Peter Handke

Das Ende des Flanierens

Suhrkamp Verlag

Die Texte in diesem Buch sind Gelegenheitsarbeiten. Aber ich kann für die Worte einstehen und vertraue darauf, daß eine Sache die andere gibt.

P. ‌H.

Métro Balard-Charenton

Bei Sonnenuntergang stieg ich ein

an Motte-Piquet-Grenelle

An Bonne Nouvelle hörte ich auf

das pariscop zu durchblättern

An der Station Filles du Calvaire

war der Flüssigkeitsautomat leer

An Daumesnil waren in einer Vitrine Schuhe ausgestellt

Vor der Porte Dorée sah ich noch Licht

durch einen Schacht kommen

In Charenton-Ecoles

‒ Mündung der Marne in die Seine ‒

war es schon Nacht

Im hellen Westen irgendwo

spielte Young Mr. Lincoln

Der Maler Peter Pongratz

1

Manchmal hat man von jemandem noch nichts gehört, den man kennenlernt. Von Peter Pongratz hatte ich schon gehört, bevor ich ihn kennenlernte. Ich sah ein Photo von ihm in einer Studentenzeitung, und seine selbstverfaßte Biographie dazu war recht anregend. Er war in verschiedenen Berufen und beim Bundesheer tätig, seine Größe war, glaube ich, 185, er trug eine Brille. Es war in der Zeitung auch ein Werk von ihm, aber ich kann mich an keinen Eindruck erinnern.

Dann sprach jemand von ihm, der einen Maler kannte, der Peter Pongratz kannte und viel von ihm hielt, weswegen auch der, der den Maler kannte, viel auf Peter Pongratz hielt. Ich weiß nicht, wie ich ihn dann kennenlernte, es muß wohl bei einer kulturellen Veranstaltung des Forum Stadtpark gewesen sein. An meinen ersten Eindruck kann ich mich nicht erinnern, zwei, die Brillen tragen, können einander meist auf den ersten Blick nicht so sehr leiden. Kurz, wir sahen einander dann oft genug, manchmal hatte er die Haare länger, dann wieder kürzer. Er trug auch eine Lederkappe, wie die ersten Autokavaliere, auf manchen Bildern ist er damit zu sehen.

Wie kommt man mit jemandem zum Reden? Oft ist es so, daß man mit drei Leuten dasitzt, und dann geht einer weg, und es ist peinlich, wenn man dann nichts sagt. Ich habe damals im Forumkeller meinen Roman (Die Hornissen) abgetippt, und Peter Pongratz hat im Forum gearbeitet, Lithos gedruckt. Der erste Satz von ihm, an den ich mich erinnere, handelt von den Alpenbewohnern. Er bemerkte, in den Alpenbewohnern stecke etwas Heidnisches. An mehr erinnere ich mich nicht. Es war damals kurz vor Weihnachten.

Richtig ins Gespräch miteinander sind wir erst gekommen, als wir Unsinn redeten. Das war in Innsbruck, noch dazu im Mai, Herr Dr. Breicha, der diese Geschichte über Peter Pongratz angeregt hat, war auch dabei, es fand ein kulturelles Treffen statt. Noch vor Innsbruck war etwas geschehen, Peter Pongratz hatte sich in der Bürgergasse in Graz totschießen lassen. Ich weiß noch genau, daß es am 12. März war, ungefähr um Mitternacht. Er war der erste in Graz, der sich totschießen ließ. Ich glaube, er sagte damals, er würde jetzt die Straße hinunterlaufen, und jemand sollte mit einer MP hinter ihm herfeuern. Er lief also hinunter, der Schauspieler Ulrich Hass legte an, und die Kugeln rissen Peter Pongratz mitten im Laufen sehenswert nach hinten, besser als in japanischen Filmen. Es war elementar.

In Innsbruck, bei einer ähnlichen Geschichte, erschoß er dann einen andern, aber die Polizei schritt ein. In Innsbruck haben wir dann richtig miteinander geredet, auch über Malerei. Er hat sich ein Buch von dem Alpenmaler Joseph Anton Koch gekauft, ich habe mir einen Ullstein-Krimi von Raymond Chandler gekauft und ihm von dem Privatdetektiv Philip Marlowe erzählt, der ein ganzer Mann ist und ein einfacher und doch ungewöhnlicher. Er ist einsam, und es ist sein Stolz, daß man auf seinen Stolz Rücksicht nimmt. Er ist so hellwach, daß es fast erschreckend wirkt. Aber das gehört zu ihm, weil er zu der Welt gehört, in der er lebt. Wenn es mehr solcher Männer gäbe, würde es ungefährlich sein, in dieser Welt zu leben, und doch nicht so langweilig, daß man nicht in ihr leben möchte.

