Peter Handke

Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms

Suhrkamp Verlag

Vorbemerkung

Das ist kein Aufsatzband, und es springt dabei wahrscheinlich kein referierbares Weltbild heraus; höchstens wäre vielleicht eine im Lauf der Zeit zunehmende Scheu vor den kulturkritischen Theorie-Ritualen zu beobachten, mit denen ich anfangs noch ziemlich ungeniert aufgetrumpft habe. Dafür habe ich dann mehr zu beschreiben versucht und dabei die einzelnen Beobachtungen so angeordnet, daß sie beim Lesen für sich selber sprechen konnten, ohne dem Leser mit dem üblichen Rezensions- und Analysenschema jede eigene Erkenntnismöglichkeit gleich mit dem ersten Satz wegzunehmen. Die Beschreibung von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald zum Beispiel ist ja keine Nacherzählung, sondern eine bewußte Auswahl von Sätzen aus dem Stück, die damit das darin formulierte Bewußtsein kommentieren sollten.

Ich hatte immer nur Geschichten geschrieben, und so war mir die Arbeit über etwas, über ein Thema, ziemlich fremd. Angefangen damit habe ich nur, weil ich Geld brauchte. Der Rundfunk zahlte für Feuilletons von 15 Minuten Länge 300 Schilling. Manchmal wäre mir mehr eingefallen, aber ich mußte nach einer bestimmten Zeilenzahl abbrechen: an den Feuilletons über die Zeichentrickfilme und über den Zirkus kann man das ablesen. Über Fußball wußte ich weniger zu schreiben, deswegen schwindelte ich mir die 300 Schilling eher zusammen. Weggelassen habe ich den Text hier dann doch nicht, weil darin auch einige mehr liebevolle Beschreibungen vorkommen. Von allen Texten in diesem Buch habe ich eigentlich nur Die Tautologien der Justiz ganz von mir aus geschrieben. FRIENDLY CARTOONS heißt eine amerikanische Zeichenfilmserie: unter diesem Obertitel läßt sich wohl vieles in dieser Sammlung lesen.

Der letzte Text, Anneliese Rothenberger & Karl Valentin, war vom Spiegel für eine Fernsehkolumne bestellt und wurde gegen ein Ausfallhonorar ungedruckt zu den Akten gelegt. Er zeigt vielleicht am deutlichsten den Unwillen, beim Schreiben eine fremde Rolle, die eines Kritikers, eines Kommentators, eines Wohl- oder Übelmeinenden mithilfe beliebig verfügbarer Begriffe einzunehmen. Es ist auch viel schwieriger, schöne genaue Geschichten zu schreiben, aber es macht auch zufriedener.

Es wäre schön, wenn man möglichst viele dieser Texte als Geschichten lesen könnte.

Juni 1972

P. ‌H.

Ein autobiographischer Essay

1957

Das Betragen:

Ich stand auf, wenn ein Vorgesetzter den Raum betrat. Ich fehlte nicht unentschuldigt. Wenn ich mich als krank zu Bett legte, zeigte das Thermometer, daß ich berechtigt im Bett lag. Als es in Mode kam, sich mit Kreide Hakenkreuze auf die Handfläche zu zeichnen und damit Nichtsahnenden auf die Schulter zu klopfen, war ich meist der Beklopfte. Die Eisblumen auf den Fenstern im Winter wagte ich nicht während des Unterrichts anzuhauchen. Manchmal las ich unter der Bank. Sooft die Lehrer mich anschauten, versuchte ich EHRLICH und OFFEN zurückzuschauen. Auf Befehl konnte ich sofort die Hände auf den Tisch legen. Meist waren meine Schuhbänder so kurz, daß ich sie nicht zubinden konnte.

Die Religion:

Ich glaubte manchmal an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erden. Während der Messe wartete ich auf die Bewegungsänderungen, vor dem Evangelium auf das Aufstehen, vor der Predigt auf das Sitzen, vor der Wandlung auf das Knien. Als der Bischof der Diözese zu Besuch in das Internat kam, trat er im Studiersaal sofort auf mich zu und erkundigte sich nach meinem Namen. Weil meine Mutter ein Kind erwartete, gelobte ich vor dem EWIGEN LICHT, sollte alles gut ausgehen, würde ich wirklich Priester werden. Ich begann gern zur Beichte zu gehen und erfand Sünden. Der Kardinal von Ungarn mußte vor den Kommunisten in der amerikanischen Botschaft ZUFLUCHT suchen. Ich lernte die Namen aller Bücher des Alten Testaments und die Bauart des Tempels Salomons. Wenn ich die Hostie mit den Zähnen berührte, erschrak ich. Ein aus China vertriebener Missionar berichtete von den Leiden der Europäer dort und zeigte Lichtbilder. Martin Luther, so wurde uns erzählt, lebte mit einer dem Kloster entsprungenen Nonne zusammen. Ich übersetzte die Passionsgeschichte aus dem Deutschen ins Lateinische zurück. Allmählich konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie die Hölle beschaffen war. Im Bett, wenn ich mir Bilder von nackten Frauen vorstellte, betete ich unablässig das VaterunserderdubistimHimmel, zu dem mir keine Bilder einfielen. Ich schrieb ein Gedicht auf die Muttergottes. Als man uns sagte, daß vor Gott alle Menschen gleich seien, Weiße, Neger, Juden, Chinesen, kam mir der Gedanke, ob dieser Satz nicht eigentlich erst den Gegensatz dieses Satzes möglich mache. Im Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig hatte ich Angst vor dem Samstagnachmittag, an dem wir in der finsteren Kirche knieten und den Rosenkranz beteten.

