtlich streichelte er ihr über den Kopf, doch sie stieß ihn brüsk von sich.

„Gleich wird der Immanuel vom Maximilian zurückkommen!“, zischte Katharina wütend und ließ das Leinenkleid über den Kopf gleiten. „Glaubst du, er hat dir die Geschichte mit den Mäusen abgenommen?“ Sie griff nach einem Korb aus geflochtenem Bast.

„Du willst schon fort?“

„Der Vater wird misstrauisch, wenn ich zu lang aus dem Haus bin.“ Nachdrücklich schaute sie ihm in die Augen. „Du hättest mir sagen müssen, dass der Immanuel heut´ kommt.“

Betreten blickte Julian zu Boden. „Sehen wir uns bald wieder?“

„Weiß nicht“, erwiderte sie spitz. „Wenn der Vater es nicht merkt. Vielleicht.“ Hastig zog sie die abgewetzten Stiefel aus dickem Leder an und drückte dem Rotschopf einen flüchtigen Kuss auf die rechte Wange. Mit kurzen, schnellen Schritten eilte sie dem Berg entgegen.

 

In bester Laune kehrte Immanuel zur Mühle zurück. Mit seinem alten Schulfreund, dem Färber Maximilian, plauderte er gerne. Und an diesem herrlich warmen Tag war es eine besondere Freude, einen ausgedehnten Schwatz bei einem frischen Krug Bier zu halten.

Der Esel wartete geduldig im Schatten der Mühle. Immanuel legte den Beutel mit gefärbten Stoffen, Wollen und Garnen in die Karre. Wir werden langsam gehen müssen, dachte er. Die Sonne stand hoch und gelb am wolkenlosen Himmel.

 

Meister Konstantin wählte den Weg entlang des Waldrandes. Die Morgenluft war angenehm frisch und kühl. Er freute sich auf den Besuch der Stadt im Schutz der Berge. Über Weidenbrunn waren eine Menge Geschichten im Umlauf, die weit in das Mauruschberger Land vorgedrungen waren. Die gespannte Erwartung beschleunigte seinen Gang.

Allmählich öffnete sich der dichte Wald dem Licht und ließ helle Streifen durch die mächtigen Baumkronen ein. Breiter und offener wurden die Schneisen, bis ihn sein Weg ausnahmslos durch waldlose Wiesen und Getreidefelder führte. Die Sonne kletterte am Himmel empor und brannte, seine Füße schmerzten in den ausgetretenen, harten Schuhen. Unter dem ledernen Wams, das er seit Jahren nicht mehr getragen hatte, spannte der Bauch.

In der Ferne tauchten die Umrisse einer Ochsenkarre auf. Ein kahlköpfiger Mann mühte sich vergeblich, das kleine Fuhrwerk aus einer Mulde flottzumachen.

„Kann ich Euch helfen, guter Mann?“

Mürrisch nickte der Kahlkopf. Sie stemmten die Schultern unter das Fuhrwerk und drückten es mit vereinten Kräften aus der Kuhle. Unter Ächzen und Stöhnen schoben sie das Gespann auf den Feldweg zurück. Wortlos nahm der Kahlkopf Holzlatte, Hammer und Eisennägel von der Pritsche und kroch unter das Fuhrwerk. Nahe dem rechten Hinterrad, unterhalb der Achse, brachte er das Holz zur Verstärkung an. Mit Schmutz überzogen kam er wieder unter dem Fuhrwerk hervor, legte das Werkzeug an seinen Platz und wuchtete seinen massigen Körper auf den Bock.

„Nach Weidenbrunn?“, fragte er knapp.

Konstantin nickte dem Bauern zu, der ihn mit silbrigem Blick musterte.

„Steig schon auf.“

Eine mächtige Hand signalisierte ihm, auf die hintere Lade aufzuspringen. Mit einem Schnalzen ließ der Bauer die Peitsche durch die Luft fliegen. Schleppend setzte sich die Ochsenkarre in Bewegung und rumpelte über die Feldwege. So seltsam und wesensfremd ihm der Bauer erschien, so erleichtert war Konstantin, den restlichen Weg nach Weidenbrunn nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen.

In aller Frühe war er aufgebrochen. Gleich, nachdem er das Korn für Immanuel, den Bäcker aus Mauruschberg, gemahlen hatte. Für den Tag konnte er die Mühle getrost dem Julian überlassen. Ein guter Junge, der Sohn des Schreiners. Und fleißig war er für zwei. Auf ihn konnte er sich verlassen.

