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DIE KLEINEN UNKORREKTEN

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Magda Thomsen

DIE KLEINEN UNKORREKTEN

Liebesgeschichten

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Originalausgabe November 2018

Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH

© 2018 Buch&media GmbH

Umschlagbild und Illustrationen: Asim Brkic

Erstleserin: Nina Habfast

»Das Zitat«: Die Liebesszene

mit freundlicher Genehmigung von Karl Sorge

Layout und Satz: Franziska Gumpp

Gesetzt aus der Helvetiva Neue und der Sabon von Linotype

ISBN print 978-3-96233-083-5

ISBN epub 978-3-96233-084-2

Printed in Europe

Allitera Verlag

Merianstraße 24 ∙ 80637 München

Telefon 089 19929046

Mail info@allitera.de ∙ www.allitera.de

INHALT

Vorwort: Die Schreibwerkstatt

Kletterpartie

Schwabinger Ballade

Befreiung

Der längste Tag

Bescherung

Smillas Gespür für Frost

Polnische Scheidung

Der Kimono

Im Verein

Bad Vilser Krimi

Abgesägt

Karussell

Der 14. Juli

Nachtflug

Die Spielerin

El descansillo

Der Korrektor

Das Zitat

Das Sauspiel

Korrekturen

Das Geisterhaus

Ein Zufall

Danksagung

VORWORT: DIE SCHREIBWERKSTATT

Die Stimmung ist gut. Lebhaftes Durcheinanderreden am Tisch. Michael und Hubert setzen sich zu mir.

»In einen Mojito gehört keine Cocktailkirsche.«

»Die Cocktailkirsche ist wichtig, Michael!«

»Dann kriegt sie einen Tequila Sunrise.«

Gute Idee. Ich ändere die Bestellung. Aber auch Hubert hat Einwände.

»In Deutschland gibt’s keine Inspektoren. Wir haben hier Kommissare.«

»Ich finde aber, Inspektor Schiller klingt besser als Kommissar Schiller.«

Meine Tischgenossen sind noch nicht zufrieden.

»Mhmm … und überhaupt, man wird uns in den beiden Trotteln sofort erkennen.«

»Woran denn? Die Geschichte ist doch komplett frei erfunden!«

»An den Vornamen. Und an der Diagnose.«

»Das ist zu lang, das ist zu erklärend und hier, gib mal her …«

Meine Tochter schreibt mit einem blauen Stift an den Rand der Texte: A A A.

»Was heißt A

»Ausdruck!«

»Was meinst du damit?«

»Du, Mama, ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss meinen Unterricht vorbereiten.«

»Sie ist im Re-fe-ren-da-riat«, erkläre ich in die Runde und reiche meiner Erstleserin ein Schüsselchen mit Erdnüssen. Nina bedient sich daraus.

»Du, Magda, entweder habe ich etwas übersehen oder die Geschichte ist langweilig.«

»Aber Nina, kann ich nicht ein Mal eine harmonische Beziehung beschreiben?«

»Dafür sind vier Seiten zu viel.«

Sie blättert um.

»Hier muss es heißen, hatte bemerkt und nicht bemerkte

»Ah, das berühmte Plusquamperfekt. Wir haben im Polnischen nur vier Zeitformen: eine Gegenwart, eine Vergangenheit, eine Zukunft und einen Konjunktiv. Das reicht uns. Damit kann man wunderbar alles beschreiben. Wie viele Zeitformen gibt es eigentlich im Deutschen?«

Am Tisch wird laut überlegt.

»Acht.«

»Sieben.«

»Ich war in der Schule in Grammatik ganz schlecht.«

»Im Französischen gibt es vierundzwanzig Zeitformen, wenn man den Subjonctiv dazuzählt.«

»Was?! Gut, dass ich das Fach rechtzeitig abgewählt habe!«

Mein Sohn spürt Plot-Holes auf. Er ist Kurzfilmer.

»Warum hat Andrea den Professor nicht angerufen?«

Während ich noch über diesen Kritikpunkt nachdenke, wendet sich eine Freundin an mich.