Die Geographie:

Ich lernte, daß Winde nach der Richtung benannt werden, aus der sie kommen. Wenig besiedelte Gebiete waren auf den Karten fast weiß eingezeichnet: Dort wollte ich sein. Ich wußte alle Hauptstädte aller Staaten auswendig. In der Erdkruste konnten sich in jedem Augenblick Risse zeigen. Von zu Hause brachte ich eine Karte mit den alten Grenzen Deutschlands in den Unterricht, die für die Kartenkammer eingezogen wurde. Das Tiefblau des Pazifischen Ozeans war das bedrohlichste. In der Nacht hörte ich gern die Züge fahren. Der Vatikan war ein eigener Staat mit eigenen Bürgern. Wenn ich mich verirren sollte, konnte ich mich nach dem Stand der Sonne orientieren. Ich suchte auf den Landkarten Straßenknotenpunkte. Den gestrichelten Weg, den der Captain Scott zum Südpol genommen hatte, sah ich auf der Rückkehr im eingezeichneten Polareis mit einem Kreuz abbrechen. Weil ich alle Flecken und Risse, die es gab, von jetzt an mit Staaten und Flüssen VERGLEICHEN konnte, mußte ich nicht mehr davon träumen.

Die Geschichte:

Die Geschichte war für mich ein UNTERRICHTSFACH. Ich hatte Freude an den Namen der unzähligen Friedensschlüsse. Von den längst vergangenen Ereignissen wurde in der Gegenwart gesprochen. Die Kriege, so wurde gesagt, brachten unsägliches Leid über die Völker. Marc Aurel war ein Philosoph auf dem Kaiserthron. Die Feldherren waren TAPFER, und die Herrscher waren WEISE. Die Hunnen ritten Fleisch unter den Sätteln weich, hatten grausame Schnurrbärte und wurden mit einem Heuschreckenschwarm verglichen. Im Mittelalter war die Welt noch eine Einheit. Der spätere Papst Pius der Zweite entdeckte als einer der ersten die Vorzüge des Bergsteigens. Zur Veranschaulichung der Geschichte las ich Balladen. In allen Wandelgängen des alten Schlosses, in dem wir uns aufhielten, sollte ich die Spuren der Vergangenheit entdecken. Die Schlacht auf dem Lechfeld jährte sich zum eintausendundzweiten Male. Der heilige Bonifatius schlug mit eigener Hand die DONAReiche um und bekehrte auf diese Weise die letzten Heiden im deutschen Gebiet zum Christentum. Die Römer, wenn sie nicht weiteressen konnten, kitzelten sich mit Federn den Gaumen, um erbrechen und weiteressen zu können. Der Aufstand der Ungarn im Jahr zuvor gehörte noch nicht zur Geschichte.

Die Sprachen:

Die Beschäftigung mit den fremden Grammatiken hielt mich davon ab, mich mit den anderen beschäftigen zu müssen. Ich spielte mit den Abwandlungen von Wörtern. Es wurde mir beigebracht, Sprachen zu verachten und Sprachen zu lieben. Einer Minderheit bei uns, die eine slawische Sprache von Kind auf gelernt hatte, wurde von uns andern geraten, doch in das Land zu gehen, wo die Mehrheit diese Sprache spreche. Weil ich in der griechischen Grammatik allen überlegen war, fühlte ich mich mächtiger als viele.

Die Aufsätze:

Weil ich meine Erfahrungen als Kind inzwischen vergessen hatte, teilte ich in den Aufsätzen die dazugelernten Erfahrungen mit eingelernten Wörtern mit. Sollte ich ein Erlebnis beschreiben, so schrieb ich nicht über das Erlebnis, wie ich es gehabt hatte, sondern das Erlebnis veränderte sich dadurch, daß ich darüber schrieb, oder es entstand oft erst beim Schreiben des Aufsatzes darüber, und zwar durch die Aufsatzform, die man mir eingelernt hatte: Sogar ein eigenes Erlebnis erschien mir anders, wenn ich darüber einen Aufsatz geschrieben hatte. In Aufsätzen über Treue und Gehorsam schrieb ich wie in Aufsätzen über T. und G., in Aufsätzen über einen schönen Sommertag schrieb ich wie in Aufsätzen über einen sch. St., in Aufsätzen etwa über das Sprichwort »Steter Tropfen höhlt den Stein« schrieb ich wie in Aufsätzen über das Sprichwort »St. ‌Tr. ‌h. ‌d. ‌Stn.«, bis ich schließlich an einem schönen Sommertag nicht den schönen Sommertag, sondern den Aufsatz über den schönen Sommertag erlebte.