So sah der Autor jedenfalls seinen Helden. Wir redeten über Marlowe und hatten etwas zu reden. Wir waren dort auch in dem Wildwestfilm Comancheros.

Ich bemerkte, daß Peter Pongratz zwar recht rüde ist, doch auch außerordentlich höflich. Der Welt steht er unbefangen und ziemlich naiv gegenüber. Wenn er meint, Zusammenhänge zwischen Gegenständen erkannt zu haben, erzählt er ziemlich ernst und stolz davon. Zum Beispiel erkennt er immer mehr, was es mit den Frauen als Gattung auf sich hat. Seine Gedanken sind eher irrational, unvernünftig, aber man weiß, daß sie seine Wahrheit sind. Obwohl ungeordnet, bilden sie, wenn man sich mit ihnen beschäftigt, eine komplizierte Ordnung, jedenfalls eine kompliziertere und reizvollere als einen logischen Satz oder ein geometrisch übersichtliches Bild. Ihm scheint nichts rechtwinklig oder gerade zu sein. Mag andern die Welt klar und zu Linien abstrahierbar vorkommen, seine Welt ist wirr, überschneidet sich in den Bestandteilen, hat mit der »Wirklichkeit« nichts zu tun, zeigt viel mehr die eigene Wirklichkeit. Was er malt, ist nicht die Wirklichkeit, sondern die Wirkung dieser Wirklichkeit in ihm. Er ist, glaube ich, davon überzeugt, daß seine Arbeiten Bilder von seiner Wirklichkeit sind, also wahre Bilder. Deswegen ist er seiner Sache sicher, urteilt über fremde Arbeiten auch recht radikal, findet grundsätzlich alle Bilder schlecht, die ihn nicht an sein Bild von der Welt erinnern. Er erkennt sich im Unüberschaubaren, im Verschlungenen, im Kontrast starker und zarter Linien, im Nichtkomponierten, im »Irren«.

Damals in Innsbruck hat er mir auch zum ersten Mal von seiner Neigung zur Malerei der Schizophrenen erzählt. Es ist wohl das überraschende Ausgleiten des auf den ersten Blick scheinbar logischen Bewußtseins, das ihn so anzieht. Eine Ordnung wird vorgetäuscht, die sich plötzlich durch eine Linie verirrt. An einem Bild, das scheinbar die Wirklichkeit wiedergibt, ohne Änderung, ist plötzlich ein Haken, der die richtige Wirklichkeit, die des einzelnen, des Kranken, zeigt. Dieser Haken ist eine irreale Farbe oder eine irreale Linie oder eine irreale Anordnung real abgebildeter Gegenstände. Wie der Schizophrene nicht Bilder von der Wirklichkeit, sondern von sich zeichnet, so gibt auch Peter Pongratz Bilder von seinem Bewußtsein. Mit dem Unterschied, daß er sie geben will. Was er zeichnet, ist zwar gegenständlich, aber sein Gegenstand ist das Bewußtsein von den Gegenständen. Er malt Eindrücke und nicht den Gegenstand, der den Eindruck in ihm bewirkt. Er ist wohl recht leicht zu beeindrucken. Freilich kommt es auf die Reizstärke des Gegenstands an. Er malt, was er gerne hat oder auch gar nicht gern hat. Die meisten Gegenstände reizen ihn wohl nicht. Die Sängerin und Schauspielerin Julie London schätzt er und hat sie öfter gezeichnet. Ich hoffe, er mag auch die Beatles noch so wie damals, als wir uns zuletzt sahen (wir wohnen jetzt zu weit auseinander). Er wollte sich auch die Haare lang wachsen lassen, aber sie kräuseln sich zu sehr, wie er mir sagte. Er mag Märchen, mag wohl überhaupt alles, was es eigentlich nicht geben kann. Er hat mir damals den Film über die Brüder Grimm empfohlen. Auch das Buch Alice im Wunderland hat er mir geliehen. Seine Thematik ist sehr von der reproduzierten sekundären Welt der Literatur, des Films, der älteren Malerei beeinflußt.