»Es ist schon in Ordnung, dass du meinen Vornamen verwendest und den einen Satz eins zu eins zitierst, die Geschichte entwickelt sich danach ganz anders, aber muss ich zum Schluss völlig nackt die Treppe runterlaufen?«

Ich denke mir eine andere Schlussszene aus.

Es gibt sofort Proteste vom gegenüberliegenden Tischende.

»Das war vorher viel besser. Warum hast du das umgeschrieben?«

»In dieser Geschichte gibt es entschieden zu wenig Dialoge. Und die Helden sind nicht sympathisch.«

Mein Sohn liest trotzdem weiter.

»Oh nein! Das geht aber gaaar nicht! Lässt Richi jetzt seine Freundin verhungern?«

Harmoniebedürftig ist er auch noch …

»Übrigens, was gibt es heute zu essen?«

Bevor ich antworten kann, äußert sich eine andere Freundin, praktizierende Therapeutin, leicht entrüstet über den Entwurf zum 14. Juli.

»Meinetwegen kannst du es lassen, aber ein Psychoanalytiker würde so was nie tun!«

»Und das Absägen der Treppe, sodass Karin im oberen Stockwerk gefangen ist, löst Richis Problem nicht!«

Ein anderer Analytikerfreund weiß es besser als die Autorin.

Jetzt kommt es Schlag auf Schlag.

»Man sagt nicht, dass die Gäste eintrödeln, sie trudeln ein!«

»Warum bringst du das Trio gleich um? Nur weil sie durch und durch verlogen sind?«

Das mit dem GLEICH stimmt nun gar nicht.

»Ich tue es erst auf Seite fünf … bitte sehr. Und außerdem sollt ihr bis zum Ende lesen.«

»Der Zug hält nicht an jeder Milchkuh, er hält an jeder Milchkanne!«

»Muss man das wissen, dass ›Le temps des cérises‹ ein Lied über die Pariser Kommune ist?«

»Meine Enkelin wollte zwar keine Ziege haben, aber ihre Mutter ist ganz anders. Du hast sie ungerecht behandelt.«

Ich will schon erwidern, dass die Geschichte nichts mit der Tochter zu tun hat, aber da kommt ein Brummen von der Raucherecke.

»Soll das jetzt ein sozialkritischer Aufsatz oder eine Liebesgeschichte sein?«

»Ähemm, ähemm …«

Ich fange zu stottern an. Die bitterehrlichen Kritiken von Markus werden allgemein gefürchtet. Es fehlt noch, dass er gleich sagt, er findet die Geschichte Schrott!

»Hier fehlt ein Komma vor aber. Weil ein Satz dahinter.«

Andreas kann nicht einfach ein Komma setzen. Er muss es gleich begründen.

[Vor aber kommt immer ein Komma, auch ohne Satz …], bemerkt die Lektorin in eckigen Klammern.

Jetzt sind Andreas und Julia miteinander und mit dem Komma eine Weile beschäftigt.

»Der Pinot noir, den wir damals zum Wacholderlamm serviert haben, war Jahrgang 2013, nicht 2015.«

Gerd und Gerlinde wollen es genau zitiert haben. Ich berichtige. Damit ist es aber nicht getan.

»Wieso verliebt sich der Inspektor in Joachim? Ist das jetzt eine Gender-Diskussion? Er hat doch im Bad Vilser Krimi eine Ayuverda-Ehefrau!«

Ich seufze. Die kleine Gruppe am Fenster hat Ursache und Wirkung in der Tangomelodie des descansillo nicht erkannt. Das ist schon mal klar.

Zum Glück klingelt es an der Tür.

Ich entschuldige mich kurz und gehe aufmachen.

KLETTERPARTIE

Machst du jetzt im Treppenhaus das Licht an?«

»Klar mache ich das.«

»Es ist zwei Uhr nachts …«

»Eben. Sie schlafen schon alle!«

Andrea steht in Strümpfen da, fertig zum Gehen, die Jacke zugeknöpft, die Schuhe in der Schultertasche. Sie drückt dem Professor einen letzten Kuss auf die Lippen. Er schaut gequält.

