Peter Handke
Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt
Suhrkamp Verlag
» ‒ und in dieser zitternden Minute knisterte der Monatszeiger meiner Uhr …«
»… da allemal deine äußere und deine innere Welt sich wie zwei Muschelschalen aneinanderlöten und dich als ihr Schaltier einfassen …«
»Keine Antwort, überall Stille im Gasthof ‒ das ganze Zimmer voll Mondschein ‒ …«
Jean Paul
1966
in Bayreuth
vor einer Aufführung der Oper »Tristan und Isolde«
steckte ich
auf einem Parkplatz
zum ersten Mal
eine Münze
in einen Parkautomaten:
das war eine neue Erfahrung für mich
und weil man stolz ist
auf neue Erfahrungen
war ich stolz
auf die neue Erfahrung;
Ich fragte mich:
»Wann habe ich zum ersten Mal eine Tür mit eigenen Händen geschlossen?
Und wo habe ich zum ersten Mal in einem Stück Brot eine Ameise mitgegessen?
Und unter welchen Umständen habe ich Wasser zum ersten Mal dampfen sehen?
Und wo habe ich zum ersten Mal unter einem Zellophansack keine Luft mehr gekriegt?
Und wann habe ich zum ersten Mal einen Brief Express aufgegeben?«
Einmal
in welchem Jahr?
erwachte ich
zum ersten Mal in einem fremden Raum
und bemerkte zum ersten Mal
daß ich in einem Raum war.
Einmal
an welchem Ort?
rief mich jemand
‒ »Schnell! Schnell!«
zu sich
über einen Weg
und als ich zurückrief
‒ »Ja! Ja!«
und dann lief
und dann ankam
bemerkte ich zum ersten Mal
daß ich
früher als ich ankam
gelaufen war.
1948
an der bayrisch-österreichischen Grenze
im Ort Bayrisch-Gmain
»in einem Haus mit welcher Nummer?«
sah ich
auf einem Bettgestell
unter einem Leintuch
hinter Blumen
zum ersten Mal
einen Menschen der tot war.
In Österreich
später
»Wann?«
Ich weiß nicht
»Unter welchen Umständen?«
Als ich einmal aufschaute
und die Mutter erblickte
die in einiger Entfernung
»In welcher Entfernung?«
In Entfernung von mir
am Tisch stand
und bügelte
überkam mich
weil ich sie dort
erblickte
zum ersten Mal
Scham
so daß der Abstand
zum Tisch
ein Schamabstand wurde.
1952
im Sommer
als ich
(vom Leichenschmaus zum Andenken an die gerade beerdigte Großmutter nach Hause geschickt, um einem Trauergast die vergessenen Zigaretten zu holen)
den leeren
stillen
Raum
betrat
in dem die Tote
drei Tage lang
aufgebahrt war
und
in dem stillen
leeren
Raum
nichts erblickte
als eine kleine schmutzige Lache
aus einer Vase
auf dem Fußboden
hatte ich
zum ersten Mal
im Leben
Angst
vor dem Tod
und nur weil man sagte
daß es einem in der Todesangst
kalt über den Rücken rinnt
konnte ich mich
indem ich mir
zum Schutz
die Worte die man sagte vorhielt
der Todesangst
noch einmal
erwehren.
Später
sah ich
(nachdem ich immer von gefährlichen Irren gehört hatte)
zum ersten Mal
einen ungefährlichen Irren:
verschüttete ich zum ersten Mal
Coca Cola
in den Schnee
an der Großglockner-Hochalpenstraße:
sah ich zum ersten Mal
in einem Film
auf den Befehl: Hände hoch!
einen Einarmigen
die Hand
heben:
sah ich
zum ersten Mal
eine Schaufensterpuppe
mit Brillengläsern:
hatte ich
(als ich mich aussprechen sollte)
zum ersten Mal
keinem mehr etwas zu sagen.
Jetzt frage ich mich:
Wann werde ich zum ersten Mal von jemandem hören, der einen Regenschirm mit in den Tod nehmen konnte?