Der Staat:

Ich sang alle Strophen der Bundeshymne. Ich liebte meine Eltern als die Keimzelle des Staates, ich liebte meinen Heimatort, ich liebte das Bundesland, in dem ich geboren war, ich liebte mein geliebtes Vaterland. Ich lernte Sätze über den Staat. Nicht der Staat, sondern die Worte über den Staat reizten mich zum Gebrauchen. Dadurch, daß es einen Staat gab, gehörten wir alle zusammen. Zwei Jahre davor war verkündet worden, daß wir durch einen Staatsvertrag mit den Besatzungsmächten endlich FREI seien: Als sich aber bis jetzt nichts geändert hatte, außer daß ein Staatsfeiertag eingeführt worden war, man aber noch immer hörte, daß wir jetzt FREI seien, hielt ich allmählich die Wörter »frei« und »unfrei« nur für Sprachspiele. Ich sah den Staat in den Wasserzeichen der Zeugnisse. Gerade weil ich mir unter dem Wort »Staat« nichts vorstellen konnte, war ich begeistert für ihn: Ich wollte allem, was ich mir nicht vorstellen konnte, auf die Spur kommen: Ich war für alles begeistert, was beSUNGEN werden konnte.

Das Spielen:

Ich drängte mich zu dem Tischfußballautomaten, der in einem eigens zum Spielen eingerichteten Raum aufgestellt worden war: Dabei schämte ich mich freilich, daß ich NOCH gern spielte. Ich lernte es, vor schweren Medizinbällen, die aus der Nähe gegen mich geworfen wurden, die Angst zu verlieren und die Bälle vor der Brust zu fangen, wenn ich auch zurücktaumeln mußte. Der geistliche Aufseher, der uns einen Nachmittag lang einen Abhang hinauf- und hinunterjagte, weil wir vor dem Beten im Speisesaal unruhig gewesen waren, bezeichnete auch dies als Spiel. Am Radio regte ich mich über die Wahlergebnisse auf, die wir in unserem Alter schon hören durften: Aus Spiellust trat ich offen für die sozialistische Partei ein, die in dem Internat verpönt war. In den Tagen der geistlichen Exerzitien, in denen wir zum Schweigen verpflichtet waren, konnte ich nicht genug kriegen an Wörtern. Ich löste schwierige Rechenaufgaben mit einer Spannung, mit der ich sonst mörderische Geschichten las.

Der Ernst des Lebens:

Ich schämte mich oft. Kaum aufgewacht, wünschte ich mir, es wäre schon wieder Abend. Ich wollte mich überallhin VERKRIECHEN. Im Bett zog ich mir sofort die Decke über den Kopf. Von einem Foto schnitt ich den Hinterkopf ab, weil er mir peinlich war. Den Stuhl, auf dem ich im Studiersaal saß, zog ich ganz dicht an das Pult heran und schob den Körper möglichst weit unter das Pult. Die Fingernägel waren immer schmutzig. Ich hörte auf, während der Messe mitzusingen, weil ich dabei die eigene Stimme hörte. Ich roch den Wein an den Fingern des Priesters, wenn er mir die Hostie auf die Zunge legte. Viel länger als nötig saß ich auf dem Abort. Ich war froh, daß das Pult einen aufklappbaren Aufbau hatte, in den ich mich in dem großen Saal mit den Augen verkriechen konnte. Mitten in einer Wurfschlacht mit Apfelresten fing ich blöd zu weinen an. Mit dem Weihwasser betupfte ich beim Verlassen der Kirche die Pickel auf der Stirn. Ich bemerkte zum erstenmal, daß ich schwitzte. Von allen Wörtern, die mit schlechten Vorsilben anfingen, fühlte ich mich gemeint. Die Sonne war mir zuwider, aber wenn draußen der Schnee fiel, hatte ich etwas, wo ich hinschauen konnte. Bei schwarzen Schlagzeilen in der Zeitung fiel mir das Wort »Herbst« ein, weil im Herbst davor Israel Ägypten bombardiert hatte: Bomben hatten seitdem für mich die Form von dichten schwarzen Schlagzeilen. Ich fürchtete mich nicht mehr so sehr vor dem Sterben, wie ich es als Kind getan hatte, sondern mehr vor dem Nicht-Sterben und vor dem Gesundsein. Ich erinnerte mich wenig und gebrauchte selten die Vergangenheitsform: Ich dachte meistens voraus. Wenn ich mir damals wünschte, anderen etwas SAGEN zu können, so meinte ich damit den Wunsch, anderen etwas BEFEHLEN zu können: Ich fürchtete und bewunderte die, die auf diese Weise etwas zu SAGEN hatten. Die Schuhe der Aufseher KNARRTEN hinter einem. Die scheinbare AUSSENWELT, in der ich lebte, das Internat, war eigentlich INTERN, eine äußerlich angewendete INNENWELT, und das eigene Innere war die einzige Möglichkeit, ein wenig an die AUSSENWELT zu gelangen. Ich getraute mich nicht, beim Spaziergang die vorgeschriebenen Grenzen zu überschreiten: Ich bemerkte nur GRENZEN. Die Angst vor der Kirche war eine Angst vor der Kälte. Obwohl ich noch nie im Ausland gewesen war, war ich doch immer im AUSLAND. Jede meiner Antworten erschien mir als eine Beichte. Die Äpfel, die in den Wiesen rund um das Internat auf dem Boden lagen, STAHL ich. Erst ein Jahr darauf kam es dazu, daß ich, unter dem Vorwand, ich wollte zum Zahnarzt, mit dem Bus in die nahe gelegene Stadt fuhr, wo ich neugierig herumging und neugierig schließlich ein Buch kaufte: Kurz nachdem ich zurück war, wurde es mir weggenommen, aber da hatte ich es schon gelesen.