Es war sein Haus und sein Treppenhaus. Das Treppenhaus denkmalgeschützt. Eine geschwungene Eichentreppe. Auf jedem Treppenpodest zwei Wohnungseingangstüren, ebenfalls Eiche, Oberlicht, Messingbeschlag, Guckfensterchen. Der Professor wohnte im vierten Stock, seine drei Töchter mit ihren eigenen kleinen Familien in den Geschossen darunter. Die übrigen Wohnungen im Vorderhaus, das Rückgebäude und die Geschäftsräume im Erdgeschoss waren seit Jahren vermietet. Man legte Wert auf eine gute Nachbarschaft: Hoffeste, Zeitungssharing, turnusmäßiges Blumengießen und so weiter.

»Oder soll ich lieber über die Notleiter runtersteigen?«

Sie dreht sich um und geht raus auf die kleine Dachterrasse.

Die Notleiteranlage verunstaltete die Rückseite des Hauses und war allen Bewohnern ein Dorn im Auge. Nach jahrelangen Verhandlungen hatte sich hier die Brandschutzbehörde durchgesetzt. Sie bestand auf diesem zweiten Rettungsweg, und zwar mit allen Schikanen: Rückenschutz, Ausstiegstritte bei jedem Balkon. Nur um die versetzte Ausführung mit einem Zwischenpodest hatte sich der Hauseigentümer erfolgreich drücken können.

Die Tiefe reizte Andrea. Früher war sie mit ihrem damaligen Freund fast an jedem Sommerwochenende klettern gewesen. Jetzt fasste sie schnell ihren Entschluss, schlüpfte in die Schuhe, setzte den Riemen der Tasche schräg über die Brust, und bevor der Professor Protest erheben konnte, war sie schon über das Geländer gestiegen und auf dem Weg nach unten in den Hof. So fing es an. Seitdem benutzte Andrea immer die Treppe, um raufzukommen, und die Notleiter, um wieder zu verschwinden, an den dunklen Fenstern vorbei, zu verschiedenen Nachtstunden und bei jedem Wetter.

Als sie an jenem Abend den Boden erreichte, spürte sie, dass im Hof etwas anders war als sonst. Sie drehte sich abrupt um und sah einen jungen Mann vor sich stehen. Er lächelte sie an.

»Wo kommen Sie denn her?«

Andrea war so verblüfft, dass sie sofort wahrheitsgetreu antwortete.

»Von dem Herrn ganz oben.«

Mit dem Kopf deutete sie die Richtung an, ohne den Blick von dem Mann abzuwenden.

»Und Sie? Was machen Sie hier?«

»Ich besuche eine junge Dame auf der halben Strecke …«

Daraufhin betrachteten beide die silbrig glänzenden Sprossen der Notleiter. Andrea verkniff sich die Frage nach dem Stockwerk.

»Ein modernes Rapunzel.«

»Allerdings. Ich heiße übrigens Simon.«

»Andrea.«

Sie wippte auf den Füßen vor und zurück.

»Ich habe einen kleinen Sohn. Er heißt auch Simon.«

Keiner von den beiden machte Anstalten, seinen Weg zu fortzusetzen.

»Wollen wir eine rauchen, bevor du raufsteigst?«

»Gute Idee.«

Andrea nahm eine Zigarette aus der Packung, die Simon ihr reichte. Sie bliesen kleine Rauchwolken in die Luft und versanken in Gedanken, jeder in seinen.

Sie verabschiedete sich mit einem Nicken. Kurz darauf hörte Simon ein leises Klicken der Schlupftür im Eingangstor (Eiche) und ein wenig später das Geräusch eines Motors, der draußen auf der Straße gestartet wurde.

Von da an trafen sie sich immer wieder. Sie rauchten zusammen, Simon stellte Andrea ein, zwei Fragen, die sie bereitwillig, aber knapp beantwortete, um alsbald in der Dunkelheit zu verschwinden.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«

»Eine Internetanzeige.«

Zwei Monate später wurde das Gespräch fortgesetzt:

»Habt ihr euch von Anfang an hier getroffen?«

»Nein, nicht von Anfang an. Aber jetzt lebt er von seiner Frau getrennt.«

»Von seiner Frau getrennt?«

Über den Beziehungsstatus des Professors war Simon bestens informiert. Schließlich besuchte er schon lange eine seiner Töchter. Andrea erfuhr nicht, welche von den dreien seine Auserwählte war. Es hatte sich so eingespielt, dass bei ihren kurzen Begegnungen nur Simon Fragen stellte.

