Peter Handke

Chronik der laufenden Ereignisse

Suhrkamp Verlag

Für Bernd und Ute Bohmeier und ihre Wohnung



 
 
 

Dieses Drehbuch entspricht in seiner Chronologie und Länge nicht dem Film; es ist auch nicht so sehr als Drehbuch geschrieben, sondern als Erzählung von einem schon vorhandenen Film. In dem Fernsehfilm Chronik der laufenden Ereignisse sind sechs lange Szenen aus dem Buch weggefallen: die Szene, in der Spade im Fundbüro seine verlorene Brieftasche nicht beschreiben kann (10); die Szene, die McNamara daheim im Kreise seiner Familie zeigt (21); die Szene, in der die Gesprächsteilnehmer in Glamourfotos wie Nachtclubkünstler vorgeführt werden (24); die Szene, in der Mrs. McNamara von einem Streik in Italien erzählt (27); die Szene, in der Professor Russel in einem Fußballstadion über die Gerechtigkeit redet (30); und die Szene, in der verschiedene Leute vor den Emblemen ihrer Berufe Meinungen zu ihrem Wirtschaftssystem mitteilen (37). Als 11te Szene im Film folgte ein »improvisiertes Gespräch« zwischen den Darstellern. Dieses »Gespräch« ist im Anhang ebenso abgedruckt wie der erweiterte Text der Szene 18.

 

img_42781_01_004_Band09_Text051_abb01_b1

1

Eine Landstraße in der Nacht. Die Straße führt auf den Beschauer zu. Freies Feld, helle Nachtwolken am Himmel. Links von der Straße, hinter einem von lebendem Zaun umgebenen Vorgarten, ist etwas wie der Umriß eines englischen Herrschaftshauses zu erkennen, vor dem Eingangstor etwas wie zwei helle steinerne Löwen. Ruhiges Bild ohne Bewegung und Geräusche. Nach einiger Zeit sieht man im Hintergrund des Bildes, am Horizont, eine Unregelmäßigkeit, die sich dann als zwei Lichtpunkte erweist, die sich wiederum als die Scheinwerfer eines Autos erweisen, welches auf der Landstraße, die in einem großen Bogen heranführt, langsam und fast lautlos näherkommt und auf der Höhe des Landhauses schließlich stehenbleibt. Man hört, wie der Motor abgeschaltet wird, und sieht, wie das Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern still vor dem Haus steht. Nach einiger Zeit werden auch die Scheinwerfer abgeschaltet, und vom Auto, wie vom Landhaus, sieht man nur noch die Umrisse. Jetzt erscheint auf dem dunklen Bild ein Rolltitel: »1969. Alles ist im Umbruch begriffen. Kein Wert mehr wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung mehr gilt als endgültig. Alle Vorstellungen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Wahr und Unwahr sind über den Haufen geworfen. Keiner mehr ist seiner Sache sicher. Eine heilsame Verwirrung hat überall eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht. Verstört beginnt man sich allerorten zu fragen, wie man denn leben solle. (Absatz) Das Problem, wie man die Verhältnisse zueinander neu ordnen könne, geht an niemand vorbei; es beschäftigt die Menschen in den Betrieben, in den Büros, in den Warenhäusern: kaum einer von ihnen kann sich der Überzeugungskraft der neuen Ideen entziehen. Etwas muß geschehen! ist die übereinstimmende Auffassung; was aber geschehen muß, darüber wird allenthalben nachgedacht, und die Ergebnisse werden in nie gekannter Offenheit diskutiert und in Dialogen, die von allen Seiten ‒ Lohnabhängigen und Lohnunabhängigen, Bemittelten und minder Bemittelten, Oben und Unten ‒ mit der gleichen Einsicht in die Notwendigkeit veranstaltet werden, miteinander abgestimmt. (Absatz) Mit brennender Sorge arbeiten die offiziellen Stellen an Plänen für eine gerechte Aufteilung von Kapital, Grund und Boden, Aufwand der Arbeitskraft, und damit auch an einer gerechten Aufteilung von Gedanken, Schmerzen und Freude. Jeder ist für jedermann offen. Immer mehr Individuen erkennen die Ursache ihres Unmuts, ihrer Alpträume; immer mehr Individuen verlieren die Scham, einander Fragen zu stellen; immer mehr Individuen erkennen an sich ein Bedürfnis, durch Fragen die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Verhältnisse neu geordnet werden. (Absatz) Wie also soll man leben? Wie miteinander leben? Wie einander und sich selber lebend ein Bedürfnis sein? Wie falsche Bedürfnisse durchschauen? Wie echte Bedürfnisse erkennen? Wie die Schmerzen so im Gleichgewicht halten, daß sie notwendig zur Entstehung der Freude gehören? Und wie die Freude so im Gleichgewicht halten, daß sie nicht übermäßig schmerzhaft wird? Und wie Schmerzen und Freude so im Gleichgewicht halten, daß nicht sie beide die Gedanken verhindern? Und wie die Gedanken so im Gleichgewicht halten, daß sie gerade so schmerzhaft sind, daß man sich an ihnen gerade so freuen kann, daß man sie weiterdenken möchte? Wie soll man leben?« Als der Rolltitel verschwunden ist, setzt sofort erregte Musik ein, von klassischer Art, wie man sie aus dem Vorspann zu Horrorfilmen kennt (Terence Fisher); so vergeht einige Zeit; dann wird es in dem Landhaus hinter einem Fenster hell; etwas später auch hinter zwei anderen, die ebenfalls in einer Reihe liegen. Etwas später wird es hinter diesen beiden Fenstern wieder dunkel. Die Horrormusik dauert kräftig an, bei ruhigem Bild, einem beleuchteten Fenster und dunklem Auto draußen auf der Straße, auch bei dem folgenden Wechsel der Einstellung,

