Die Klinik am See – 36 – Der Kummer eines jungen Mädchens

Die Klinik am See
– 36–

Der Kummer eines jungen Mädchens

Lass dir helfen, Gabriele!

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-487-3

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Das Reisebüro in der Hauptstraße in Tegernsee konnte sich über mangelnden Besuch von ratsuchenden Reiselustigen nicht beklagen. Die vier Angestellten – drei junge Frauen und ein Mann, hatten alle Hände voll zu tun, um allen Wünschen derer, die es in den Süden oder in eine andere Ecke der Welt zog, gerecht zu werden. Aber nicht nur sonnige Strände waren als Urlaubsdomizil gefragt, sondern auch der etwas rauhere Norden – die Nordsee hinauf bis nach Skandinavien.

Gabriele Matthauser, eine der drei jungen Damen des Reisebüros, die sich durch ihre schon mehr als knabenhafte Figur von ihren beiden wohlproportionierten Kolleginnen unterschied, war für die nördlichen Regionen Europas zuständig. Gerade legte sie einer jungen Frau einige Prospekte und farbige Broschüren vor.

»Die norwegischen Fjorde, gnädige Frau, sind wirklich empfehlenswert«, erklärte sie.

Interessiert blätterte Astrid Mertens, die Kinderärztin aus der Klinik am See, in den Prospekten. »Sieht hübsch aus«, meinte sie anerkennend.

»Dort oben kann man aber nicht am Strand liegen und baden und sich sonnen«, schaltete sich ein Mann in das Gespräch ein, während er ungeduldig darauf wartete, bis die Reihe an ihm war. »Das wäre nichts für mich«, fügte er hinzu. »Die Nordsee und das Klima da oben sind zu rauh.«

»Das ist natürlich Ansichtssache«, entgegnete die Kinderärztin. »Baden und am sonnigen Strand liegen kann ich hier auch am Tegernsee«, fügte sie lächelnd hinzu und wandte sich wieder an das Mädchen mit der zarten knabenhaften Gestalt. »Wissen Sie was, Fräulein«, sagte sie, »am besten ist es wohl, wenn Sie mir eine etwas detallierte Reiseroute ausarbeiten.«

»Von hier aus?« Fragend blickte Gabriele die Ärztin an.

»Nein – das heißt…« Astrid Mertens überlegte kurz. »Ich denke, daß wir bis nach Oslo fliegen, dort einen Wagen mieten und dann von dort aus die Fjord-Tour beginnen. Was meinen Sie dazu?«

»Eine gute Idee«, gab Gabriele zurück. »Ich werde das erledigen und Sie können sich den Reiseplan morgen abholen.«

»Ist es möglich, daß Sie ihn mir zuschicken?« fragte Astrid Mertens.

»Selbstverständlich ist das möglich.« Gabriele zog sich einen Merkblock heran. »Wohin darf ich die Unterlagen schicken?« wollte sie wissen.

»Dr. Astrid Mertens, Klinik am See in Auefelden.«

»Ich habe es notiert.«

»Danke.« Astrid Mertens nickte Gabriele Matthauser freundlich zu und verließ unmittelbar darauf das Reisebüro.

Gabriele zog sich an ihren Schreibtisch zurück. Es war auch höchste Zeit, daß sie sich setzte, denn ihr war plötzlich schwindelig geworden. Sekundenlang verschwamm alles vor ihren Augen. Stützend legte sie ihre Hände an den Kopf.

Eine ihrer beiden Kolleginnen, die gerade einen Kunden abgefertigt hatte, kam zu ihr. »Ist dir nicht gut, Gabriele?« fragte sie besorgt.

Gabriele schreckte hoch. »Es geht schon wieder«, murmelte sie und versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Nur mit einer gewissen Anstrengung gelang ihr das. Sie war froh, als Minuten später die Mittagspause begann und sie sich für eine Weile zurückziehen konnte.

»Kommst du mit, Gabriele?« fragte die eine Kollegin.

»Wohin?«

»Essen natürlich«, kam die Antwort. »Ich habe nämlich Hunger.«

Gabriele schüttelte den Kopf. »Ich nicht«, stieß sie hervor.

»Wie du willst«, erwiderte die Kollegin, eine zweiundzwanzigjährige hübsche Blondine. »Ich finde nur, daß du mit deiner Schlankheitskur etwas übertreibst«, meinte sie.

