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Inhalt

 

DEM VERBRECHEN AUF DER SPUR

DIE LEICHE IM PARK

DAS GEISTERWRACK

DIE LEICHE IM MOOR

MÖRDERISCHES BERLIN

ERBEN VERPFLICHTET

DER SCHWUR VON ARDINGLY

SCHULD UND SÜHNE

LUZIFERS GEFOLGSCHAFT

DIE VERSCHWUNDENE MUMIE

CRIME STORYS

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand

Cover: shutterstock

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2019 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

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DEM VERBRECHEN AUF DER SPUR

Box 1 – Story 1

»Sherlock Holmes?«, schnaubte ich empört und schaute meinen Verlobten Roderick Turnbull-Haynes mit funkelnden Augen an. »Dieser – dieser eingebildete, besserwisserische, chauvinistische Angeber? Welche Qualifikation hat er schon vorzuweisen? Was befähigt ihn, sich überhaupt Detektiv zu nennen?«

Roddie grinste frech, seine Augen strahlten. Diese Diskussion machte ihm sichtlich Spaß. »Das weiß ich nicht, geliebte Alice. Aber es ist doch interessant, dass er eine qualifizierte Begleitung an seiner Seite hat, Dr. Watson ist …«

»Ein Arzt, kein Detektiv«, unterbrach ich. »Ja, ein Arzt. Auch ich bin Ärztin, aber ich habe, weiß Gott, mit Sicherheit mehr Widerstände überwunden als er und Holmes zusammen. Was heißt das also schon?«

»Du solltest dich nicht aufregen, Liebes. Niemand weiß besser als ich, wie sehr du darum gekämpft hast, dein Studium zu absolvieren.«

Lag da etwa Spott in seiner Stimme? Nein, er meinte es ernst, aber das beruhigte mich auch nicht.

Zwischen uns lag die Zeitschrift The Strand, aus der Roderick mir eine der Geschichten von Dr. Watson vorgelesen hatte. Ich mochte diese Vorurteile von Holmes und seine Ansichten, die er über Frauen verbreitete, nicht. Ich hatte während meiner Ausbildung ebenfalls Kriminalfälle gelöst – nun ja, fast. Immerhin war ich als Ärztin in der Lage, einen Tod durch Fremdeinwirkung zu diagnostizieren, was dazu geführt hatte, dass mindestens zwei Morde der Polizei gemeldet wurden. Aber die Täter hatte ich natürlich nicht gefunden, doch meine Hinweise wurden von der Polizei als wertvoll bezeichnet. Roddie schien Holmes zu bewundern, was mich wiederum auf die Palme brachte.

»Nicht nur, dass einer Frau überall Steine in den Weg geworfen werden – es ist fast unmöglich, eine eigene medizinische Praxis zu eröffnen. Und dieser – dieser arrogante Besserwisser unterstützt diese veralteten Ansichten und hält Frauen für fast überflüssig.«

»Aber nur fast«, schränkte er ein. »Zum einen gehörst du in eine traditionsreiche Familie und wirst in eine eben solche einheiraten. Allein das hat es dir schon etwas erleichtert, deine Praxis zu eröffnen. Außerdem musst du kein Geld verdienen, Alice LeBain-Chester, du hast von Hause aus genug, und ich lege dir überdies die Welt zu Füßen. Was ärgerst du dich also über Sherlock Holmes? Ich finde nur die Geschichten interessant, die Dr. Watson veröffentlicht. Im Übrigen möchte ich dich unser Leben lang auf Händen tragen.«

»Und das tust du nicht nur, weil unsere alten Herren diese Verbindung gerne sehen?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»Ich tue es, weil ich dich für die bewunderungswürdigste Frau halte, die ich kenne. Und weil ich dich liebe.«

Wir versanken in einem langen Kuss.

In diesem Augenblick ertönte die Klingel an der Tür der Stadtwohnung, in der wir uns befanden. Natürlich, draußen hing ein Schild: »A. LeBain-Chester, MD«. Offenbar wurde ich als Ärztin gebraucht.

»Wir sind noch nicht fertig mit der Diskussion über diesen ominösen Mister Holmes«, drohte ich meinem Verlobten nicht ganz ernsthaft.

»Jederzeit, wann immer du willst«, hörte ich noch, als ich mich auf den Weg zur Haustür machte. Iris, mein Hausmädchen, wie auch die drei anderen Hausangestellten hatten heute frei. Roderick und ich waren erst köstlich essen und anschließend im Theater gewesen, wo wir uns ein Kriminalstück angesehen hatten. Erst dadurch war unser Gespräch über Sherlock Holmes entstanden. Nun ja, die Geschichten über diesen angeblich so fantastischen Detektiv standen regelmäßig im Strand, aber ich hielt nicht einmal die Hälfte davon für wahr. Dennoch waren sie amüsant zu lesen. Dr. Watson verstand sich aufs Schreiben.