So gut es ging, richtete sich Konstantin auf der harten Pritsche ein. Es wurde eine schweigsame Fahrt. Nur hin und wieder durchbrachen ein paar über das Land verstreute, unverständliche Wortfetzen des Kahlköpfigen die Monotonie. Den Blick auf die im leichten Wind schaukelnden Ähren gerichtet, schlief Konstantin ein.

 

Eine massige Bauernhand boxte ihm in die Seite.

„He, du da!“

Schlaftrunken blickte Konstantin in ein rosigfleischiges Gesicht mit kahlem Schädel und farblosen Augen.

„Steig ab! Wir sind da!“

Der muffige Geruch eines Menschen, der seit Tagen nicht mehr im Wasser gelegen hatte, schlug ihm entgegen. Umständlich rappelte sich Konstantin auf, griff in seine Tasche und holte eine Kupfermünze hervor.

„Dank Euch für die Fahrt“, rief er im Absteigen und warf dem Bauern die Münze zu.

Der Kahlkopf fing das Geldstück mit einem Strohhut auf und brummelte missmutig ein paar unausgegorene Brocken vor sich hin, bevor er sich zurückzog. Konstantin steuerte derweil auf die Pferdestation zu. Im Schatten eines quadratischen Zeltdachs wartete eine Handvoll brauner Rappen auf Kundschaft. An der Tränke wusch er sich Arme und Gesicht und schlug, erfrischt und voller Tatendrang, den Weg nach Weidenbrunn ein.

Seit einer Weile schon flirrte die Luft im Land vor Gerüchten. Vom neuen Glanz der Stadt war die Rede. Vom lebhaften Treiben in den Gassen, vom überbordenden Angebot der Märkte hatten reisende Händler bei einer kurzen Rast an der Mühle geschwärmt. Von den Mädchen, die in den Gasthöfen nach Freiern Ausschau hielten und für ein paar Münzen verlockende Lustbarkeiten versprachen.

Konstantin drosselte seine Schritte. Der Anblick raubte ihm den Atem. Zehn Jahre mochten es wohl her sein, dass er Weidenbrunn nicht mehr besucht hatte. Zuletzt an jenem Tag, an dem er seine Greta für die Mühle gekauft hatte.

Alle Erzählungen, alle Berichte, die ihm zu Ohren gekommen waren, wurden übertroffen von dem mächtigen Bild vor seinem Auge. An Stelle der beschaulichen Siedlung, die er aus früherer Zeit kannte, erhoben sich die Giebel und Türme einer Stadt, umgeben von einer übermannshohen Mauer aus Lehm und grob behauenen Steinen. Ein breites Tor bildete den einzigen Durchgang von Süden her, flankiert von der Stadtwache, die rechts und links des Tores je zwei Mann postiert hatte.

Konstantin fiel eine Ansammlung von Menschen auf, die sich neben dem Portal niedergelassen und Säcke und Beutel auf dem Boden verteilt hatte. Keiner von ihnen machte Anstalten, die Stadt zu betreten. Er spürte die prüfenden Blicke eines Wachpostens, der ihn ins Visier genommen hatte. Als er das Stadttor passieren wollte, baute sich der grünweiße Waffenrock vor ihm auf.

„Halt! Wer seid Ihr? Händler oder Kaufmann?“

„Nichts dergleichen. Ich bin ein Müller, der auf dem Markt ein Pferd kaufen möchte.“

„So wirst du dich gedulden müssen, Müller. Wir haben Order, ausschließlich Bürger von Weidenbrunn und die Marktleut´ einzulassen. Die Stadt ist verstopft vom Strom der Menschen, die seit dem Morgen auf den Markt drängen.“

„Was fällt Euch ein? Ist der Pferdemarkt nicht für jedermann zugänglich, der kaufen und verkaufen möchte?“ Verärgert breitete Konstantin die Arme aus. Er schob seinen Bauch dem Wachmann entgegen, der jedoch abweisend zur Seite blickte, die Lanze senkrecht vor dem kräftigen Körper.

„Zur Mittagsstunde wird die Stadt wieder zugänglich gemacht. Solange werdet Ihr wohl oder übel warten müssen“, verkündete er mit wichtiger Miene.

„So lasst mich doch durch.“ Ein Flehen mischte sich in den Blick des Müllers. „Ich hab den weiten Weg von Mauruschberg gemacht und muss heuer wieder zurück. Nur der Markt und schon bin ich wieder fort.“

Ein zweiter, breitschultriger Wachmann mit finsterer Miene trat hinzu.

„Was willst du noch, Mann? Hast du nicht gehört? Scher dich weg, bis wir das Tor für den Pöbel freigeben!“, herrschte er ihn mit dröhnender Bassstimme an.

