Peter Handke

Versuch über die Jukebox

Erzählung

Suhrkamp Verlag

»Dar tiempo al tiempo«

Spanische Redensart

»And I saw her standing there«

Lennon/McCartney

 
 
 
 
 

In der Absicht, endlich den Anfang zu einem langgeplanten Versuch über die Jukebox zu machen, kaufte er am Busbahnhof von Burgos eine Fahrkarte nach Soria. Die Abfahrtsrampen waren in einem überdachten Innenhof; am Morgen, bei dem gleichzeitigen Aufbruch mehrerer Busse Richtung Madrid, Barcelona und Bilbao, waren sie noch bevölkert gewesen; jetzt, am frühen Nachmittag, stand allein der Bus nach Soria mit ein paar eher vereinzelten Passagieren und offenen, fast leeren Ladeluken in dem Halbkreis. Als er seinen Koffer dem draußen stehenden Fahrer, oder Schaffner?, übergab, sagte dieser »Soria!« und berührte ihn zugleich leicht an der Schulter. Der Reisende wollte noch etwas von der Örtlichkeit mitkriegen und ging bis zum Anlassen des Motors auf dem Bahnsteig auf und ab. Die Losverkäuferin, die seit dem Morgen durch das Gedränge zigeunert war, ließ sich in der Leere nicht mehr blicken; er stellte sie sich bei der Mahlzeit irgendwo neben der Markthalle von Burgos vor, auf dem Tisch ein Glas schwarzroten Weins und die Losbündel der Weihnachtslotterie. In dem Asphalt des Bahnsteigs war ein großer Rußfleck; der Auspuff eines inzwischen verschwundenen Busses mußte da lange hingeblasen haben, so dick war die schwarze Schicht, die gekreuzt wurde von den Spuren vieler verschiedener Schuhsohlen und Kofferräder: Auch er durchquerte nun diesen Fleck, eigens, um den Abdruck seiner Schuhe den anderen zuzufügen, so als könnte er damit für sein Vorhaben ein gutes Omen erzeugen. Das Seltsame daran war, daß er sich einerseits einredete, es handle sich bei jenem »Versuch über die Jukebox« um etwas Nebensächliches oder Beiläufiges, und daß er andererseits, wie üblich, angesichts des bevorstehenden Schreibens Beklommenheit empfand und unwillkürlich Zuflucht zu günstigen Vorbedeutungen und Winken suchte ‒ wenn er diesen dann auch keinen Augenblick vertraute, sich das vielmehr, wie jetzt, auf der Stelle verbot, mit dem Sichvorhalten einer Bemerkung über den Abergläubischen aus den Charakteren des Theophrast, die er unterwegs gerade las: Der Aberglaube sei eine Art der Feigheit vor dem Göttlichen. Doch immerhin, die Abdrücke dieser vielfältigen Schuhsohlen da, samt wechselnden Markenzeichen, einander überlagernd, weiß auf schwarz, und jenseits des Rußkreises gleich wieder verschwunden, waren ein Bild, das er mitnehmen konnte auf die Weiterfahrt.

Auch daß er den Versuch über die Jukebox gerade in Soria angehen würde, war schon länger geplant gewesen. Es war jetzt Anfang Dezember, und im Frühjahr zuvor war er während eines Flugs über Spanien auf einen Revuebericht von dieser abgelegenen Stadt im kastilischen Hochland gestoßen. Soria, durch seine Lage, fernab der Verkehrswege, seit geradezu einem Jahrtausend fast außerhalb der Geschichte, sei der stillste und verschwiegenste Ort der ganzen Halbinsel; es gäbe, im Stadtkern und auch außerhalb, alleinstehend im Ödland, mehrere Bauten, samt erhaltenen Plastiken, der Romanik; trotz ihrer Kleinheit sei die Stadt Soria eine Kapitale ‒ die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz; in Soria habe Anfang des 20. Jahrhunderts, als Französischlehrer, dann junger Ehemann, dann gleich schon Witwer, die Gegend in vielen Einzeldingen mit seinen Versen erscheinen lassend, der Dichter Antonio Machado gelebt; Soria, über tausend Meter hoch gelegen, werde an seinen Sockeln umflossen von dem hier sehr langsamen Oberlauf des Duero, an dessen Ufern ‒ vorbei an den von Machado, wegen der Nachtigallen, ruiseñores, in ihrem dichten Geäst, »tönend« genannten Pappeln (álamos cantadores) und zwischen den immer wieder sich zu Canyons verengenden Felswänden ‒ laut dem auch entsprechend illustrierten Bericht weite Wege hinaus in das Unberührte führten …