img_42781_01_004_Band09_Text051_abb02_b3

»… die Scheinwerfer eines Autos, welches auf der Höhe des Landhauses schließlich stehenbleibt.«

img_42781_01_004_Band09_Text051_abb03_b2

 

 

2

die ein Bild aus dem Stück Das Mündel will Vormund sein zeigt: das Innere eines Bauernhauses, ein Bühnenbild aus drei Wänden, ein Fenster, Tür, Tisch, zwei Stühle, ein Bett rechter Hand zusätzlich. Totale des Bühnenbildes bei starker Horrormusik. Eine theatralisch mit Halbmaske aufgemachte männliche Figur, das Mündel, sitzt am Tisch, die Beine auf dem zweiten Stuhl, und schaut bewegungslos zu der andern Figur hin, dem Vormund, der auf dem Bauch schräg über dem Bett liegt und mit Kopf und Armen seitlich über die Bettkante hängt. Aus dem unsichtbaren Mund tropft und rinnt abwechslungsweise eine Flüssigkeit auf den Boden hinab, auf dem sich schon eine sehr große Lache gebildet hat. Vor dem Fenster Nachtwolken, gemalt. An der Tür hängt ein Gewehr, ähnlich einer Winchesterbüchse. Einige Zeit vergeht so, bis die Horrormusik ein, jedenfalls für sie selber, harmonisches Ende findet. Dann hört man ein Flugzeuggeräusch, das allmählich stärker wird; man hört ein Flugzeug über die Szene hinwegfliegen und sich dann nach und nach entfernen. Noch glaubt man es, wenn auch schon weit weg, wie ein Rauschen zu hören, als die Figur am Tisch wie vorsichtig aufsteht, die Tischlade öffnet, einen Revolver herausnimmt, ihn einsteckt und sich einen langen Mantel überzieht, der über einem Stuhl gelegen hatte. Die Tischlade ist offen geblieben. Während der Mann sich langsam den Mantel zuknöpft, hört man draußen, mit einem ununterbrochenen Hupton, ein Auto am Haus vorbeirasen. Als er den Mantel zugeknöpft hat, rast ein zweites Auto vorbei, ebenfalls mit einem ununterbrochenen, wenn auch anderen, helleren Hupton. Der Mann geht, ohne daß man ihn dabei hört ‒ alles, was er bis jetzt getan hat, ist geräuschlos gewesen ‒, zur Tür und nimmt das Gewehr ab. Draußen wird, wie in einem stehenden Auto, dreimal hintereinander gehupt. Der Mann geht mit dem Gewehr in der Hand zur Tür hinaus; die Tür läßt er hinter sich offen. Draußen sieht man nur die Umrisse eines steinernen Löwen neben der Tür. Der Mann entfernt sich in die Dunkelheit. Wieder hört man die Hupe aus dem stehenden Auto, jetzt aber nur zweimal hintereinander. Ein Starter wird angelassen, und man hört ohne Eile ein Auto wegfahren. Während es sich langsam entfernt, sieht man die Flüssigkeit aus dem Mund der Gestalt, die über dem Bett liegt, in einem stärkeren Strahl auf den Boden rinnen. Schließlich stürzt sie in einem Schwall aus dem Mund und spritzt auf den Boden. Dann geht langsam der Vorhang zu, und das Bild mit dem geschlossenen Vorhang wird langsam dunkel.

 

 