„Ich muss in die Stadt! So habt doch ein Herz.“ Schiere Verzweiflung spiegelte sich im Gesicht des Müllers wider. „Ohne ein neues Pferd bin ich verloren!“

Verschwörerisch beugte sich der finstere Wachposten zu ihm herab.

„Eine Möglichkeit gäbe es noch“, flüsterte er grinsend.

„Dann sagt mir, welche!“

„Lass uns ein paar Schritte gehen, Müller.“

Der Posten führte Konstantin ein Stückweit die Stadtmauer entlang, außer Hörweite der Wachen.

„Kein Sterbenswörtchen, hast du gehört?“ Unter buschigen Brauen blickten ihn tiefschwarze Augen bedrohlich an. „Zu niemandem!“

„Ihr habt mein Wort“, sagte der Müller, sichtlich eingeschüchtert von Uniform und Drohgebärde.

„Geh zum Osttor“, flüsterte der Torwächter. „Dort frag nach Florian. Du wirst ihn gleich erkennen. Ein Bursche mit einem Gesicht, dass einem das Essen wieder zum Halse herauskommt.“ Sein Gesicht krampfte sich zu einer abstoßenden Grimasse zusammen. „Ist im Feuer eingeschlafen“, fügte er mit wissendem Blick hinzu. „Wirst schon sehen. Der Florian wird dir einen Passierschein geben.“

„Ist das alles?“ Konstantin sah ihn überrascht an.

„Nun“, grinste der Wachmann breit und schwarz, „eine Kleinigkeit wird es dich schon noch kosten.“

„Was nennt Ihr eine Kleinigkeit?“

„Einen viertel Gulden sollte es dir wohl wert sein.“

„Das nennt Ihr eine Kleinigkeit?“, rief Konstantin empört.

Der Posten legte einen Finger auf den Mund.

„Bist du von Sinnen, Mann? Willst du, dass ich dich ins Loch werfen lasse?“

Wie im Fieber rasten die Gedanken in Konstantins Kopf hin und her. Eine Entscheidung musste getroffen werden. Er blickte auf die Menschenmenge, die auf Einlass wartete. Dachte an den weiten Weg, den er zurückgelegt hatte, an die Mühle. Er brauchte das Pferd! Die Anschaffung eines neuen Gauls konnte er ums Verrecken nicht hinausschieben!

„Einen viertel Gulden?“ Die Augen des Müllers weiteten sich erneut vor Bestürzung und Unentschlossenheit. „Für einen Passierschein? Ist das Euer letztes Wort?“

Aus dem Mund des Wachmanns drang bösartiges Gelächter. Mit ausgestrecktem Arm schob er Konstantin beiseite.

„Wenn du nicht willst, so lass es doch.“

Er tat unbeteiligt, doch aus den Augenwinkeln beobachtete er den Müller, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte.

„Könnt Ihr mir nicht einen Passierschein ausstellen?“

„Was fragst du so viel? Bring mir den Schein, und ich lasse dich passieren.“ Er schob sein Gesicht dicht an das des Müllers heran. Sein fauliger Atem spie einen üblen Geruch von Eiter aus.

„Nur mir, hast du gehört? Du findest mich in der Schilderwache. Siehst du?“ Er wies auf ein schmales, spitz zulaufendes Häuschen in grünweißem Anstrich unweit der Stadtmauer.

„Zu niemand ein Wort! Ansonsten werde ich den Wachen glaubhaft versichern, du hättest mich unflätig beleidigt.“ Sein breites Grinsen bekam eine gehässige Note. „Für diesen Fall würde ich dich sogar ohne Passierschein in die Stadt hineinlassen. Aber leider“ – er drückte seine linke Pranke gegen die Steine der Mauer – „auch nicht so schnell wieder heraus.“

Krachend schlug er Konstantin auf die Schulter und trottete davon.

 

Am Osttor, das den Bergen zugewandt war, hielten sich nur wenige Menschen auf. An Markttagen blieb es geschlossen, wie Konstantin erfuhr. Rasch fand er den gesuchten Florian, dessen Gesicht unter einer wulstigen Decke von narbigen Auswüchsen verborgen war.

Wortlos zog ihn der arme Kerl hinter einen kleinen Mauervorsprung und zückte aus einem Lederbeutel, der um seinen Hals baumelte, ein Stück Papier. Große, gleichmäßig geschwungene Letter formten das Wort ‚Passierschein’, weiter unterhalb stand das Datum des Markttages, daneben prangte der Abdruck des städtischen Wachssiegels.