Wir sind dann in Graz auch einige Male gemeinsam ins Kino gegangen, und wir konnten sehr gut miteinander reden, glaube ich, obwohl kaum etwas dabei herausgekommen ist. Er ging auch eine Zeitlang mit Arm- und Schulterbewegungen wie James Bond herum. Sooft er Geld bekam, kaufte er sich zum Beispiel Socken und Anzüge. Auf einem Photo ist er mit dem berühmten fast knielangen Rock zu sehen, er ist ziemlich modebewußt, trägt nur englische Schuhe mit sehr runden Kappen, was in einer Rauferei nicht sehr nützlich ist, aber mit sehr hartem Leder, was den Nachteil wieder ausgleicht.

Was mir noch einfällt: Er ist fasziniert von der Grausamkeit, mag aber selber nichts damit zu tun haben. Er ist verrückt nach der möglichen Grausamkeit, schrickt aber vor der wirklichen zurück: Er freut sich bei grausamen Szenen in Wildwestfilmen wie ein Kind, erfindet auch die grausamsten Geschichten, bis man sie grausamer gar nicht denken kann. Das zeigt, wie sehr er mit den Möglichkeiten der Wirklichkeit spielen kann, wie gern er das tut: spielen. Und indem er mit den äußersten Möglichkeiten spielt und sich daran freut, überspielt er diese auch, überspielt die sogenannte wirkliche Grausamkeit. Ehrlich gesagt ist es ein Unsinn, daß ich Peter Pongratz erkläre. Soweit ich das tue ‒ ich habe das gerade bemerkt ‒, erkläre ich nur das, was auch auf mich selber zutreffen könnte, und alles andere ist mir fremd. Über Äußerlichkeiten kann ich schreiben, das andere ist nicht wirklich er, sondern mein Eindruck von ihm, soweit ich mich selber kenne.

Zum Spaß habe ich ihn einmal gefragt, ob er eigentlich Bilder male. Er hat das mißverstanden und geglaubt, ich fragte ihn, warum er male. Er war ganz schön zornig, die Frage, wie er sie mißverstand, ist ja auch nicht die gescheiteste. Ich fragte ihn: Malst du eigentlich Bilder? Ich glaube nicht, daß Peter Pongratz Bilder malt, die von einem Gegenstand in seinem Bewußtsein schon bestehen, sondern daß das Bild von dem Gegenstand bei ihm erst entsteht, während und dadurch, daß er malt. Er malt nicht Bilder, die es schon in ihm gibt, sondern er macht die Bilder erst beim Malen. Deswegen ist seine Arbeit »unwirklich«, bedingungslos egoistisch, nichtreflexiv, nichtkontemplativ, verwirrt und verworren, unmittelbar, anfang- und endlos, spontan und konzentriert, nicht so sehr Bild, sondern Geschichte: Seine Bilder deuten an, was in ihm vorging, während er malte. Sie zeigen die Geschichte des Malens, eine schwierige, formal peinlich kontrollierte, dichte, assoziative Geschichte eines Bewußtseins zu einer bestimmten Zeit.

(1966)

2
 
Peter Pongratz und Walter Pichler

Es ist jetzt zehn Jahre her, daß ich Peter Pongratz kenne. Obwohl wir uns während dieser langen Zeit oft gesehen haben, manchmal auch durch Tage, Nächte und Wochen zusammen waren, in verschiedenen Städten, in verschiedenen Ländern, einmal auch nebeneinander schliefen in den Ehebetten eines zu einem Atelier erklärten Bauernhauses im südlichen Burgenland, wo die Decke sehr niedrig war und die kleinen Fenster am Morgen von innen beschlagen waren, ist unser Umgang miteinander völlig sachlich geblieben. Was wir taten, waren zwei Welten, und der eine trat jeweils mit einer ruhigen Neugier vor die Welt des andern, ohne sich aber hineinzubegeben. Es war Vertrautheit und Distanz zugleich, und so konnten wir über die gegenseitige Arbeit reden, wegen der Vertrautheit vielleicht kritisch, wegen der Distanz aber nie, wie etwa bei sogenannten Künstlerfreundschaften, gereizt. Diese Gespräche sind in der Regel Fragen und Gegenfragen gewesen. Wir waren begierig zu erfahren, mit welchen Vorstellungen zum Beispiel der andere zu arbeiten anfing und auf welche Weise sich während der Arbeit die Vorstellungen änderten oder auch zerstört wurden. Ich erfuhr, daß zwar nicht Malen und Schreiben vergleichbar waren, wohl aber die Schemata fürs Schreiben und Malen: Die ähnliche Arbeit bestand darin, um diese Schemata, die jedes Wort und jeden »Pinselstrich« ansaugen wollten, mit vollem Bewußtsein, aber auch vollem Gefühl herumzukommen. (Eine Zeitlang hatten wir die Schemata, obwohl wir sie erkannt hatten, BENUTZT, als Zitate, als Kürzel, hatten sie hingestellt als Mal- oder Redewendungen; seit einiger Zeit sind auch die Zitate bloße Wendungen geworden. Die Ritzen, wo die Welt noch nicht abgedichtet ist, werden immer seltener.) Weil die Arbeit vergleichbar war, konnte man also darüber reden.