Heute
(obwohl es heißen könnte: »Ich sehe es wie zum ersten Mal«)
sehe ich
nicht zum ersten Mal
ein Bild
auf dem ein Vertreter der Obrigkeit
einem durch die Obrigkeit Vertretenen
nachsetzt
und nicht zum ersten Mal
lese ich davon
daß jemand so lange geprügelt wurde
bis er bereit war
auszusagen
daß er nicht geprügelt worden war
aber
wirklich zum ersten Mal
sehe ich heute
in der Straße in der ich wohne
vor dem Hotel Royal
auf dem Gehsteig
einen großen Fußabstreifer liegen
und sah vor einigen Tagen
zum ersten Mal
das Innere einer Rolltreppe
und sah
zum ersten Mal
einen gerade geangelten Fisch
in der Faust
eines Königs
und sah
zum ersten Mal
zum ersten Mal
den Kaffee
aus der Tasse
jäh überschwappen
auf das weiße Tischtuch
im Transeuropaexpress.
Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.
Wie das Hauptwort keine Zeit bildet, bildet das Hauptwort keine Leideform. Die Zeit ist ein Hauptwort. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Leideform.
Die Leideform ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Leideform. Da die Leideform ein Hauptwort ist, bildet die Leideform keine Leideform. Aus demselben Grund bildet die Leideform keine Zeit.
Wie das Hauptwort weder Zeit noch Leideform bildet, bildet das Hauptwort keine Möglichkeitsform. Die Zeit ist ein Hauptwort. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Möglichkeitsform.
Die Möglichkeitsform ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Möglichkeitsform. Da die Möglichkeitsform ein Hauptwort ist, bildet die Möglichkeitsform keine Möglichkeitsform. Aus demselben Grund bildet die Möglichkeitsform keine Zeit.
Das Hauptwort bildet keine Leideform. Die Möglichkeitsform ist ein Hauptwort. Da die Möglichkeitsform ein Hauptwort ist, bildet die Möglichkeitsform keine Leideform. Aus demselben Grund bildet die Leideform keine Möglichkeitsform.
Wie das Hauptwort weder Zeit noch Leideform noch Möglichkeitsform bildet, bildet das Hauptwort keine Person. Die Zeit ist ein Hauptwort. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Person.
Die Person ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Person. Da die Person ein Hauptwort ist, bildet die Person keine Person. Aus demselben Grund bildet die Person keine Zeit.
Das Hauptwort bildet keine Leideform. Die Person ist ein Hauptwort. Da die Person ein Hauptwort ist, bildet die Person keine Leideform. Aus demselben Grund bildet die Leideform keine Person.
Das Hauptwort bildet keine Möglichkeitsform. Die Person ist ein Hauptwort. Da die Person ein Hauptwort ist, bildet die Person keine Möglichkeitsform. Aus demselben Grund bildet die Möglichkeitsform keine Person.
Im Gegensatz zum Hauptwort bildet das Zeitwort Leideform, Möglichkeitsform, Person und Zeit. Das Zeitwort aber ist ein Hauptwort. Das Hauptwort aber bildet im Gegensatz zum Zeitwort weder Leideform noch Möglichkeitsform noch Person noch Zeit. Also auch das Zeitwort bildet keine Zeit.
»Ich möchte nach Stock.«
Sie fahren mit dem Fernschnellzug um 6 Uhr 2.
Der Zug ist in Alst um 8 Uhr 51.
Sie steigen um in den Schnellzug nach Teist.
Der Zug fährt von Alst ab um 9 Uhr 17.
Sie fahren nicht bis nach Teist, sondern steigen aus in Benz.
Der Zug ist in Benz um 10 Uhr 33.
Sie steigen in Benz um in den Schnellzug nach Eifa mit dem
Kurswagen nach Wössen.
Der Schnellzug nach Eifa fährt ab um 10 Uhr 38.
Der Kurswagen wird in Aprath abgehängt und an den
Schnellzug Uchte ‒ Alsenz gekoppelt.
Der Zug fährt in Aprath ab um 12 Uhr 12.
Ab Emmen fährt der Zug als Eilzug.
Sie fahren nicht bis nach Wössen, sondern steigen um in Bleckmar.
Der Zug ist in Bleckmar um 13 Uhr 14.
In Bleckmar können Sie sich umsehen bis 15 Uhr 23.
Um 15 Uhr 23 fährt von Bleckmar ein Eilzug ab nach Schee.
(Dieser Zug verkehrt nicht am 24. und 25. 12. und führt nur sonntags 1. Klasse.)
Sie kommen in Schee-Süd an um 16 Uhr 59.