Mit dem Versuch über die Jukebox hatte er vor, sich die Bedeutung dieses Dings in den verschiedenen Phasen seines nun schon lang nicht mehr jungen Lebens klarzumachen. Dabei hatte kaum einer von seinen Bekannten, die er in den letzten Monaten ‒ als eine Art Marktforschungsspiel ‒ danach gefragt hatte, mit dem Gerät etwas anzufangen gewußt. Die einen, unter ihnen freilich auch ein Priester, hatten nur die Achseln gezuckt und den Kopf darüber geschüttelt, daß derartiges überhaupt von Interesse sein konnte, die anderen hielten die Jukebox für einen Flipper, wieder andere kannten nicht einmal das Wort und glaubten erst bei »Musicbox« oder »Musiktruhe« zu verstehen, was gemeint war. Gerade solche Unkenntnis und Gleichgültigkeit aber ‒ nach der ersten Enttäuschung wieder einmal, daß nicht alle die ähnlichen Erlebnisse hatten wie er ‒ reizten ihn um so mehr, sich auf den Gegenstand, oder den Vorwurf, einzulassen, zumal es schien, als sei die Zeit der Jukeboxen in den meisten Ländern und an den meisten Orten so ziemlich vorbei (auch war er selber vielleicht allmählich über das Alter hinaus, vor Automaten zu stehen und Tasten zu drücken).

Natürlich hatte er zuvor auch die sogenannte Literatur über Jukeboxen gelesen, freilich mit dem Vorsatz, das meiste davon auf der Stelle wieder zu vergessen; zählen beim Schreiben sollte vor allem der eigene Augenschein. Es gab dann ohnedies nur wenig darüber, und das Hauptwerk war wohl, jedenfalls bisher, der 1984 in Des Moines weit weg im amerikanischen Mittelwesten erschienene Complete Identification Guide to the Wurlitzer Jukeboxes, Verfasser: Rick Botts. Was der Leser von der Geschichte der Jukebox behalten hatte, war schließlich ungefähr folgendes: Zur Zeit des Alkoholverbots im Amerika der zwanziger Jahre wurden in den Hintertür-Wirtshäusern, den »Speakeasies«, zum ersten Mal auch Musikautomaten aufgestellt. Unsicher die Herkunft des Wortes »Jukebox«, ob von »Jute« oder von dem Verb »to jook«, das afrikanischen Ursprungs sein sollte und »tanzen« hieß. Jedenfalls trafen sich seinerzeit die Schwarzen nach der Arbeit auf den Jutefeldern im Süden an den sogenannten »jute points« oder »juke points« und hörten dort aus den Musikautomaten für einen Nickel Billie Holiday, Jelly Roll Morton, Louis Armstrong, welche von den Radiosendern, alle im Besitz der Weißen, nicht gespielt wurden. Das Goldene Zeitalter der Jukeboxen habe begonnen mit der Aufhebung des Alkoholverbots in den dreißiger Jahren, als überall Lokale entstanden; sogar in Geschäften wie Tabak- und Friseurläden gab es damals Plattenautomaten, wegen des Platzmangels dort nicht größer als die Kassen, neben diese auf die Theke postiert. Solche Blüte endete, fürs erste, dann mit dem Weltkrieg, als die Materialien der Jukeboxen, vor allem Plastik und Stahl, rationiert wurden. Holz ersetzte das Metall, und mitten im Krieg dann sei die Produktion völlig umgestellt worden auf Rüstung. So bauten die führenden Jukebox-Hersteller, Wurlitzer und Seeburg, damals Enteisungsanlagen für Flugzeuge und elektromechanische Teile. ‒ Eine andere Geschichte war die der Form der Musicboxen: Durch sie sollten diese »aus der nicht immer farbenfrohen Umgebung« herausstechen. Der wichtigste Mann des Hauses war demnach der Entwerfer: Während bei Wurlitzer die Grundstruktur etwa der Rundbogen war, so verwendete Seeburg in der Regel Rechteckgehäuse mit Kuppeln obenauf, wobei es ein Gesetz zu sein schien, ein jedes neue Modell dürfe nur so weit das vorhergegangene abwandeln, daß dieses darin noch klar zu erkennen war; derart sei einmal eine besonders neuartige Jukebox in Gestalt eines Obelisken, obenauf statt eines Kopfes oder einer Flamme eine Schale mit dem Lautsprecher darin, aus dem die Musik hinauf zur Decke schallte, zum vollständigen Mißerfolg geworden. Varianten der Form kamen daher fast nur bei den von der Box ausgesendeten Lichtspielen und den Rahmenteilen in Frage: Pfau im Zentrum des Geräts, immerzu die Farben wechselnd; Plastikflächen, bisher einfach farbig, nun marmoriert; Zierleisten, bisher falsche Bronze, nun verchromt; Randbögen, neu in Gestalt durchsichtiger Leuchtröhren, ständig von großen und kleineren Wasserblasen durchwandert, »gezeichnet Paul Fuller« ‒ wobei der Leser und Betrachter dieser Formengeschichte endlich auch den Namen von deren Haupthelden erfuhr, und merkte, daß er den, schon seit dem ersten Staunen damals, irgendwann vor solch einem in den Regenbogenfarben strahlenden mächtigen Ding in irgendeinem finsteren Hinterzimmer, unbewußt hatte erfahren wollen.