3

Totale einer Stadt, von einem Hügel aus gesehen. Es ist, als ob ein Vorhang aufgegangen wäre. Tag. Die Sonne scheint. Stille. Jemand, eine Männerstimme, sagt: »Wenn ich das früher gewußt hätte …« Pause. »Ich hätte das früher wissen müssen.« Pause. »Eines Tages trocknet man sich die Hände ab und sieht am Spiegel eine Ansichtskarte stecken. Man tritt näher: eine Stadt. Eine Stadt! Warum ist einem das nicht schon früher aufgefallen? Man ist wie im Fieber. Man zieht sich aus bis aufs Unterhemd und wäscht sich kalt. Man zittert vor Gier, als man zum Schrank geht und sich ein frisches Hemd anzieht. Jemand sagt was zu einem, sagt wieder was, aber man ist nicht mehr ansprechbar. Man ist nicht mehr ansprechbar! In die Stadt! In die Stadt gehen! Alles stehen und liegen lassen, alles von einem wegrücken, in den Anzügen nach einem frischen Taschentuch und vergessenem Kleingeld suchen! Plötzlich ist alles in Bewegung geraten, springt einem ins Auge, wechselt die Farbe, steht einem im Weg. Alles steht einem im Weg! Man läßt das Handtuch mit seinen schmutzigen Fingerabdrücken zurück und geht durch die Tür hinaus ins Freie. Es ist, als sei man aus dem Fenster gesprungen! In die Stadt gehen! In die Stadt! Hat man nicht auch schon früher mit angehaltenem Atem hinschauen müssen, wenn von draußen der Briefträger langsam die Ansichtskarten durch den Türspalt ins Zimmer schob? In die Stadt! Warum ist einem die Stadt nicht schon früher aufgefallen?« Die Stimme eines zweiten Mannes sagt nach einer Pause: »Und was für eine Erleichterung, nichts in der Hand zu haben, wenn man in einen Bus einsteigt! Einfach hineingehen und sich irgendwo hinsetzen können, ohne sich erst nach dem Gepäcknetz strecken zu müssen und ohne daran denken zu müssen, daß man etwas vergessen könnte! Nichts mehr, was man vergessen könnte! Welche Erleichterung! Und welche Erleichterung, aus, sagen wir, Kanada zu kommen und mit dem Greyhound in den Süden zu fahren. In Grantville ankommen und aussteigen und sofort über den Rasen auf eine Frau zugehen und mit der Frau auf ihr Zimmer gehen! In einem Hotel in Memphis ohne Grund den Mann in der Snack-Bar mit Senf bespritzen! Was ist anders hier? Ist etwas anders? Was hat sich verändert? Alles! Alles? Alles! Alles hat sich verändert, weil man plötzlich alles anders will. Die Ansichtskarte am Spiegel hat genügt; aber auch ein Perlonstrumpf am Straßenrand hätte genug sein müssen. In den Bus steigen; den Bus abfahren lassen; alles geschehen lassen; und endlich aufhören, unruhig zu sein!« Die Kamera fährt langsam zurück und gibt den Blick auf zwei Männer in langen Mänteln frei, die mit dem Rücken zur Kamera neben einem amerikanischen Auto auf einer Anhöhe stehen und stumm auf die Stadt hinabschauen. Die beiden vorderen Wagentüren sind weit offen. Die Kamera hält an, und man sieht die Männer in dem Bild eine Zeitlang still dastehen.

img_42781_01_004_Band09_Text051_abb04_b4

»In die Stadt gehen!«

 

 

4

Fahrendes Auto. Tag. Gerade Straße. Blick zur Seite hinaus. Tankstellen. Immer mehr Schilder am Straßenrand. Ein Motel. Ein Drive-in-Kino. Sie fahren nicht allzu schnell, lassen sich überholen. Ein Wegweiser: SAN ANTONIO 154 miles; im rechten Winkel dazu: EL PASO 386 miles. Ein großes Schild: SAN FERNANDO COUNTY WELCOMES YOU. Immer mehr Reklameschilder, COKE, BOURBON, TEQUILA, SEVEN UP; HILTON SAN FERNANDO, HERTZ RENT A CAR, SAN FERNANDO INSURANCE BANK, SAN FERNANDO PLAYBOY CLUB, DESERT INN SAN FERNANDO, SAN FERNANDO TRAVEL AGENCY, NIGHTCLUB NEBRASKA SAN FERNANDO, HARWOOD OIL COMPANY SAN FERNANDO, LONE STAR CEMENT CORPORATION SAN FERNANDO, VOTE SENATOR PAUL VINCENT HARWOOD, Visit SAN FERNANDO TRADE FAIR; und schließlich das Ortsschild SAN FERNANDO selber, und ein Wegweiser: DOWNTOWN, dem das Auto folgt. Abblende.

 

 

5

Eine Snack-Bar am Nachmittag, halbtotal. Die beiden Männer sitzen bei Coca-Cola an einem Tisch vor der Rückwand der Bar, und man schaut ihnen zu, wie sie auf die Straße hinausschauen. Links ein Ausschnitt der Theke, hinter der eine blonde Kellnerin sitzt und fast bewegungslos »Harper's Bazar« anschaut, daneben im Hintergrund eine beleuchtete, aber nicht bespielte Musicbox, rechts an der Rückwand ein Spielautomat mit Hawaiipalmen, der zwar eingeschaltet ist und heftig funkelt, aber ebenfalls nicht bespielt wird. An der Rückwand Getränkeschilder: COKE, SEVEN UP, GINGER ALE, CANADIAN TONIC; sowie in einer Reihe herunter auf einem großen Pappschild Bilder der Snacks: schön gezeichnete HAMBURGERS, CHEESEBURGERS, HOT DOGS, HAM AND EGGS … Auf allen Tischen, die im übrigen sonst unbesetzt sind, große Aschenbecher mit der Aufschrift: MARTINI; daneben große Ketchupflaschen, ebenfalls mit einer deutlichen Aufschrift: HEINZ