Konstantin zählte, nachdem er das Dokument in Augenschein genommen und für gut befunden hatte, dem Narbengesicht die Münzen in die Hand. Im Laufschritt kehrte er zum Südtor zurück. Eilends suchte er das Schilderhäuschen auf, holte verstohlen das Papier aus seinem Wams und zeigte es dem Torwächter. Der Posten griff danach, doch blitzartig zog der Müller seine Hand fort.

„Der Schein dient mir als Pfand, guter Mann“, sagte Konstantin, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. „Wer kann mir versichern, dass Ihr mir nicht Eure Männer auf den Hals hetzt und mich in ein Verlies werfen lasst?“ Er steckte das Papier in sein Wams zurück. „Mit dem Besitz des Dokuments ist mir ein wenig wohler.“

Voller Unruhe blickte der Wachmann an Konstantin vorbei.

„Gib mir das Papier!“, zischte er. Sein Gesicht brannte vor Wut.

„Was würdet Ihr davon halten, wenn ich diesen Schein, mit einem schönen Gruß von Euch, schnurstracks der Polizei übergäbe?“ Konstantin schaute dem Torwächter geradewegs in die Augen. „Wie war doch gleich Euer Name?“

„Du schweigst wie ein Grab, Müller! Hast du verstanden?“ Der Posten legte die Hand auf ein blitzendes Messer an seinem Waffenrock. Seine Augen traten bedrohlich aus den Höhlen hervor. „Wenn nicht, wirst du es bitter bereuen. Glaub mir!“

Ohne den Drohungen des Wachmanns weiter Beachtung zu schenken, wandte sich der Müller ab. Leise fluchend passierte er das Tor. Den Passierschein hatte er gerettet. Ob es für ein gutes Pferd reichen würde, stand in den Sternen.

 

Fremdartig und faszinierend zugleich wirkte das neue Bild der Stadt auf Konstantin. Fort waren die geduckten, schmalen Fachwerkhäuser mit den schweren, groben Balkengerüsten und den spitz zulaufenden Dächern. Ihre Stelle hatten Häuser mit schmalen, elegant glattgeschliffenen Balken und breiteren Fronten eingenommen, deren Giebel sich treppenartig in den Himmel schoben. Die hohen Fenster sorgten für hellere Räume als in den kleinen Fachwerkhäusern, deren Schrägbalken keine großen Luken zuließen. An den Fassaden klebten Erker oder Türme, die den Häusern eine verspielte Leichtigkeit gaben. Anstelle des Lehms füllten rote, ungleichmäßig geformte Ziegelsteine die Zwischenräume.

Hingerissen bestaunte Konstantin die im Schein der gleißenden Sonne rot und gelb funkelnden Häuserfronten. Ganz in die ihm so unbekannte und neue Welt versunken, blieb er auf der Gasse stehen.

Doch die unaufhaltsam aus allen Richtungen zum Pferdemarkt drängende Menschenmenge schob ihn unsanft voran. Fliegende Händler, die ihre Ware auf hölzernen Ständen am Rand der Gasse ausgebreitet hatten, säumten den Weg zum Marktplatz. Mit beinah kindlicher Neugier betrachtete der Müller die unfassbare Vielfalt an Brot, Fleisch, Käse und Butter in vielfältigsten Formen und Sorten. Exotische Kräuter und fremdländische Leckereien wie Datteln und Feigen boten die Händler ebenso feil wie parfümierte Seifen und feine Tuche. Fässer voll Wein und Bier verlockten zu einer kurzen Erfrischung. In kleinen, viel zu engen Käfigen saßen dichtgedrängt Enten, Hühner oder Gänse, um als Festbraten in den Küchen der Schaulustigen zu landen. Tisch an Tisch reihte sich die Palette des weitgestreuten Angebots.

Konstantin näherte sich einem der Stände.

„Kann ich Euch helfen, Herr?“ Vor ihm stand ein schnauzbärtiger Mann mit weißer Schürze. Auf dem ovalen Kopf saß eine hohe, turmartige Bäckermütze.

„Eure Auswahl ist großartig“, brachte Konstantin ein wenig stockend und hilflos hervor. „Eine solche Vielfalt an Brot ist mir noch nie unter die Augen gekommen.“

„Es ist aus dem gemacht, was mir zur Verfügung steht.“ Der Bäcker zeigte mit ausladender Armbewegung auf den Tisch. „Hier findet Ihr die Roggenbrote.“ Er deutete auf die dunklen Laibe. „Dort Brote aus Weizenmehl.“ Der Zeigefinger der rechten Hand ging weiter. „Dies hier sind Mischbrote. Aus Weizen und Roggen. Daneben kleinere Brote aus Mais, Grünkern oder Dinkel. Ganz außen süße Stuten mit Mandeln oder Mohn.“

Die Verblüffung stand Konstantin ins Gesicht geschrieben. Mit offenem Mund starrte er dem Bäcker, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, ins Gesicht.