Es war eine sehr regnerische Nacht Ende März, als es passierte. Andrea kam ungewöhnlich spät, der Professor hatte schon nach ihr Ausschau gehalten. Um halb fünf wurden sie plötzlich durch einen Anruf geweckt.

Der Professor nahm ab.

»Mein Schatz, was ist los? … Warte doch kurz, bitte.«

Er deckte den Hörer mit der Hand ab und wandte sich an Andrea.

»Es tut mir leid. Meine Tochter. Sie ist alleine mit dem Kind und hat ein Problem. Musst du jetzt nicht sowieso gehen? Nimm doch die Treppe. Die Sprossen sind bestimmt rutschig.«

Aus Trotz und alter Gewohnheit wählte Andrea den Weg über die Fassade.

Am Fuß der Leiter sah sie Simon am Boden liegen, das rechte Bein komisch verdreht. Er war nicht ansprechbar. Andrea konnte keine sichtbaren Verletzungen feststellen. Sie rief den Professor an. Die Leitung war besetzt. Andrea sah sich um. Alle Fenster waren dunkel. Mit Hilfe aus dem Haus war nicht zu rechnen. Also wählte sie den Notruf, öffnete die Schlupftür im Tor und wartete den Krankenwagen ab.

Da kam er schon. Das Krankenhaus lag ganz in der Nähe. Der junge Arzt untersuchte Simon. Daraufhin holten die Sanitäter eine Trage und luden ihn auf. Im Haus rührte sich nichts. Alles schlief. Andrea fuhr mit ins Krankenhaus.

Es wurden Prellungen, ein Unterschenkelbruch und eine Gehirnerschütterung festgestellt. Als Simon zu sich kam, war der Morgen schon fortgeschritten. Er lächelte so warmherzig wie immer, erkannte aber Andrea nicht, wusste auch nicht seinen Namen und konnte sich ebenso wenig an die Geschehnisse der letzten Nacht erinnern. Außer einem Schlüsselbund hatte man nichts Persönliches bei ihm gefunden. Einer der Schlüssel passte zum Tor in der Knobelstrasse, das sah Andrea sofort. Das Krankenhaus verständigte die Polizei. Andrea rief die Nachbarin, die bei dem kleinen Simon übernachtet hatte, an und wartete das Eintreffen der Beamten ab. Mit Herrn Inspektor Schiller führte sie ein längeres Gespräch.

In den darauffolgenden Tagen besuchte der Inspektor nacheinander Esther, Sophia und Helene. Die jungen Frauen empfingen ihn in aufgeräumten Küchen, die schon köstlich nach dem Frühling dufteten, der draußen noch auf sich warten ließ, in ihrer Nähe immer ein Kleinkind. Die Einrichtung der Wohnungen und das Alter der Kinder variierten kaum. Alle drei Frauen waren über das Vorgefallene sehr bestürzt.

»Sind unsere Kinder noch sicher? Wie konnte sich der Mann Zugang zum Innenhof verschaffen? Oh nein! Er hatte einen Schlüssel? Woher denn?«

Keine von ihnen bekannte sich zu Simon. Keine hatte in dieser Nacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Die Befragung der Ehemänner brachte die Ermittlung ebenso wenig voran. Esthers Mann hatte in der fraglichen Nacht seine Mutter in Österreich besucht.

Die beiden anderen Männer, ehemalige Studienkollegen und Geschäftspartner, waren beide zu einem neuen Kunden in Berlin unterwegs gewesen.

Es war alles sehr merkwürdig. Niemand schien Simon zu kennen und niemand schien ihn zu vermissen. Während die Polizei im Dunkeln tappte, verheilte allmählich Simons gebrochenes Bein. Eigentlich hätte der Patient schon längst entlassen werden können, nur wohin? Sein Gedächtnis hatte er immer noch nicht zurückerlangt, auch wenn die Prognosen gut waren.