Ich riss die Tür auf, ein heftiger Windstoß ließ mich frösteln und wehte einen Schwall trockenes Laub herein. Ein Mann in ärmlicher Kleidung stand vor der Tür, ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind.

»Wir brauchen den Doktor, schnell«, stieß er hastig hervor.

»Um was geht es?«, fragte ich rasch.

»Um eine Geburt, meine Schwester wird sterben, wenn der Doktor nicht schnell hilft. Sagen Sie ihm, er wird sein Geld bekommen, wenn auch nicht sofort.«

»Augenblick, ich ziehe mich schnell an.«

»Der Doktor soll kommen, hilflose Frauen gibt es da schon genug«, fuhr er mich an, doch solche Reaktionen kannte ich schon.

»Ich bin der Doktor«, erklärte ich scharf und schlüpfte in Schuhe und Mantel. Ein abschätziger Blick traf mich, doch ich ignorierte ihn.

»Schon gut, wenn sonst niemand da ist … so beeilen Sie sich doch, das Kind kommt nicht heraus, meine Schwester verblutet.« Er rannte vor und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Die Kleidung hätte es mir schon sagen können, er gehörte zur untersten Schicht der Gesellschaft, doch auch diese Leute brauchten Hilfe. Wie gut nur, dass ich nicht auf die Einnahmen aus dieser Arbeit angewiesen war …

 

*

 

Schon bald verließen wir die ordentlichen breiten Straßen mit den Gaslaternen und bogen in Richtung Whitechapel ab. Wir näherten uns dem Fischmarkt, der Gestank nach Fisch wäre allein erträglich gewesen, hätten sich nicht weitere Gerüche darunter gemischt: Fäkalien, Ruß, Dreck, menschliche Ausdünstungen, ranziges Fett, das als Tran in vielen Häusern als Kerzenersatz diente. Nun ja, meine Zeit in der Pathologie hatte dafür gesorgt, dass ich gegen solche Gerüche fast unempfindlich geworden war. Fast.

Ich hüpfte über einige Pfützen, die eindeutig nicht nur mit Wasser gefüllt waren; hier wurden die Nachttöpfe einfach auf die Straße entleert. Dann standen wir vor einem armseligen Haus mit drei Stockwerken. Ich hörte draußen bereits eine Frau schreien. Der junge Mann war urplötzlich verschwunden. Gut so, er hätte mir sonst vermutlich nur im Weg gestanden.

Hastig öffnete ich die Tür, ohne anzuklopfen. Ein stinkendes Treppenhaus mit ausgetretenen Holzstufen führte nach oben, doch im Erdgeschoss war die Wohnungstür weit offen. Ein etwa zehnjähriges Mädchen hielt zwei kleinere Kinder im Arm, zwei Jungen standen dahinter und starrten mir feindselig entgegen, irgendwo weinte ein Kleinkind. Ich stieg vorsichtig über die Kinder hinweg.

»Bist du der Doktor?«, fragte einer der Jungen. »Unsere Mutter – sie ist …« Er machte eine hilflose Bewegung in Richtung Nebenraum.

Obwohl ich mich nicht zum ersten Mal im Armenviertel befand, schämte ich mich für meine teure Kleidung; für das große Haus, in dem ich wohnte; für ausreichendes Brennholz, Kohle, nicht rußende Kerzen und genügend Essen. Ich spürte, wie sich meine Miene verhärtete. Mehr, als überdurchschnittliche Löhne an meine Angestellten zu zahlen, war mir nicht möglich. Ich konnte nicht das Elend dieser Stadt beseitigen.

Mit zwei Schritten befand ich mich im Nebenraum und sah eine Frau im letzten Stadium der Wehen, das Gesicht in unendlicher Qual verzerrt. Sie war jenseits von Gut und Böse, wie eine alte Hebamme mir mal erklärt hatte. Neben dem Bett stand ein verhärmt wirkender Mann, der sich um die letzten Reste seiner Beherrschung bemühte – und Agnes Morrow. Sie war eine Hebamme mit großer Erfahrung, resolut, in diesem Fall aber selbst am Ende ihrer Kräfte. Sie blickte mir entgegen.

»Dr. Alice, Gott sei Dank«, rief sie laut.

»Was, eine Frau?« Der Mann brüllte auf, während ich bereits meine Tasche öffnete.

»Was haben wir, Mrs. Morrow?«, erkundigte ich mich sachlich.

»Steißgeburt, Doktor. Ich habe bereits versucht, das Kind zu drehen, aber der Geburtskanal ist zu eng, es ist eigentlich schon zu spät«, sagte die Hebamme leise. Ich hatte Agnes während meiner Ausbildung kennengelernt und meinerseits viel von ihrer Erfahrung profitiert. Ich blickte sie ernst an und sah ihr resigniertes Kopfschütteln.