»Ich mache keine Schlankheitskur«, erregte sich Gabriele.

»Weshalb hungerst du dann?«

»Ich hungere nicht, sondern bekomme einfach nichts oder kaum etwas hinunter«, gab Gabriele zurück. »Und wenn überhaupt, dann kommt es mir sehr schnell wieder hoch.«

»Du solltest mal zum Arzt gehen«, riet die Kollegin. »Das ist doch nicht mehr normal, was du treibst. Sieh dich doch mal im Spiegel an! Du hast weder vorn noch hinten was. Wie alt bist du jetzt? Achtzehn vorbei, und von deinem Busen ist kaum etwas…«

»Hör auf, Rita!« unterbrach Gabriele klagend die Kollegin. »Ich weiß selbst, wie ich aussehe.«

»Schon gut, schon gut«, murmelte die Kollegin und wandte sich ab. »Du mußt ja wissen, was du tust. Bis­ nachher also.«

*

Die Stimmung war gut, denn alle ohne Ausnahme hatten das Abitur bestanden. Es wurde gelacht, getanzt und natürlich auch geflirtet. Von dem letzteren schloß sich Gabriele nicht aus. Schon seit Wochen hatte sie ein Auge auf Robert Kollmann geworfen, den hochaufgeschossenen, ein wenig schlaksig wirkenden einzigen Sohn des Holzhändlers Kollmann. Immer wenn sie in seiner Nähe war, wurde ihr heiß und kalt, und ihr Herz klopfte wie verrückt. Rettungslos verliebt hatte sie sich in ihn, obwohl er kaum Notiz von ihr nahm. Liebend gern hätte sie sich von ihm in die Arme nehmen lassen, wäre so gern mit ihm über die kleine Tanzfläche geschwebt. Robert aber hatte keinen Blick für sie.

»Warum tanzt du denn nicht,

Gabriele?« Vom Tanzen erhitzt, setzte sich Hella Schucher, die ihr Abitur mit den denkbar besten Noten bestanden hatte, neben Gabriele.

Sie gab keine Antwort. Sie starrte nur mit geradezu hungrigem Blick zu der kleinen Bar hin, an der Robert Kollmann gerade mit einer langbeinigen schlanken Schwarzhaarigen schäkerte.

Der Klassenkameradin entgingen diese Blicke nicht. Verständnisvoll lächelte sie. »Aha«, meinte sie, »daher weht der Wind. Der lange Robert hat es dir angetan. Na, dann tanze doch einmal mit ihm!« Ermunternd schubste sie Gabriele in die Seite.

»Das möchte ich ja gern, aber er kommt mich ja nicht holen«, entfuhr es Gabriele seufzend.

»Da muß man wohl ein wenig nachhelfen«, entgegnete die Klassenkameradin. »Warte, ich werde das mal arrangieren«, setzte sie in burschikoser Tonart hinzu, stand auf, und ehe Gabriele noch etwas dazu sagen konnte, war sie schon verschwunden.

Gabriele hätte nicht sagen können, wie Hella es geschafft hatte, Robert Kollmann von der Schwarzhaarigen loszukriegen und mit ihm zusammen an den Tisch zurückzukommen. Auf jeden Fall klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, als der junge Mann plötzlich vor ihr, vor dem Tisch stand.

»Ja, und, was weiter?« fragte Robert Kollmann und blickte Hella fragend an. Man merkte ihm an, daß er schon ein wenig über den Durst getrunken hatte.

»Robert, frag nicht so dumm«, erwiderte Hella. »Du kennst doch

Gabriele. Oder?«

»Sicher kenne ich sie«, antwortete Robert. »Um mich das zu fragen, hättest du mich nicht unbedingt von der Bar weglotsen müssen.«

»Willst du nicht einmal mit Gabriele tanzen?« fragte Hella.

»Muß das sein?« Robert Kollmann verzog das Gesicht.

»Müssen mußt du gar nichts«, fuhr Hella den jungen Mann an. »Aber es wäre nett, wenn du Gabriele einmal auffordern würdest.«

»Lieber nicht.« So schlaksig Robert Kollmann in seiner Erscheinung war, so formlos war er aber auch in der Art, sich auszudrücken. Ohne eine Spur von Verlegenheit sah er Gabriele an und sagte: »Weißt was, Gabriele? Du bist ja ein ganz hübsches Mädchen, aber ich steh’ halt auf was Schlankes. Du bist mir doch ein wenig zu pummelig. Alsdann – net bös sein…« Sprach’s, drehte sich um und entfernte sich wieder.