Andrea vernachlässigte den Professor und besuchte Simon jeden Tag. Ende April machte sie den Vorschlag, den jungen Mann bis zu seiner vollständigen Genesung bei ihr wohnen zu lassen.

Sie arbeitete als freie Cutterin. Seit einigen Jahren schnitt sie hauptsächlich Arztserien. Um bei ihrem kleinen Simon sein zu können, arbeitete sie zu Hause. Jetzt war sie auch für den großen Simon da. Bald hatten sich die Rollen im Alltag eingespielt. Simon erledigte die Einkäufe, Andrea schnitt. Simon kochte ein leckeres Abendessen, Andrea schnitt. Mutter und Kind schmeckte die neue Küche ungemein. Nach dem Essen wusch der große Simon ab, während der kleine von seiner Mutter ins Bett gebracht wurde. Danach schauten sie sich das fertig geschnittene Material an.

Aus diesen Serien glaubte Andrea zu wissen, dass man Amnesiekranken mit der Situation, die sie einmal traumatisiert hatte, konfrontieren sollte. Die Notleiter in der Knobelstraße wollte sie Simon noch nicht zumuten. Aber um ihn der Höhe auszusetzen, nutzte sie die zwei Wochen im Juli, die der kleine Simon ganz alleine bei seiner Oma verbrachte, für gemeinsame Ausflüge in die Berge.

Während der ersten Tage wanderten sie nur. Dann schlug Andrea Simon vor, es mit dem Klettern zu probieren. Sie wählte einfache Routen und machte den Vorstieg. Simon stieg nach und stellte sich sehr geschickt an. Am Abend kochte er für die beiden Bergsteiger und Andrea suchte nach neuen Anregungen in ihren lange nicht benutzten Kletterführern.

Das Wacholderlamm schmorte und brauchte noch eine halbe Stunde. Simon nutzte die Zeit, um in einem der Bücher zu blättern, und stellte verblüfft fest:

»Das Buch ist von mir!«

Andrea nahm ihm den Tourenführer aus der Hand.

»Es gehört mir, Simon. Vorstiegsklettern in den Dolomiten. Der Autor heißt S. Weingartner. Ich habe auch Reiseführer von ihm. Sie bestehen alle aus kleinen Geschichten. Schön geschrieben.«

Eine Ahnung zeichnete sich in Simons Augen ab.

»Andrea, ich heiße doch Weingartner!«

Sie weinte vor Glück. Simon nahm sie in die Arme. Er streichelte ihren Kopf und fuhr ihr mit der Hand über die Haare, die zu einem festen Zopf geflochten waren. War da nicht etwas mit Rapunzel?

Ab diesem Zeitpunkt kehrte das Gedächtnis in immer größeren Happen zurück. Ende des Sommers konnte sich Simon schließlich an alles erinnern. Auch an den Absturz von der Notleiter. Und daran, dass, kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte, irgendwo ganz oben ein Fenster aufgegangen war.

Bevor sich die letzten Gedächtnislücken geschlossen hatten, verbrachte Simon viel Zeit in seiner Wohnung. Er arbeitete sich durch die Berge an Post und Mails, erfuhr, dass der letzte Reiseführer ein großer Erfolg gewesen war, und telefonierte mit seinem Verlag. Ob er wieder eine Reise und ein neues Buch plane?

»Ja!«

Andrea war sofort einverstanden. Sie besprach die Herausforderung mit dem kleinen Simon und sagte die Mitarbeit an der neuen Tatortfolge ab. Ein letztes Mal fuhr sie zur Wohnung des Professors.

»Du hast doch damals mitbekommen, dass Simon abgestürzt ist. Warum hast du nicht nach ihm geschaut?«

»Das hätte Puppi in Verlegenheit gebracht. Ich war schon immer gegen diesen Vagabund. Und Puppi ahnte nicht, dass ich Bescheid wusste. Ich dachte, sie kümmert sich lieber alleine um ihn.«

Sie standen draußen auf der Terrasse und unterhielten sich leise. Es war zwei Uhr nachts. Andreas Reaktion verlief wie im Zeitraffer: auf die Terrassentür zuspringen, rein in die Wohnung, die Tür einrasten lassen, den Türgriff in die Querstellung drehen. Sie war schon immer sehr schnell gewesen.