Es gibt eine mögliche Erklärung dafür, daß das Verhältnis zwischen Peter Pongratz und mir so sachlich geblieben ist. In einem Aufsatz zu Zeichnungen Walter Pichlers erzählt Max Peintner das Leben Pichlers, von seiner Geburt in einem bäuerlichen Handwerkerhaus Südtirols an bis jetzt. Er erzählt es so einfach, daß er gar nicht erst mit den beliebten Begriffen eine Beziehung »zwischen Leben und Werk des Künstlers« herstellen muß ‒ sie leuchtet schon aus der Erzählung des Lebens, während der man sich ganz selbstverständlich an eine Zeichnung Pichlers erinnert, wo er sich als Erwachsener in eine Laubhütte hineinzeichnet, die er als Kind gebaut hat: die Füße ragen weit aus der Laubhütte heraus. So eine selbstverständliche Einheit zwischen Biographie und Werkverzeichnis ergibt sich bei Peter Pongratz nicht oder jedenfalls viel schwerer. Die bäuerliche Welt Pichlers ist mir vertraut. Es ist eine Welt aus so wenig Dingen, daß man sich an diese Dinge als an Zeichen erinnert, an BILD-Zeichen, und diese Zeichen (die Laubhütte, der Sitzplatz vor dem Haus, ein Mann, der auf einer Wagenachse sitzt, ein Holztrog), die füllen in der Erinnerung die ganze Welt aus. Peter Pongratz stammt aus einer bürgerlichen Familie und ist in der Stadt aufgewachsen. Es war eine Welt ohne Bilder, aber voll von Gemälden. Es gab nichts zu sehen ‒ dafür aber überall was zum Blättern und zum ANSCHAUEN. (Ich erinnere mich gerade, mit welcher Gier ich als ein Kind, das in einem gemälde- und bücherlosen Haus lebte, in einem Arzthaushalt das Bild mit dem Tod anstarrte, der eine nackte Frau umklammert, und wie ich stundenlang in demselben Haushalt, ohne einmal aufzuschauen, in die Comic-Hefte des Arztkindes vertieft war.) Bilder gab es in der bürgerlichen Umgebung nur an der Wand oder in Büchern. Wenn man aufschaute, war nichts Besonderes zu sehen, weil alles für einander da war. Nichts stand für sich allein, nichts war ein Zeichen wie die Laubhütte, nicht einmal in der Erinnerung; statt Zeichen Bildergerümpel. »Fürs Auge« blieben eigentlich nur die Bildtafeln in den Biologie- und Geologiebüchern. Aus beidem, einmal aus dem Bildergerümpel, dann aus den Bildtafeln der Lehrbücher, hat sich jetzt, aus der Erinnerung, Pongratz die Bilder und Zeichen selber hergestellt, die ihm gefehlt haben. Und gerade die Kombination ‒ Lehrtafeln und Schlafzimmerlandschaften ‒ macht seine Arbeiten bezeichnend. Sie sind keine Gemälde, sondern Bilder von Gemälden: persönliche Bilder von etwas ganz Entpersönlichtem, und deswegen traue ich mich zu schreiben, daß sie, in den besten Fällen, mehr sind als nur etwas fürs Auge. Sachlich ist mein erster Blick auf seine Bilder ‒ weil meine Bilder andre sind und meine Erinnerungen andre sind. Ich habe meine Bilder schon gehabt, er macht sie sich erst, malt sie sich aus; daher vielleicht das so ordentlich Ausgemalte, das Gemäldehafte an seinen Arbeiten ‒ während für das Zurückrufen der erlebten Bilder bei mir die bloßen Zeichen Pichlers das richtige sind. (Unvorstellbar, die Laubhütte als ausgemaltes Gemälde zu sehen.) Aber: genügen die erlebten Bilder? Jetzt denke ich, daß man nicht sein Leben lang mit ihnen auskommen kann; man wird erinnerungsselig nur mit ihnen, ruft sie sich vor Augen, wie man alte Schlager summt. Ich brauche neue Bilder. So verliert sich oft nach dem ersten Blick das Literarische aus den Arbeiten von Peter Pongratz, und statt sie anzuschauen, fange ich zu schauen an. Wo ich früher wohnte, hing an der Wand ein Bild von Pongratz, das, mit anderen Farben und auch größer, das bekannte Motiv des Schutzengels darstellt, der ein Kind über einen Bachsteg führt. An vielen Nachmittagen bin ich davorgesessen, und der Himmel auf dem Bild war immer ein Nachmittagshimmel. Und wenn es draußen zu dämmern anfing, hat es auch auf dem Bild geheimnisvoll zu dämmern angefangen, und am Abend war der Himmel auf dem Bild ein Abendhimmel geworden. Der Bach, über den das Kind geführt wurde, hat geschimmert, als ob man sich an die Dunkelheit schon gewöhnt hätte.