»So ein Rüpel«, stieß Hella unwillig hervor. »Mach dir nichts daraus«, wandte sie sich an Gabriele, die blaß geworden war bei den Worten Roberts.

»Wollen wir?« Einer der Abiturienten verneigte sich ein wenig linkisch von Hella.

»Aber bitte sehr.« Hella ließ sich zur Tanzfläche führen.

Gabriele schluckte. Natürlich wußte sie, daß sie nicht dem Schlankheitsideal der Zeit entsprach, und es hatte sie auch nie gestört. Daß ihr jemand, noch dazu derjenige, den sie zu lieben meinte, das so ungeschminkt ins Gesicht sagte, verletzte sie doch ganz enorm. In ihrem Innern war ein kleiner Aufruhr. Es tat einfach weh, als pummelig bezeichnet zu werden. Sie mußte plötzlich an ihre Cousine Wilma denken. Wilma war einundzwanzig, jung und arbeitete in der Drogerie von Tegernsee. Gertenschlank war sie. Gabriele hatte nie irgendwelche Minderwertigkeitskomplexe gehabt, wenn sie ihre Figur mit der Wilmas verglich. Sie war auch nie neidisch deswegen gewesen.

Nun aber, ausgelöst durch die unhöflichen Worte Robert Kollmanns, fühlte sich Gabriele auf eine bestimmte Weise gedemütigt. Sie kam sich fast wie ausgestoßen vor. Etwas wie Neid meldete sich bei ihr, als sie die anderen schlanken Mädchen betrachtete. In dieser doch ein wenig deprimierten Stimmung reifte in ihr der Entschluß, auch schlank zu werden.

»Morgen schon fange ich damit an«, flüsterte sie. Für eine schlanke Figur mußte man eben Opfer bringen. Das war ihr klar.

Als wenig später Hella wieder vom Tanzen kam, hatte sich Gabriele schon wieder gefaßt. Äußerlich zumindest.

Hella vermied bewußt, das Thema Figur anzuschneiden. »Was hast du jetzt eigentlich vor?« fragte sie. »Willst du studieren?«

»Bewahre – nein«, erwiderte Gabriele. »Ich möchte Tänzerin werden«, erklärte sie.

»Dazu hättest du doch aber das Abitur nicht nötig gehabt.«

»Mein Vater wollte es so«, gab

Gabriele zurück.

»Heißt das, daß du nun eine Tanzschule besuchen wirst?« wurde Hella neugierig. »Eine Ballettschule also.«

Gabriele nickte. »Ich habe mich auch schon zum Vorstellen in München angemeldet«, erklärte sie. »Übermorgen.«

»Ich wünsche dir viel Glück.«

»Danke, Hella.« Gabriele erhob sich. »Sei mir nicht bös, aber ich habe genug für heute«, sagte sie. »Ich gehe nach Hause.« Es war ihr unmöglich, noch länger zusehen zu müssen, wie Robert Kollmann sich mit den anderen Mädchen amüsierte. Die Enttäuschung über seine Zurückweisung war zu groß. Es schmerzte, denn so schnell konnte sie die Liebe zu ihm, wie sie ihre Gefühle für ihn bezeichnetete, nicht aus sich herausreißen. Es würde eine Zeit dauern, bis sie über diese Enttäuschung, die erste große in ihrem jungen Leben, hinweg war.

Gabriele ahnte zu diesem Zeitpunkt, nachdem sie den Abiturientenball verlassen hatte und sich auf dem Heimweg befand, nicht, daß die nächste Enttäuschung schon auf sie wartete – in München nämlich, wo sie zwei Tage später bei dem Tanzmeister vorsprach.

»Mein liebes Mädchen, Sie sind ja recht hübsch«, bekam sie zu hören, »aber um Tänzerin zu werden, genügt es nicht, wenn man ein hübsches Gesicht hat. Es müssen bei Ihnen zuerst einmal etliche Pfunde verschwinden.«

»Aber Sie können doch nicht sagen, daß ich dick bin«, regte sich

Gabriele auf.