(1967)

Mehr oder weniger Grundsätzliches

Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms

Literatur ist für mich lange Zeit das Mittel gewesen, über mich selber, wenn nicht klar, so doch klarer zu werden. Sie hat mir geholfen zu erkennen, daß ich da war, daß ich auf der Welt war. Ich war zwar schon zu Selbstbewußtsein gekommen, bevor ich mich mit der Literatur beschäftigte, aber erst die Literatur zeigte mir, daß dieses Selbstbewußtsein kein Einzelfall, kein Fall, keine Krankheit war. Ohne die Literatur hatte mich dieses Selbstbewußtsein gleichsam befallen, es war etwas Schreckliches, Beschämendes, Obszönes gewesen; der natürliche Vorgang erschien mir als geistige Verwirrung, als eine Schande, als Grund zur Scham, weil ich damit allein schien. Erst die Literatur erzeugte mein Bewußtsein von diesem Selbstbewußtsein, sie klärte mich auf, indem sie zeigte, daß ich kein Einzelfall war, daß es anderen ähnlich erging. Das stupide System der Erziehung, das wie auf jeden von den Beauftragten der jeweiligen Obrigkeit auch auf mich angewendet wurde, konnte mir nicht mehr so viel anhaben. So bin ich eigentlich nie von den offiziellen Erziehern erzogen worden, sondern habe mich immer von der Literatur verändern lassen. Von ihr bin ich durchschaut worden, von ihr habe ich mich ertappt gefühlt, von ihr sind mir Sachverhalte gezeigt worden, deren ich nicht bewußt war oder in unbedachter Weise bewußt war. Die Wirklichkeit der Literatur hat mich aufmerksam und kritisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht. Sie hat mich aufgeklärt über mich selber und über das, was um mich vorging.

Seit ich erkannt habe, worum es mir, als Leser wie auch als Autor, in der Literatur geht, bin ich auch gegenüber der Literatur, die ja wohl zur Wirklichkeit gehört, aufmerksam und kritisch geworden. Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren. Seitdem ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur habe ändern können, daß mich die Literatur zu einem andern gemacht hat, erwarte ich immer wieder von der Literatur eine neue Möglichkeit, mich zu ändern, weil ich mich nicht für schon endgültig halte. Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder. Und weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können. Kleist, Flaubert, Dostojewski, Kafka, Faulkner, Robbe-Grillet haben mein Bewußtsein von der Welt geändert.

Jetzt, als Autor wie als Leser, genügen mir die bekannten Möglichkeiten, die Welt darzustellen, nicht mehr. Eine Möglichkeit besteht für mich jeweils nur einmal. Die Nachahmung dieser Möglichkeit ist dann schon unmöglich. Ein Modell der Darstellung, ein zweites Mal angewendet, ergibt keine Neuigkeit mehr, höchstens eine Variation. Ein Darstellungsmodell, beim ersten Mal auf die Wirklichkeit angewendet, kann realistisch sein, beim zweiten Mal schon ist es eine Manier, ist irreal, auch wenn es sich wieder als realistisch bezeichnen mag.