„Ihr seid nicht von hier, hab ich Recht?“

„Ist wohl kaum zu übersehen“, antwortete Konstantin mit Blick auf die Menschenmenge, die sich um die Stände drängelte. „Ich bin Müller. Vom Fuße des Mauruschbergs.“

„Einer der Müller vom Fluss?“

Konstantin nickte beiläufig.

„Aber sagt, guter Mann, für eine so reichhaltige Auswahl braucht es sehr viel Korn. Und eine Mühle, die diese Sorten in ausreichender Zahl liefern kann. Dazu seid Ihr nicht der einzige in der Gasse. Drei an der Zahl habe ich bereits ausgemacht. Wer liefert Euch solche Mengen?“

Vielsagend lächelte der Bäcker in sich hinein. Sein kleiner, silbriger Oberlippenbart glänzte im Schein der Sonne wie eine unendliche Zahl winziger Tautropfen.

„Ihr wollt es wirklich wissen?“

„Wenn es keine Sache von großer Geheimhaltung ist.“ Die Röte gesteigerter Ungeduld legte sich über Konstantins Gesicht. „Sprecht!“

„Nichts, was Euch nicht jeder Bürger von Weidenbrunn berichten könnte.“ Der Bäcker verschränkte die Arme vor der Brust, um die Bedeutung seiner Worte zu untermauern. „Diese Stadt besitzt eine eigene Mühle.“

Mit einem festen Blick, aus dem die privilegierte Teilhabe an moderner, epochaler Neuerung sprach, blickte er Konstantin stolz in die Augen. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie der Müller versuchte, ein Prusten zu unterdrücken, um dann, mit einer befreienden Salve, umso ungestümer in unbändiges Lachen auszubrechen.

„Verzeiht“, brachte dieser unter dem Gelächter hervor, „aber Ihr seid ein rechter Possenreißer. Eine Mühle!? Hier in Weidenbrunn?“ Konstantin hielt die Hand vor den Mund, um den Bäcker mit seinem herausfordernden Lachen nicht zu demütigen.

„Wahrhaftig, es wäre Euch fast gelungen, mich auf den Arm zu nehmen“, fügte er schnaufend hinzu und hielt die Hände vor seinen Bauch.

„Was findet Ihr daran komisch, Müller?“ Die schneidende Stimme des Bäckers, der aus seinem Groll keinen Hehl machte, erstickte augenblicklich Konstantins Gelächter.

„Was daran komisch ist? Das will ich Euch sagen. Eine Mühle braucht Wasser. Oder Wind! Ihr habt weder das Eine“ – Konstantin winkelte den linken Arm vor seinem Körper an, um ihn dann nach vorne fallen zu lassen – „noch das Andere!“ Er tat das gleiche mit dem rechten Arm. „Der Fluss liegt viel zu weit entfernt. Und einen Kanal, der in Eure Stadt führt, gibt es nicht. Woher wollt Ihr also fließendes Wasser nehmen? Das flache Tal schützen die Berge. An einem starken Wind, den es für den Antrieb der Flügel braucht, mangelt es daher ebenso! Auf welche Weise wollt Ihr eine Mühle betreiben, die solche Mengen an Korn mahlen kann?“

Nun war es an Konstantin, mit verschränkten Armen dazustehen und sich wichtig zu machen. Der Bäcker nahm die Belehrung des Müllers mit Gelassenheit auf.

„Das will ich Euch gerne erklären“ erwiderte dieser verbindlich. „Uns ist es gleich, auf welchem Pegel das Wasser steht. Ob der Wind als Sturm heranbraust oder als laues Lüftchen daherkommt. Wir benötigen weder Flügel noch Mühlrad.“

Aus Konstantins Gesicht verschwand das übermütige Funkeln der Augen.