Die Fähre nach Schee-Nord geht ab um 17 Uhr 5.
(Bei Sturm, Nebel und unvorhergesehenen Ereignissen kann der Fährverkehr ausfallen.)
Sie sind in Schee-Nord um 17 Uhr 20.
Um 17 Uhr 24 fährt vom Bahnhof Schee-Nord der Personenzug ab nach Sandplacken.
(Dieser Zug führt nur 2. Klasse und verkehrt nur an Werktagen und verkaufsoffenen Samstagen.)
Sie steigen aus in Murnau.
Der Zug ist in Murnau ungefähr um 19 Uhr 30.
Vom gleichen Bahnsteig fährt um 21 Uhr 12 ein Personen- und Güterzug weiter nach Hützel.
(In Murnau gibt es einen Warteraum.)
Sie sind in Hützel um 22 Uhr 33. (Diese Zeiten sind ohne Gewähr.)
Da der Personenverkehr von Hützel nach Krün eingestellt ist, nehmen Sie den am Bahnhofsvorplatz wartenden Bahnbus (ohne Gewähr).
Sie steigen aus in Vach gegen 1 Uhr.
Der erste Straßenbus von Vach geht ab um 6 Uhr 15.
(In Vach gibt es keinen Mietwagen.)
Sie sind in Eisal um 8 Uhr 9.
Der Bus um 8 Uhr 10 von Eisal nach Weiden verkehrt nicht in den Schulferien.
Sie sind in Weiden um 8 Uhr 50.
Um 13 Uhr geht der Bus eines Privatunternehmens von Weiden über Möllen-Forst-Ohle nach Schray.
(Nach Schray und Ohle fährt der Bus weiter nur nach Bedarf.)
Sie sind in Schray um 14 Uhr 50.
Zwischen Schray und Trompet verkehrt um diese Zeit ein Milchwagen, der bei Bedarf auch Personen befördert.
In Trompet können Sie gegen 16 Uhr sein.
Zwischen Trompet und Stock gibt es keine Kraftverkehrslinie.
Zu Fuß können Sie gegen 17 Uhr 30 in Stock sein.
»Im Winter ist es dann schon wieder dunkel?«
»Im Winter ist es dann schon wieder dunkel.«
Zuerst durch ein Maisfeld rennen.
Dann in der leeren Konzerthalle durch die Stuhlreihen laufen.
Dann nach dem Ende des Länderspiels sich durch den Haupteingang zurück ins Stadion drängen.
Bist du fähig, wenn du auf die Straße trittst, nur noch geistesgegenwärtig zu sein?
Bist du fähig, wenn du auf die Straße getreten bist, dich nur noch zu betätigen?
Bist du fähig, wenn der Entschluß gefaßt ist, keinen andern Entschluß mehr zu fassen?
Bist du fähig, nicht mehr Einzelheiten zu unterscheiden, sondern Bewegungen, nicht mehr Waagrechtes, sondern Aufrechtes, nicht mehr Menschliches, sondern Weiches?
Bist du fähig zu allem?
Wo versammeln sich Leute? ‒ Leute versammeln sich, wo sich schon Leute versammeln.
Wo versammeln sich Leute? ‒ Vor ausgehängten Zeitungen.
Wo versammeln sich Leute? ‒ Vor Verkehrsampeln.
Wo noch versammeln sich Leute? ‒ Vor Geldschaltern.
Wo noch? ‒ Vor Schaufenstern in Arbeit.
Wo noch? ‒
Vor zwei raufenden Hunden.
Vor Fleckputzmittelverkäufern.
Vor Hotelportiers, die auf die Straße treten.
Wo noch? ‒
Unter Markisen, wenn es unversehens zu regnen anfängt.
Es fängt zu regnen an. ‒ Es regnet noch zu wenig.
Wo gehst du hin? ‒ Zuerst stoße ich einen Obstkarren um und warte, bis genug Kinder herbeilaufen, um das Obst aufzuheben.
Und dann? ‒ Dann verkünde ich an der Straßenecke eine Frohe Botschaft und warte, bis genug Leute stehengeblieben sind.
Und dann? ‒ Dann warte ich, bis genug Leute für jemanden ein Spalier bilden.
Und dann? ‒ Dann stelle ich mich tot und springe auf, wenn ich genug Leute nach einem Arzt rufen höre.