Eine solche Manier des Realismus gibt es heute etwa in der deutschen Literatur. Weithin wird mißachtet, daß eine einmal gefundene Methode, Wirklichkeit zu zeigen, buchstäblich ›mit der Zeit‹ ihre Wirkung verliert. Die einmal gewonnene Methode wird nicht jedesmal neu überdacht, sondern unbedacht übernommen. Es wird so getan, als sei die Beschreibung dessen, was positiv ist (sichtbar, hörbar, fühlbar …) in sprachlich vertrauten, nach der Übereinkunft gebauten Sätzen eine natürliche, nicht gekünstelte, nicht gemachte Methode. Die Methode wird überhaupt für die Natur gehalten. Eine Spielart des Realismus, in diesem Fall die Beschreibung, wird für naturgegeben gehalten. Man bezeichnet diese Art der Literatur dann auch als ›unliterarisch‹, ›unpreziös‹, ›sachlich‹, ›natürlich‹ (der Ausdruck ›dem Leben abgelauscht‹ scheint sich nicht durchgesetzt zu haben). Aber in Wirklichkeit ist diese Art der Literatur genausowenig natürlich wie alle Arten der Literatur bis jetzt: nur der Gesellschaft, die mit Literatur zu tun hat, ist die Methode vertraut geworden, so daß sie gar nicht mehr spürt, daß die Beschreibung nicht Natur, sondern Methode ist. Diese Methode wird im Augenblick nicht mehr reflektiert, sie ist schon rezipiert worden. Unreflektiert verwendet, steht sie der Gesellschaft nicht mehr kritisch gegenüber, sondern ist einer der Gebrauchsgegenstände der Gesellschaft geworden. Dem Lesenden leistet die Methode keinen Widerstand mehr, er spürt sie gar nicht. Sie ist ihm natürlich geworden, sie ist vergesellschaftet worden. Neuigkeiten allerdings werden auf diese Weise nicht mehr vermittelt. Die Methode ist zur Schablone geworden. Das hat zur Zeit einen sehr trivialen Realismus zur Folge.

Es zeigt sich ja überhaupt, daß eine künstlerische Methode durch die wiederholte Anwendung im Lauf der Zeit immer weiter herabkommt und schließlich in der Trivialkunst, im Kunstgewerbe, im Werbe- und Kommunikationswesen völlig automatisiert wird. Viele Serienromane arbeiten heutzutage mir nichts, dir nichts mit der Methode des inneren Monologs, Heerscharen von Autoren arbeiten mit der Methode des Filmschnitts. Ähnliches ist zur Zeit an der Methode des Beschreibens und Reportierens von äußeren Tatbeständen in Illustriertenromanen zu entdecken. Einiger Methoden der konkreten Poesie hat sich die Werbung bemächtigt. Die Methode der Überbetonung von Nebensächlichkeiten zur Betonung der Hauptsache findet man in manchen unvermuteten Großaufnahmen im Fernsehen, die Methode der Wortspiele verstehen Wochenschau und Spiegel oft noch kindischer zu handhaben als mancher Wortspieler. Wenn die Methode so sehr abgebraucht, d. ‌h. natürlich geworden ist, daß mit ihr das Trivialste, das allseits Bekannte ‒ nur neu ›formuliert‹ ‒ wieder gesagt werden kann, dann ist sie zur Manier geworden, ja, sie ist sogar dann schon zur Manier geworden, wenn durch sie auch nur ein Sachverhalt, der für die Gesellschaft schon eine geklärte (auch ungeklärte) festgesetzte Bedeutung hatte, in dieser Bedeutung wiederholt wird. Die Methode müßte alles bisher Geklärte wieder in Frage stellen, sie müßte zeigen, daß es noch eine Möglichkeit der Darstellung der Wirklichkeit gibt, nein, daß es noch eine Möglichkeit gab: denn diese Möglichkeit ist dadurch, daß sie gezeigt wurde, auch schon verbraucht worden. Es geht jetzt nicht darum, diese Möglichkeit nachzuahmen, sondern, mit dieser Möglichkeit bekannt gemacht, als Leser bewußter zu leben und als Autor nach einer anderen Möglichkeit zu suchen. So geht es mir nicht darum, unmethodisch aus dem Leben zu schöpfen, sondern Methoden zu finden. Geschichten schreibt das Leben bekanntlich am besten, nur daß es nicht schreiben kann.