„Die Mühle“, sagte der Bäcker mit gedehnten Worten und hob den Kopf ein wenig in die Luft, als wollte er eine wichtige Rede halten, „wird von einer Maschine angetrieben. Einer Dampfmaschine!“

„Eine Dampf…ma...schine?“ In Konstantins Gesicht machte sich Ratlosigkeit breit. Hin und wieder hatte er davon läuten gehört, ohne jedoch den unglaubwürdigen, fantastischen Schilderungen Glauben geschenkt zu haben. „Was um Himmels Willen soll das sein?“

„So nennt man eine mit Dampf angetriebene Konstruktion aus Eisen“, entgegnete der Bäcker beschwingt, mit der Wirkung seiner Worte rundum zufrieden. „Unsere Mühle arbeitet, so lange die Maschine den Dampf liefert. Bei jedem Wetter, das der Herrgott uns schickt. Ohne Unterlass. Auf diese Weise können wir die Mengen an Korn und Mehl bedienen, die in der Stadt benötigt werden.“

Mit beiden Armen zeigte der Bäcker auf die Passanten, die in großer Hast über das Pflaster huschten. „Jeden Tag werden es mehr. Und alle wollen arbeiten und essen. So müssen wir dafür sorgen, dass jeder sein Teil bekommt.“

Dem Müller wurde der Hals trocken.

„Habt Ihr wirklich noch nie etwas davon gehört?“

Konstantin schüttelte den Kopf.

„So schaut Euch die Mühle doch einmal an.“ Der Bäcker steckte zwei Finger seiner mehlstaubbedeckten linken Hand zwischen die Zähne und stieß einen grellen Pfiff aus. “Mein Lehrbub, der Bastian, wird Euch gern den Weg weisen.“

Ein Junge von zwölf Jahren schlurfte aus der Backstube, Haare und Gesicht übersät mit Mehlstaub. Eine viel zu große, weiße Schürze hing bis zu den Schuhen herab.

„Basti, zeig dem Herrn den Weg zur Mühle. Aber gib gut auf ihn Acht.“ Der Bäcker zwinkerte dem Müller freundlich zu. „Der Herr ist gerade aus allen Wolken gefallen.“

Mit Unverständnis sah der Junge zu seinem Lehrherrn hoch, der ihn lachend auf die Gasse schob. „Nun geh schon! Aber komm zeitig zurück! Die Backstube muss noch gefegt werden.“

Der Lehrjunge nahm den Müller bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Ein letztes Mal schaute sich Konstantin um und nickte dem Bäcker abwesend zu. Er konnte einfach nicht glauben, was er soeben gehört hatte.

 

„Ruhe bitte! So haltet doch Ruhe!“

Im Ratsherrensaal des Weidenbrunner Magistrats herrschte helle Aufregung. Die Amtsträger waren von ihren Stühlen aufgesprungen und lieferten sich hitzige Wortgefechte. Der Saal kochte!

„Meine Herrn!“

Am Kopfende eines langgezogenen, rechteckigen Tisches aus dunklem Nussholz saß der leitende Magistratsrat Sartorius, ein graumelierter Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen Gesicht durch einen wuchtigen Bart verdeckt wurde. Energisch läutete er die kleine silberne Glocke, die zu seiner Linken stand.

„Meine Herrn, ich muss mich doch sehr wundern! Contenance, meine Herrn. Contenance. Bitte wieder Platz zu nehmen!“

Erneut hallte der durchsichtige Klang der Glocke durch den Raum. Die erregten Gemüter beruhigten sich zusehends. Die hochroten Köpfe kehrten zu gewohnter Blässe zurück.

„Fahren wir also fort“, rief Meister Sartorius mit fester, energischer Stimme und kratzte mit der linken Hand an der dichten Haarpracht seines Kinns. „Die Depesche des Landgrafen lässt keine Zweifel aufkommen. Vom nächsten Jahr an werden Abgaben und Steuern nach der Anzahl der Bürger erhoben, die in unseren Mauern leben.“

„Das ist gegen Sitte und Anstand“, rief einer der Magistratsräte aufgebracht. Sartorius ließ sich in seiner Rede nicht beirren. Er nahm sein Monokel vom blankpolierten Holz, setzte es zwischen die rechte Augenbraue und den darunter liegenden Wangenknochen, neigte ein wenig den Kopf und wandte sich dem Papier zu, das er in beide Hände nahm.

„Weiter heißt es in der Depesche, der Stadt Weidenbrunn wird auferlegt, in jedem zweiten Jahr die Zahl der Bewohner von Amts wegen neu festzustellen. In seiner Begründung führt der Landgraf aus, dass die Landbevölkerung vermehrt in die Städte strebe, um dem wachsenden Bedürfnis nach Arbeitskräften in Fabriken und Manufakturen gerecht zu werden. Diese Entwicklung begrüßt der Landgraf ausdrücklich, im Besonderen den Einsatz von Maschinen in Fabriken und städtischen Einrichtungen. Seiner Überzeugung nach, so heißt es wörtlich, werden die Erträge unserer Stadt mit dem Fortschreiten der industriellen Entfaltung in außerordentlichem Umfang anwachsen. Hierdurch seien die steigenden Abgaben an Seine Exzellenz hinreichend ausgeglichen. Unserem Volk wird er zu großem Wohlstand verhelfen, der neue Segen des Fortschritts! - So der Wortlaut der Depesche.“ Sartorius reichte das Stück Papier an den Magistratsrat zu seiner Linken weiter. „Lest selbst!“