»Das behaupte ich ja gar nicht«, kam die erklärende Antwort. »Dick sind Sie keineswegs, aber Sie haben noch zuviel Babyspeck auf den Rippen. Kommen Sie wieder, wenn Sie schlanker geworden sind! In einigen Monaten vielleicht.«

Es war nun schon das zweite Mal, daß Gabriele auf ihre – wie Robert Kollmann sich ausgedrückt hatte – pummelige Figur hingewiesen wurde. Eine zweite Enttäuschung also, mit der sie nur schwer fertig wurde. Aber sie bestärkte sie in ihrem Entschluß, alles zu tun, um so zu werden, wie viele andere Mädchen und Frauen schon waren – rank und schlank. Mit einer Entschlossenheit, fast hätte man sagen können, mit einer wahren Leidenschaft, die einer besseren und schöneren Sache würdig gewesen wäre, begann sie schon am darauffolgenden Tag mit ihrer Schlankheitskur und hungerte sich über die Tage und Wochen und Monate hinweg. Leicht fiel es ihr anfangs nicht gerade, noch dazu, da sie durch Vermittlung des Vaters noch tagsüber im Reisebüro arbeiten mußte und dort unter einem gewissen Streß stand. Doch sie hielt durch und zwar so konsequent, daß sie sich nach einigen Monaten gar nicht mehr zur verminderten Nahrungsaufnahme zwingen mußte, sondern einen richtigen Widerwillen empfand, wenn sie etwas essen sollte. Auch die Ermahnungen ihrer Mutter, die erst nach längerer Zeit von der Abneigung gegen normales geregeltes Essen ihrer Tochter etwas merkte, halfen nichts. Die zu Anfang vorhandene Entschlossenheit zum Schlankwerden war bei Gabriele schließlich zu einer fixen Idee geworden und wurde mehr und mehr zur schon krankhaften Gewohnheit, die sich auf ihr Seelenleben, auf ihre Stimmung auswirkte. Es konnte dabei nicht ausbleiben, daß depressive Erscheinungen bei Gabriele zunahmen. An diesen war aber auch nicht ganz schuldlos, daß Vater und Mutter seit einiger Zeit ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, das Gabriele nicht entging, dessen Ursachen sie aber auch nicht wußte. Sie vermutete lediglich, daß die öftere und längere Abwesenheit des Vaters, der als Einkäufer für ein Textilunternehmen viel im Lande unterwegs war, ihren Teil dazu beitrug, daß der Haussegen sehr oft schief hing.

»He, Gabriele, schläfst du?«

Gabriele schreckte aus ihren Gedanken hoch, öffnete die Augen und blickte verwirrt um sich. Es dauerte einige Sekunden, bis sie wieder in die Gegenwart zurückfand und erkannte, daß sie sich im Reisebüro befand, in dem sie nun, nachdem die Mittagspause beendet war, wieder reiselustige und ratsuchende Kunden informieren und beraten mußte. »Ich schlafe nicht«, erwiderte sie auf die Frage der Kollegin, die vom Mittagessen zurückgekommen war, »sondern war nur in Gedanken.« Sie taumelte ein wenig, als sie aufstand, faßte sich aber rasch wieder und folgte der Kollegin in den vorderen Büro- und Kundenraum.

*

Aufatmend legte Dr. Lindau, der Chefarzt der Klinik am See, die Krankenakte zur Seite, die er eben mit einigen Notizen vervollständigt hatte. Es war ein etwas hektischer Tag gewesen. Eine Kaiserschnittgeburt, die er zusammen mit Dr. Hoff vorgenommen hatte, und zwei etwas komplizierte Magenoperationen hatten ihn doch ein wenig mitgenommen. Man konnte ihm nicht verdenken, daß er jetzt froh war, den Dienst für diesen Tag beenden zu können. Er drückte auf die Taste des Sprechapparats.

»Ja?«

»Frau Stäuber, ich mache für heute Schluß und fahre nach Hause«, gab er seiner Sekretärin zu verstehen. »Haben wir noch etwas?«

»Nein, Herr Doktor«, klang die Stimme Marga Stäubers aus dem kleinen Lautsprecher. »Zwei Briefe wären nur noch zu unterschreiben, aber die lege ich Ihnen morgen vor, wenn’s recht ist.«

Dr. Lindau lächelte vergnügt. »Es ist recht, Frau Stäuber«, erwiderte er, schaltete den Apparat wieder aus, erhob sich und vertauschte seinen weißen Arztmantel mit dem Jackett.

In diesem Augenblick klopfte es, und Astrid Mertens betrat das Zimmer. »Grüß dich, Paps…«