All das ist sehr abstrakt, ich weiß. Keine Beispiele, keine Zahlen, keine Namen. Ich nenne mich als Beispiel, wie mir eine Methode zur Manier geworden ist. Vor einigen Jahren fand ich in einem Strafgesetzbuch das Gesetz über das Standrecht. Darin wurde in der Form von Paragraphen festgesetzt, unter welchen Voraussetzungen das Standrecht über ein Gebiet zu verhängen sei, wie das Gericht sich zusammenzusetzen habe, wie es vorzugehen habe, welche Rechtsmittel dem Angeklagten zustünden, welche Strafe im Standrecht verhängt werde (der Tod), was nach der Urteilsverkündung zu geschehen habe (zwei Stunden nach Urteilsverkündung ist das Urteil zu vollstrecken, auf besonderes Bitten des Verurteilten ist diesem noch eine dritte Stunde zu seiner Vorbereitung auf den Tod zu gewähren), wie das Urteil vollzogen werde, was nach eingetretenem Tod zu geschehen habe. Die abstrahierende Form der Darstellung eines ritualisierten Sterbens nahm mich gefangen. Die Folgerichtigkeit der Sätze, die im Grunde immer Bedingungssätze für eine konkrete zu denkende Wirklichkeit waren, das heißt, anzuwenden, wenn der in ihnen angegebene Tatbestand in der Wirklichkeit zutraf, erschien mir äußerst bedrohlich und beklemmend. Die abstrakten Sätze, die von keinem konkreten Sterben erzählten, zeigten mir trotzdem eine neue Möglichkeit, die Phänomene des Sterbens und des Todes zu sehen. Sie änderten meine früheren Denkgewohnheiten über die literarische Darstellung von Sterben und Tod, sie änderten überhaupt meine Denkgewohnheiten über Sterben und Tod. Ich schrieb damals einen Text, der die Methode des Gesetzestextes in die Literatur übernahm, ja, der in einigen Sätzen sogar aus dem authentischen Gesetzestext bestand. Später versuchte ich noch einige Male, diese Methode auf die Wirklichkeit anzuwenden. Beim zweiten Mal freilich wurde die Methode zur Manier, es ergab sich keine neue Möglichkeit, der Versuch wurde vom Spiel zu einer bloßen Spielerei, die abstrahierenden Sätze wurden wirklich abstrakt, blieben unwirksam, bestätigten nur, was ohnedies schon bekannt war.

Seit einiger Zeit hat die Literatur, die zur Zeit geschrieben wird, mit mir nichts mehr zu tun. Das liegt wohl daran, daß sie mir nur Bekanntes vermittelt, bekannte Gedanken, bekannte Gefühle, bekannte Methoden, das heißt: bekannte Gedanken und Gefühle, weil die Methoden bekannt sind. Ich kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen, mag sie noch so farbig und phantasievoll sein, ja jede Geschichte erscheint mir um so unerträglicher, je phantasievoller sie ist. Geschichten höre ich am liebsten gesprochen, erzählt, in der Straßenbahn, in einer Gaststätte, meinetwegen am Kamin. Ich kann aber auch keine Geschichten mehr ertragen, in denen scheinbar nichts geschieht: die Geschichte besteht dann eben darin, daß nichts oder fast nichts geschieht, die Fiktion der Geschichte aber ist immer noch da, unreflektiert, unüberprüft. Dieses Nichtvertragen-Können einer Geschichte ist sicherlich etwas Emotionales, ich bin der Geschichte, der Phantasie einfach überdrüssig geworden. Aber ich habe auch bemerkt, daß es mir in der Literatur eben nicht um die Erfindung und nicht um die Phantasie geht. Die Phantasie scheint mir etwas Beliebiges, Unüberprüfbares, Privates zu sein. Sie lenkt ab, sie unterhält im besten Fall, ja weil sie nur unterhält, unterhält sie mich nicht einmal mehr. Jede Geschichte lenkt mich von meiner wirklichen Geschichte ab, sie läßt mich durch die Fiktion mich selber vergessen, sie läßt mich meine Situation vergessen, sie macht mich weltvergessen. Wenn aber durch eine Geschichte eine Neuigkeit gesagt werden soll, dann scheint mir eben die Methode, dazu eine Geschichte zu erfinden, unbrauchbar geworden zu sein. Die Methode hat sich überlebt. Die Fiktion, die Erfindung eines Geschehens als Vehikel zu meiner Information über die Welt ist nicht mehr nötig, sie hindert nur. Überhaupt scheint mir der Fortschritt der Literatur in einem allmählichen Entfernen von unnötigen Fiktionen zu bestehen. Immer mehr Vehikel fallen weg, die Geschichte wird unnötig, das Erfinden wird unnötig, es geht mehr um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nicht sprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden. Mag sein, daß die Literatur so auf den ersten Blick ihre Unterhaltsamkeit einbüßt, weil keine Geschichte mehr die Eselsbrücke zum Leser schlägt: aber ich gehe dabei von mir selber aus, der ich als Leser mich weigere, diese Eselsbrücken überhaupt noch zu betreten. Ich möchte gar nicht erst in die Geschichte ›hineinkommen‹ müssen, ich brauche keine Verkleidung der Sätze mehr, es kommt mir auf jeden einzelnen Satz an.