„Was hat der Landgraf mit den Städten zu schaffen?“, rief ein Spitzbart aufgeregt. „Den Geldsegen reklamiert der hohe Herr doch nur für seine kostspieligen Empfänge und Liebhabereien.“

„Meine Herren Räte, wir sollten uns vor unbedachten Äußerungen hüten. Die Ansichten des Landgrafen sind nicht von der Hand zu weisen.“ Alle Augen richteten sich auf einen Mann, etwa Mitte dreißig, mit einem frischen, offenen Gesicht und braunen Augen.

„Dem Landgrafen laufen die Bauern, Müller und sonstigen armen Teufel weg. Vornehmlich die jungen. Seit Hunderten von Jahren waren die Bauern eine solide und verlässliche Einnahmequelle für den landgräflichen Säckel. Sie lieferten, was die Familie Seiner Exzellenz zum Leben brauchte. Und noch ein bisschen mehr, wie wir alle wissen.“

Die Räte lachten. Jeder im Saal wusste, dass Landgraf Karl-August den Freuden des Lebens überschwänglich zuneigte. Allen Freuden des Lebens!

„In diesen Zeiten, in denen allerorten Fabriken wie Pilze aus dem Boden schießen, verlassen viele Bauern ihre Höfe“, fuhr der Mann fort. „Und wenn nicht die Bauern selbst, dann deren Söhne. Sie suchen Arbeit in den Manufakturen, Fabriken, Ziegeleien und was weiß ich noch alles. Folglich verfallen viele Höfe, die Abgaben sinken und dem guten Landgraf gehen die Freuden des Lebens flöten.“ Die Hand des Redners hob sich und schwenkte in Schlangenlinien durch die Luft, als wolle er etwas auffangen, was ihm abhanden gekommen war. Schallendes Gelächter durchdrang den Saal.

„Das aber ist nur die eine Hälfte der Wahrheit.“ Er hob den rechten Arm, bis Stille im Saal einkehrte. „Landgraf Karl-August ist nicht nur ein Mann sinnlicher, ausschweifender Genüsse. Er war und ist auch ein guter, vor allem gerechter Landesherr. Die Bauern hat er in allzu schlechten Zeiten von Abgaben freigestellt. Die Armen und Gebrechlichen geschützt, wo und wie es ihm möglich war.“ Für einen Moment ließ er die Worte im Raum stehen. „Allein… die Untertanen, die das Gesetz vor vielen Jahren zu freien Bürgen erklärt hat, machen sich vom Acker und drängen in die Städte. Die Maschinen in den Fabriken aber laufen tags wie nachts, wenn es sein muss. Wer profitiert nun von der neuen Freiheit? Die neue Klasse der Arbeiter? Mitnichten! Die armen Kerle kommen vom Regen in die Traufe. Statt an der Luft und im Stall schuften sie nun an den Maschinen, bis sie vor Erschöpfung umfallen. Der Landgraf? Wohl kaum. Seine Erlöse sinken, wenn die Bauern geringere Ernten einfahren und weniger zum landgräflichen Etat beitragen. Wer also dann?“

Fragend blickte er in die Gesichter der Räte, die seiner Rede mit aufmerksamer Skepsis folgten.

„Ich will es Euch sagen! Es sind die Kaufleute und Fabrikbesitzer, die gutes Geld verdienen und dessen ungeachtet viele Gulden in den eigenen Säckel wandern lassen. Deren Abgaben werden von der Stadt erhoben. Wo in den alten Zeiten Größe und Ausdehnung des Landbesitzes Richtschnur waren, haben die Städte Steuern auf Herstellung, Kauf und Verkauf von Waren eingesetzt. Erlös der Fabrikanten und Überschüsse der Städte stiegen mit jedem Jahr. Wovon die Exzellenz nichts merkt, denn alle Städte zahlen nach der alten Ordnung. So ist es nur gerecht, wenn der Landgraf eine neue schafft. Wie sonst soll er unsere Armee bezahlen, die gegen den Franzos’ schon so wacker gekämpft hat? Wo anders soll er die Unkosten für Schulen und Universitäten auftreiben?“

Sein Blick wanderte erneut in die Runde der Amtsträger.