Durch die verschlossene Fenstertür vom Professor getrennt, weinte Andrea hemmungslos. Diesmal vor Wut.

»Du Arschloch, du verlogenes Arschloch …«

Allmählich ließen die Tränen nach. Andrea machte im Raum ein paar Schritte hin und her und überlegte. Bei ihrem Abstieg, der grande descendue, würde sie improvisieren müssen. Die Versuche des Professors, ihre Aufmerksamkeit durch Klopfen an die Fensterscheibe auf sich zu lenken, ignorierte sie. Sie zog sich komplett aus. Nur die Sandaletten behielt sie an. Das Höschen warf sie über den Fenstergriff, das Kleid verschwand in der Schultertasche. So stand sie jetzt da: nackt, sonnengebräunt, der Körper von den Bergtouren durchtrainiert, der Riemen der Tasche wie die Sehne eines Bogens schräg über der Brust. Die Rachegöttin. Fehlte nur der Köcher mit Giftpfeilen.

Die Wohnungstür (Eiche) schlug sie mit solch einer Kraft hinter sich zu, dass die Verglasung des Guckfensterchens kurz erzitterte und aus dem Rahmen fiel. Bevor sie das Licht im Treppenhaus anknipste, wartete sie die Wirkung des Lärms ab. Laut mit den Absätzen klackernd, lief sie schließlich die Treppe runter. Auf jedem Podest verlangsamte sie das Tempo und lauschte dem Scharren der Füße hinter den verschlossenen Türen. Unten angekommen, riss Andrea die Haustür, die in die Tordurchfahrt führte, so weit wie möglich auf. Der Schwung, mit dem sie daraufhin ins Schloss fiel, weckte auch die letzten Schlafenden.

Zufrieden hörte Andrea irgendwo im Haus ein Kind plärren. In aller Ruhe zog sie sich wieder an und glättete ihr Kleid. Eine Weile blieb sie unentschieden stehen, dann gab sie sich einen Ruck und trat in den Hof. Die Notleiter strahlte eine silbrige Ruhe aus. Der Professor schien diesen Weg nicht benutzen zu wollen. Andrea machte kehrt und ging auf das Tor zu.

Die große Reise mit ihren beiden Simons konnte beginnen.

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SCHWABINGER BALLADE

Anette nahm den Hörer in die Hand und drückte die grüne An-Taste. Es war kein Freiton zu hören. Auflegen, abnehmen, noch mal probieren. Und noch mal. Diesmal gab es keinen Zweifel. Das Telefon war tot. Sie überprüfte die Steckdose – es schien alles in Ordnung. Etwa die Akkus leer? Sie nahm sich vor, neue zu kaufen, und rief Arthur mit ihrem HipsterHandy an.

»Die ›Love Lesson‹ spielt im Atelier um Viertel nach sieben.«

»Nein, nicht auf Deutsch. Originalfassung mit Untertitel.«

»Ach, stell dich nicht so an.«

»Na gut, ich schau mal nach.«

Sie schaltete ihren Laptop ein, um bei Artechock zu überprüfen, ob der Film nicht irgendwo auf Deutsch spielte.

Fehler: Server nicht gefunden.

Was ist denn das schon wieder? Etwas gereizt wandte sich Anette wieder ihrem Anrufer zu.

»Arthur, ich komme grade nicht ins Internet. Wir gehen in die Originalfassung oder gar nicht.«

Am nächsten Tag tauschte Anette die Akkus aus, aber das Telefon funktionierte immer noch nicht. Sie rief Arthur an und erwischte ihn im Zug nach Hannover.