So scheint mir die Methode des Realismus, wie sie im Augenblick noch immer im Schwang ist, verbraucht zu sein. Eine normative Auffassung von den ›Aufgaben‹ der Literatur verlangt außerdem in recht unbestimmten, unklaren Formeln, daß die Literatur die ›Wirklichkeit‹ zeigen solle, wobei diese Auffassung jedoch als Wirklichkeit die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit jetzt, an diesem Ort, in diesem Staat meint. Sie verlangt: wahrhaftig: verlangt, eine Darstellung dieser politischen Wirklichkeit, sie verlangt, daß ›Dinge beim Namen genannt werden‹. Sie verlangt dazu eine Geschichte mit handelnden oder nicht handelnden Personen, deren soziale Bedingungen möglichst vollständig aufgezählt wrden. Sie verlangt konkrete gesellschaftliche Daten, um dem Autor Bewältigung der Wirklichkeit attestieren zu können.

Dieser Auffassung von der Wirklichkeit geht es um eine sehr einfache, aufzählbare, datierbare, pauschale Wirklichkeit. Sie hält es mit der Genauigkeit der Daten, die die Dinge stumpf beim Namen nennen, aber nicht mit der Genauigkeit der subjektiven Reflexe und Reflexionen auf diese Daten. Sie übersieht den Zwiespalt zwischen der subjektiv, willkürlich erfundenen Geschichte, die sie von der Literatur immer noch erwartet, und der dieser erfundenen Geschichte notwendig angepaßten, damit schon verzerrt gezeigten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie übersieht, daß es in der Literatur nicht darum gehen kann, politisch bedeutungsgeladene Dinge beim Namen zu nennen, sondern vielmehr von ihnen zu abstrahieren. Die Wörter Hitler, Auschwitz, Lübke, Berlin, Johnson, Napalmbomben sind mir schon zu bedeutungsgeladen, zu politisch, als daß ich sie, als Wörter, literarisch noch unbefangen gebrauchen könnte. Wenn ich diese Wörter in einem literarischen Text lese, gleich in welchem Zusammenhang, bleiben sie für mich unwirksam, sind für mich ärgerlich literarisch geworden, lassen mich weder zum Denken kommen noch assoziieren. Jedenfalls erscheinen mir gesellschaftliche oder politische Dinge in der Literatur, naiv beim Namen genannt, als Stilbruch, es sei denn, man nimmt die Namen nicht als Bezeichnungen dieser Dinge, sondern als Dinge für sich und zerstört dabei die festgesetzten Bedeutungen dieser Wörter. Es interessiert mich als Autor übrigens gar nicht, die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewältigen, sondern es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewältigen). Das Erforschen und Bewältigen der Wirklichkeit (ich weiß gar nicht, was das ist) überlasse ich den Wissenschaften, die allerdings mir mit ihren Daten und Methoden (soziologischen, medizinischen, psychologischen, juristischen) wieder Material für meine Wirklichkeit liefern können. Ich halte nichts von den Floskeln, die etwa sagen, daß ein Gedicht mehr über die Wirklichkeit (oder was weiß ich) aussage als ›so mancher dickleibige wissenschaftliche Wälzer‹. Aus dem Kaspar-Hauser-Gedicht von Georg Trakl habe ich für mich nichts erfahren, aus dem Bericht des Juristen Anselm von Feuerbach sehr viel, auch für meine Wirklichkeit, und nicht nur objektive Daten. Was die Wirklichkeit betrifft, in der ich lebe, so möchte ich ihre Dinge nicht beim Namen nennen, ich möchte sie nur nicht undenkbar sein lassen. Ich möchte sie erkennbar werden lassen in der Methode, die ich anwende. Deshalb auch mag ich keine Fiktion, keine Geschichte (auch keine durcheinandergebrachte mehr), weil die Methode der Geschichte, der Phantasie, für mich etwas Behagliches, etwas Geordnetes, etwas unangebracht Idyllisches hat. Die Methode der Geschichte ist für mich nur noch anwendbar als reflektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der Geschichte.

Eine normative Literaturauffassung freilich bezeichnet mit einem schönen Ausdruck jene, die sich weigern, noch Geschichten zu erzählen, die nach neuen Methoden der Weltdarstellung suchen und diese an der Welt ausprobieren, als ›Bewohner des Elfenbeinturms‹, als ›Formalisten‹, als ›Ästheten‹. So will ich mich gern als Bewohner des Elfenbeinturmes bezeichnen lassen, weil ich meine, daß ich nach Methoden, nach Modellen für eine Literatur suche, die schon morgen (oder übermorgen) als realistisch bezeichnet werden wird, und zwar dann, wenn auch diese Methoden schon nicht mehr anwendbar sein werden, weil sie dann eine Manier sind, die nur scheinbar natürlich ist, wie jetzt die Fiktion als Mittel der Wirklichkeitsdarstellung in der Literatur noch immer scheinbar natürlich ist. (Es ist nebenbei zu bemerken, daß die Filmkritik hierzulande schon viel weiter fortgeschritten ist als die literarische Kritik.)