(März 1974)

Österreich und die Schriftsteller
(am Beispiel Franz Nabls)

Dem Gedächtnis an Alfred Holzinger

1

In Österreich ist der Umgang mit den Schriftstellern sehr äußerlich ‒ das heißt, man wird als Schriftsteller nur dann eine öffentliche Person, wenn auch die Privatperson interessant wird oder sich interessant macht. Und interessant für die Öffentlichkeit ist man dann nicht als Schriftsteller, als jemand, der für andere die verdrängten und unterdrückten Wünsche und Befürchtungen seiner Epoche oder auch nur seiner gehüpften wie gesprungenen Tage formuliert, sondern als eines unter vielen bekannten Gesichtern aus Presse und Fernsehen. Für die Öffentlichkeit ist er austauschbar mit einem Kammersänger, einer Skifahrerin, einem Diskussionsleiter und der Schimpansin Judy aus Daktari ‒ man umwieselt ihn als eine Figur aus der Schauwelt, egal, welche Art von Arbeit ihn in diese Schießbudenumgebung ausgesetzt hat, in der er sich fremd fühlt und die er doch ein bißchen auch zu brauchen glaubt, weil er das, was er schreibt, zur öffentlichen Sache machen will. Aber die öffentliche Sache, das ist dann eben nur er und nicht einmal er selber, sondern zum Beispiel seine schmutzigen Fingernägel oder sein offenes Hemd … Der hysterische Patriotismus eines kleinen Landes formalisiert alle verschiedenen einzelnen zu EXPORTARTIKELN, zu BOTSCHAFTERN DES LANDES draußen in der Welt, ohne sich um irgendeinen Inhalt zu scheren. »Österreicher im Ausland« heißen die Rubriken in den Zeitungen, und da werden dann, wie in Heimatblättern die Leistungen der heimischen Eisstockschützen im Nachbardorf, die Taten und Untaten des Kulturexports vorquinkeliert. Aber die Schriftsteller als eine Gruppe bestimmter Staatsbürger, an deren Arbeit man das eigene Leben ablesen, auslegen und anders sehen könnte, gibt es nicht im österreichischen Bewußtsein. Und auch die verehrten Schriftsteller von früher sind nur noch Zitatfiguren und Reliquien. Man benutzt ihre Namen, um sie gegen die jetzigen, die man nicht kennt, auszuspielen oder um einen der jetzigen, indem man ihn schnell mit ihnen vergleicht, ebenfalls als Reliquie einzufrieren. Das austriakische Gerede von Tradition ist das Gestammel von Geschichtslosen. Geschichte: das selbstverständliche Hineinwirken eines Bewußtseins von früher in meines jetzt, die Neugier, Ferdinand Kürnberger oder Marie von Ebner-Eschenbach so zu lesen, wie man in eine alte Vorstadtstraße kommt, die sich seit langem nicht geändert hat, wo man aber die Kondensstreifen der Düsenflugzeuge am Himmel sieht oder aus den Häusern am hellichten Tag die Fernseher mit einem »Messeprogramm« laufen hört … Die Tradition dagegen: das Abstauben eines Museumsgegenstands durch einen stumpfsinnigen Museumsdiener. (Lieben Museumsdiener die Bilder, die sie bewachen? Wer hat schon eines mit nach Hause genommen?) Für diese geschichtslose Traditionshuberei ist sicher der Nationalsozialismus verantwortlich, der aus den Gegenständen der Geschichte, an denen man vernünftig sich selber begreifen konnte, begrifflose, verdinglichte Monumente der Tradition machte. Und schuld daran ist auch die Zirkelhuberei der österreichischen Schriftsteller, wobei immer ein Zirkel einen Poeten für sich in Anspruch nimmt, worauf der andere Zirkel den Poeten auch schon nicht mehr zur Kenntnis nimmt.