Die Busfahrt von Burgos nach Soria ging ostwärts über die fast leere Meseta. Es war, als seien, trotz der vielen freien Plätze, in dem Bus mehr Leute versammelt als irgendwo draußen in dem ganzen kahlen Hochland. Der Himmel war grau und diesig, die wenigen Felder zwischen Felsen und Lehm lagen brach. Ein junges Mädchen knackte und knabberte, wie sonst in den spanischen Kinos oder auf den Promenaden, mit ernstem Gesicht und träumerisch weiten Augen, ohne je einzuhalten, Sonnenblumenkerne, von denen zugleich ein Regen von Hülsen zu Boden fiel; eine Gruppe von Burschen mit Sporttaschen brachte immer neue Kassetten ihrer Musik nach vorne zum Fahrer, welcher sie bereitwillig, statt des nachmittägigen Radioprogramms, aus dem über jedem Sitzpaar befindlichen Lautsprecher schallen ließ; das eine alte Paar in dem Bus saß stumm und ohne Bewegung, und der Mann schien es gar nicht zu spüren, sooft einer der Burschen ihn im Vorbeigehen, unvorsätzlich, anrempelte; auch als einer der Jugendlichen, im Reden aufgestanden und in den Gang getreten, sich bei seinen Ausführungen an des Alten Rückenlehne stützte und zugleich ihm vor dem Gesicht gestikulierte, duldete er es reglos, rückte nicht einmal seine Zeitung beiseite, deren Blattkanten im Luftzug des über ihm Fuchtelnden umschlugen. Das ausgestiegene Mädchen ging dann allein draußen auf einer kahlen Kuppe, den Mantel um sich gezogen, in einer wie weglosen Steppe, ohne ein Haus in Sicht; am Boden ihres verlassenen Sitzes ein Haufen von Schalen, weniger als erwartet. Später wurde die Hochebene bezeichnet von Zwischenräumen aus lichten Eichenhainen, die Bäume strauchartig klein, das volle welke Laub daran grau zitternd, und nach einem fast unmerklichen Paß ‒ im Spanischen, so erfuhr der Reisende aus seinem Taschenwörterbuch, das gleiche Wort wie für »Hafen« ‒, der Grenze zwischen den Provinzen Burgos und Soria, von Schonungen glänzendbrauner Kiefern oben auf Felsen wurzelnd, viele auch, wie nach einem Sturm, aus dem bißchen Erdreich gerissen oder zersplittert, worauf diese Nähe zu beiden Seiten der Straße gleich wieder auseinanderrückte zum vorherrschenden Ödland. In Abständen kreuzten die Schienen, verrostet, der aufgelassenen Bahnlinie zwischen den beiden Städten, oft schon überteert, die Schwellen überwachsen oder ganz verschwunden. In einem der Dörfer, unsichtbar von der Landstraße hinter steinigen Anhebungen, wohin der Bus immer wieder abbog und dann zum Umkehren, noch leerer geworden, zurückstoßen mußte, schlug das lose hängende Gassenschild an eine Hauswand; hinter dem Fenster der Dorfbar, als das einzig Sichtbare, die Hände von Kartenspielern.