Schon wieder bin ich sehr abstrakt gewesen, habe es versäumt, die Methoden zu nennen, mit denen ich arbeite (ich kann nur von meinen Methoden reden). Zuallererst geht es mir um die Methode. Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann. Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist, hier und woanders (höchstens eine anarchistische). Ich weiß nicht, was sein soll. Ich kenne nur konkrete Einzelheiten, die ich anders wünsche, ich kann nichts ganz anderes, Abstraktes, nennen. Im übrigen interessiert es mich als Autor auch nicht so sehr.

Methoden also. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, daß ich jemals Stücke schreiben würde. Das Theater, wie es war, war für mich ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Auch Beckett und Brecht hatten nichts mit mir zu schaffen. Die Geschichten auf der Bühne gingen mich nichts an, sie waren, statt einfach zu sein, immer nur Vereinfachungen. Die Möglichkeiten der Wirklichkeit waren durch die Unmöglichkeiten der Bühne beschränkt, das Theater täuschte über die Wirklichkeit hinweg. Statt einer neuen Methode merkte ich Dramaturgie. Der fatale Bedeutungsraum (die Bühne bedeutet Welt) blieb unreflektiert und führte für mich zu lächerlich eindeutigen Symbolismen wie etwa die des Beckettschen Pantomimen, der auf die Bühne geworfen wird. Das war für mich keine Neuigkeit, sondern ein Hereinfallen auf die alte Bedeutung der Bühne. Die Brechtsche Desillusionierung, die zum Desillusionieren immer Illusionen nötig hatte, erschien mir ebenso als fauler Zauber, wieder wurde Wirklichkeit vorgetäuscht, wo Fiktion war. Die Methode meiner ersten Stücke ist deswegen eine Beschränkung der theatralischen Handlungen auf Wörter gewesen, deren widersprüchliche Bedeutung eine Handlung und eine individuelle Geschichte verhinderten. Die Methode bestand darin, daß kein Bild mehr von der Wirklichkeit gegeben wurde, daß nicht mehr die Wirklichkeit gespielt und vorgespiegelt wurde, sondern daß mit Wörtern und Sätzen der Wirklichkeit gespielt wurde. Die Methode meines ersten Stücks bestand darin, daß alle Methoden bisher verneint wurden. Die Methode des nächsten Stücks wird darin bestehen, daß die bisherigen Methoden durchreflektiert und für das Theater ausgenützt werden. Die Schablone, daß die Bühne Welt bedeutet, wird zu einem neuen ›Welttheater‹-Stück ausgenützt werden. Immerhin habe ich bemerkt, daß die Möglichkeiten auf dem Theater nicht beschränkt sind, sondern daß es immer noch eine Möglichkeit mehr gibt, als ich mir gerade gedacht habe.

Auch einen Roman ohne Fiktion zu schreiben, habe ich mir früher weder denken können noch träumen lassen. So starre Normen habe ich heute nicht mehr. Für den Roman, an dem ich jetzt gearbeitet habe, übernahm ich als Vehikel einfach das Schema einer Fiktion. Ich habe keine Geschichte erfunden, ich habe eine Geschichte gefunden. Ich fand einen äußeren Handlungsablauf, der schon fertig war, das Handlungsschema des Kriminalromans, mit seinen Darstellungsklischees des Mordens, des Sterbens, des Schreckens, der Angst, der Verfolgung, der Folterung. In diesen Schemata erkannte ich, als ich über sie nachdachte, Verhaltensweisen, Existenzformen, Erlebnisgewohnheiten von mir selber wieder. Ich erkannte, daß diese Automatismen der Darstellung einmal aus der Wirklichkeit entstanden waren, daß sie einmal eine realistische Methode gewesen waren. Würde ich also nur mir diese Schemata des Sterbens, des Schreckens, des Schmerzes usw. bewußt machen, so könnte ich mit Hilfe der reflektierten Schemata den wirklichen Schrecken, den wirklichen Schmerz zeigen. Dieser Vorgang erschien mir wie die Kreisbewegung über das Bewußtwerden zurück zum Ausgangspunkt in Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. So wählte ich die Methode, auf unbewußte literarische Schemata aufmerksam zu machen, damit die Schemata wieder unliterarisch und bewußt würden. Es ging mir nicht darum, Klischees zu ›entlarven‹ (die bemerkt jeder halbwegs sensible Mensch), sondern mit Hilfe der Klischees von der Wirklichkeit zu neuen Ergebnissen über die (meine) Wirklichkeit zu kommen: eine schon automatisch reproduzierbare Methode wieder produktiv zu machen. Bei der nächsten Arbeit freilich wird eine andere Methode nötig sein.

(1967)