„Seien wir aufrichtig. Hat es Weidenbrunn nicht zu Wohlstand, ja sogar bescheidenem Reichtum gebracht? Sind wir nicht gut dabei gefahren, dass sich viele Fabrikanten und Arbeiter im geschützten Tal niedergelassen haben? Das Loch, das die neue Abgabenordnung in den Stadtsäckel reißt, wird uns nicht gleich an den Bettelstab bringen. Die Bürger können auch in fernen Zeiten gut und sorgenfrei in unseren Mauern leben und kommen dabei doch auf ihre Kosten.“ Mit einem selbstbewussten Lächeln blickte er Meister Sartorius an und nahm auf seinem Lehnhocker Platz. Für einen Moment war es still im Magistratssaal.

„Ihr habt wohl gesprochen, Meister Reinhold!“

Das Lob verband Sartorius mit einem auffallend feindseligen Blick. Ein hagerer Mann mit knochigem Gesicht erhob sich.

„Wohl wahr. Aus Weidenbrunn ist eine wohlhabende und schöne Stadt geworden.“ Knarzend bahnte sich die Stimme ihren Weg. „Fabrikanten und Arbeiter sind diesem Fleckchen Erde wohl gesonnen. Aber, mit Verlaub, ist es nur Glück oder dem Willen unseres Herrn Jesus Christus zuzuschreiben, dass unser Städtchen es so gut getroffen hat?“

Er ballte die rechte Hand zu einer knochigen Faust.

„Ganz sicher nicht, meine Herren Räte! Haben wir nicht besten Granit anfahren lassen, um die Wege zu pflastern? Wurden nicht Gaslaternen an den breiten Gassen und dem Marktplatz aufgestellt, um unsere Bürger in den Nächten vor räuberischem Pack zu schützen?“

Die Finger seiner rechten Hand pressten sich noch tiefer in das rosafarbene Fleisch.

„Haben wir nicht Schild- und Torwache verdoppelt? Bauten wir nicht eigene Schulen für unsere Töchter und Söhne? Den Fabrikanten erlassen wir für ein Jahr die Abgaben, wenn sie redliche Menschen unserer Stadt in ihren Dienst nehmen. All das kostet uns nicht wenig. Und die Stadt wächst! So schnell, dass wir mit dem Planen, Bauen und Pflastern kaum nachkommen.“

Einige Magistratsräte nickten zustimmend.

„Ihr habt uns wissen lassen, dass dem Landgraf die Bauern weglaufen, Meister Reinhold. Eins sag ich Euch: Böte sich mir als Bauer die Gelegenheit, so würde auch ich Reißaus nehmen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang plackern sie sich ab. Und wozu das Ganze? Ein heißer Sommer, ein beinharter, frostiger Winter, und die Früchte der Arbeit sind durch Mutter Natur, die weder Gnade noch Barmherzigkeit kennt, vernichtet! Kommt es ganz hart, sterben sogar die Tiere hungers. Dann müssen die Bauern und ihre Knechte sich selbst vor den Pflug spannen, um wenigstens Frau und Kind und den Hof am Leben zu erhalten. Wenn dann die karge Ernte am Ende eingefahren ist, kommt der feiste Landgraf und will obendrein seinen Teil.“

Gemurmel und Getuschel erhob sich. Die Darstellung der landgräflichen Unersättlichkeit fand ein geteiltes Echo.

„In unseren Mauern ergeht es ihnen besser“, fuhr der Knochige resolut fort. „Ein trockenes Dach über dem Kopf und eine Arbeit, die sie zu jeder Jahreszeit ernährt. Schließlich werden sich ja nicht gleich alle Bauern auf den Weg nach Weidenbrunn machen.“

Das Gemurmel schwoll zu einem befreienden Gelächter an.

„Und Landgraf Karl-August?“, fragte der Knochige mit eisernem Blick in die Runde. „Lässt er sich nicht das Land, das wir für die neuen Fabriken und Häuser benötigen, teuer bezahlen? Sind wir nicht bereits die neuen Bauern, die zum Melken geführt werden?“ Er wandte sich seinem Vorredner zu. „Glaubt mir, Meister Reinhold, seine Kühe findet der Landgraf überall!“ Mit säuerlichem Gesicht nahm er wieder Platz. Einige Magistratsräte pochten leise mit der Faust auf den Tisch. Als Zeichen der Zustimmung.

„Dank Euch, Magister Konrad.“ Sartorius wollte gerade mit der Sitzung fortfahren, als sich ein kleiner, rundlicher Mann mit einem massigen Schädel und einer deutlich sichtbaren Narbe quer über der rechten Wange zu Wort meldete.