»Anette, du bist doch bei der Telekom, frag dort nach.«

»Kannst du das nicht für mich machen?«

»Ich bin im Zug!«

»Komm schon, ich gebe dir die Nummer.«

»Die Verbindung kann jeden Moment abbrechen. Anette, du schaffst das.«

Sie war nicht zufrieden, wählte aber die Servicenummer der Telekom.

»Der Anschluss von Anette Lange? Das Telefon und das Internet sind wie beantragt abgeschaltet.«

Anette kochte vor Wut.

»Ich habe doch nichts beantragt!!!«

»Hören Sie, uns liegt eine Sterbeurkunde vor. Sie wurde per Post zugesandt.«

Die Hausverwaltung hatte ihren Sitz im gleichen Gebäude. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief Anette in den ersten Stock. Sie drückte mehrmals auf das Klingelschild C. und T. Lauterach • Immobilien GmbH, aber die Tür blieb verschlossen. Anscheinend machte Thomas Lauterach gerade Mittagspause.

»Na, wunderbar!«

Auf dem Rückweg in ihre Wohnung holte sie einen Brief mit dem Aufdruck der Telekom aus dem Briefkasten. Er war an den Nachlass von Annette S. Lange adressiert. Noch im Treppenhaus riss sie den Umschlag auf und beförderte daraus eine Aufforderung zur Rückgabe des Routers. Arthurs Smartphone war ausgeschaltet. Diesmal lief Anette in den vierten Stock. An der Tür zu der kleinen Dachgeschosswohnung klingelte sie Sturm.

Jan Theiß öffnete sofort und versuchte die junge Frau zu beruhigen. Sie verstanden sich gut, auch wenn ihre gemeinsame Zeit als Liebespaar schon einige Jahre zurücklag. Damals hatte Jan noch das Kino ›Theiß‹ betrieben, von den Kinogängern liebevoll ›Das FlussKino‹ genannt, und in den Personalräumen gewohnt. Als vor Kurzem der Kampf um das Kino verloren und das Haus abgerissen worden war, bot Anette, inzwischen Besitzerin des Anwesens in der Herzogstr. 43, ihrem Freund Jan an, in die frei gewordene Wohnung im vierten Stock einzuziehen.

»Nein, Jan, sie liegt nicht zu hoch. Du kannst dort wunderbar wohnen und arbeiten …!«

Inzwischen hatte sich Herr Theiß einem Broterwerb zugewandt, den er beherrschte, aber nicht mochte: dem Erstellen von Webseiten.

»… und wenn ich etwas von dir brauche, dann laufe ich gerne nach oben. Ich finde es toll, dass du wieder programmierst, Jan!«

Anette war Grafikerin. Sie übernahm oft die komplette Corporate-Identity-Gestaltung für Firmen, entwarf schöne Logos und Internetauftritte. Die notwendige Programmierarbeit überließ sie regelmäßig den Fachleuten.

Jetzt stand sie vor Ärger zitternd in Jans Flur.

»Anette, beruhige dich. Du heißt doch A-n-ette. Mit einem n und ohne S. Es ist eine Verwechslung. Ganz schön makaber.«

Es lag tatsächlich eine Verwechslung vor. Die Telekom hat die Adresse zu der vorgelegten Urkunde schlampig ermittelt. Arthur nahm sich der Sache an und handelte für Anette eine nicht unerhebliche Entschädigung aus. Der junge Anwalt hatte im selben Haus das gewerbliche Lokal im Erdgeschoss zur Straße gemietet. Kanzlei Regen • Medien und Urheberrecht, war auf dem dezenten Firmenschild zu lesen. Mit seiner damaligen Freundin Anette hatte Herr Regen seinerzeit auch die gegenüberliegende Wohnung geteilt. Als sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte, war er dort ausgezogen. Seitdem bewohnte Anette das 220 Quadratmeter große Prachtstück alleine.

In den ersten Monaten nach der Trennung bemühte sich Arthur, seinem Nachfolger und Vermieter Thomas Lauterach nicht im Treppenhaus zu begegnen. Das war nicht immer einfach, weil sich die Geschäftsräume der Hausverwaltung im selben Gebäude befanden. Aber als Anette auch Thomas verließ, entspannte sich die Beziehung zwischen den beiden Männern.

***