In keinem Land treten die Schriftsteller einander so sehr als Feinde gegenüber wie in Österreich. Und wenn schon einmal ein paar befreundet sind, dann bilden sie, statt ihr Wahrnehmungsvermögen als einzelne freizuhalten, gleich eine Gruppe und treten als Gang mit einem genormten Wahrnehmungsschema auf, das vielleicht für eine politische Partei angemessen ist, nicht aber für Schriftsteller, für die es keine vorgegebene Erkenntnis, nichts Selbstverständliches, nichts in den Mund Gelegtes und bereits zu Ende Gedachtes geben darf. So stellt sich die österreichische Literatur nicht als eine Gruppe freier Schriftsteller dar, die, freundlich und vernünftig, vielleicht auch ein bißchen neidisch ‒ warum nicht? ‒, schreibend eine mögliche Lebensform in der Gesellschaft vorführen, sondern eher als ein animalisches Gewimmel von Erniedrigten und Beleidigten. Fast zu Recht nimmt die Öffentlichkeit dann eben nur das Gewimmel wahr. Es mußte zum Beispiel Franz Nabl, ein wichtiger österreichischer Schriftsteller (Ödhof, Die Ortliebschen Frauen), nahezu neunzig Jahre alt werden, damit er als Schriftsteller aus der Gruppe heraus, die ihn in raunenden und raunzenden Literaturgeschichten von uns jüngeren Autoren abschirmte, auf uns zutrat und auch einer von uns wurde. Ich selber hielt Nabl, nach dem, was man über ihn schrieb und sagte, für einen, der jemandem wie mir nichts mitzuteilen hatte, vor allem nichts mitteilen wollte. Freilich wirkte das, was ich vor Jahren von ihm gelesen hatte, geheimnisvoll, wie ohne mich, nach und wurde immer stärker. Ich dachte oft an ihn und war bedrückt, daß die, die jemanden verehrten ‒ seine »Anhänger« ‒, ihn auch so behüteten, daß sein Werk fast erstickte. In der Erzählung »Der kurze Brief zum langen Abschied« zitierte ich ihn dann unverschämt aus der Erinnerung, indem ich meine eigene Kindererfahrung beschrieb, die Umwelt würde auf einmal platzen und die Umgebung, das Wetter, die Sonne usw. wären plötzlich ein Ungeheuer ‒ das aber, erinnerte ich mich, war auch das Grunderlebnis Franz Nabls … Vor ein paar Monaten sah ich ihn dann selber, in seinem Haus in Graz mit der schönen, im Lauf der Zeit hell abgeschrubbten Holztreppe. Wir tranken viel Vogelbeerschnaps, bis ich in seinem Garten ins Gras fiel. Auf seinem Balkon las ich die Vorlesungen, die er 1933 in Graz über moderne Literatur gehalten hatte, und staunte über die Freundlichkeit und die Selbstlosigkeit, mit der er auch Autoren, die ihm fremd sein mußten, zu Recht kommen ließ. Ich betrachtete Franz Nabl und wurde lebhaft vor diesem alten Menschen, obwohl ich vorher Angst gehabt hatte, ich könnte nichts sagen. Ich redete sehr viel und wurde eigenartig stolz auf ihn, als ich daran dachte, daß er sein ganzes Leben als Schriftsteller verbracht hatte und daß er jetzt voll Güte und Würde mir zuhörte und mit mir anstieß. Er hatte meinen Freunden und mir die bequemsten Sessel angeboten und saß selber auf einem Hocker ohne Lehne. Zuerst wollte ich ablehnen, aber dann fand ich es recht, ich weiß nicht, ob das jemand versteht. Wir sollten uns an die einzelnen Schriftsteller halten und an ihre Arbeiten.

(1972)