»Verflucht! So einfach wird der Tod sie nicht bekommen. Kaiserschnitt«, sagte ich.

»In diesem Stadium? Ein hohes Risiko«, gab sie zurück.

»Richtig. Wenn ich aber gar nichts tue, verlieren wir beide.« Agnes zuckte die Schultern und streckte die Hände aus, sie würde die behelfsmäßige Narkose übernehmen. Ich träufelte Äther auf die Maske.

»Hinaus mit euch allen«, befahl ich hart. »Sie, Sir, kümmern Sie sich um Ihre Kinder. Wir werden tun, was wir können.«

»Eine Frau als Arzt? Sie haben sicherlich keine Ahnung …« Er wirkte ausgesprochen angriffslustig. Ich gestehe, ich fühlte mich angesichts dieser rohen Wut ein wenig hilflos. Aber Agnes schaute ihn zornig an.

»Wenn Sie es besser wissen und können, Patrick Willis, dann helfen Sie Ihrer Frau selbst. Wenn nicht, lassen Sie uns hier unsere Arbeit tun«, fuhr sie ihn an.

Er knurrte unwillig, verließ aber schließlich den Raum. Die Hebamme presste die Maske auf das Gesicht der Frau, die schon gar nicht mehr bei sich war.

»Ich fürchte, sie wird es nicht schaffen«, erklärte Agnes sachlich.

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte ich traurig zu. »Aber wir müssen wenigstens versuchen, das Kind zu retten.«

»Wozu?«, fragte sie düster. »Für ein Leben in diesem Elend? Wäre es nicht gnädiger …« Ich schickte ihr einen strengen Blick und sie verstummte. Meine Hände zitterten nicht, als ich den Schnitt durchführte. Nur wenige Minuten später schrie der neue Erdenbürger lautstark, wurde in eine schmuddelige Decke gewickelt und von Agnes zum Vater gebracht. Mir selbst standen Tränen der Wut und Hilflosigkeit in den Augen. Ich hatte die Frau nicht retten können – natürlich nicht. Man hatte meine Hilfe viel zu spät hinzugezogen. Vermutlich war auch Agnes während der Schwangerschaft nicht zu einer Untersuchung hier gewesen, sie hätte frühzeitig das Kind drehen können. Noch vor einem Monat wäre es möglich gewesen, ohne Mutter und Kind in Gefahr zu bringen. Und selbst vor sechs Stunden hätte ich mit einem Kaiserschnitt beide retten können. Diese Leute hatten nicht viel Geld, aber jede Dienstleistung kostete nun einmal Geld. Wahrscheinlich hatte niemand daran geglaubt, dass bei einem siebten Kind Komplikationen auftauchen könnten.

Zögernd packte ich meine Instrumente ein, das Gesicht der Frau hatte ich mit einem Tuch abgedeckt. Ich schloss meine Tasche und zog die Schürze aus. Einiges von dem Blut war auf mein Kleid gespritzt. Wo konnte ich mich waschen?

Mit einem Ruck flog die Tür auf. Wie ein Racheengel stand Patrick Willis da, hinter ihm Agnes, noch immer mit dem Kind auf dem Arm. Die sechs anderen Kinder drängten sich um sie.

»Was haben Sie getan?«, schrie der Mann. »Sie haben meine Frau getötet! Sie haben mir die Frau genommen! Sie haben den Kindern die Mutter genommen! Was soll ich jetzt mit einem weiteren nutzlosen Esser? Wer soll dieses Balg nun aufziehen? Ich habe es ja gewusst, eine Frau als Arzt ist eine Katastrophe! Mörderin!« Sein Speichel traf mich mitten ins Gesicht, dann schubste er mich mit roher Gewalt rückwärts, sodass ich gegen eine Kommode taumelte.

»Mr. Willis, es tut mir wirklich leid, aber meine Hilfe kam viel zu spät …«, begann ich hilflos.

»Ach, jetzt soll ich auch noch schuld daran sein, dass Sie keine Ahnung haben?«

»Nun reicht es aber, Patrick«, ging Agnes Morrow resolut dazwischen. »Dr. Alice hat wirklich alles getan, was sie konnte.«

»Doktor!« Er spuckte das Wort in den Raum. »Eine Mörderin ist sie. Ist es das, was ein Arzt lernt? Leute zu töten …«

»Wenn Sie Verstand genug besessen hätten, mich oder einen anderen Arzt frühzeitig zu rufen, könnte Ihre Frau noch leben, Sie Dummkopf!«, brüllte ich nun. Ich spürte angesichts der ungezügelten Aggressionen Wut und Angst in mir aufsteigen. Ich, Alice LeBain-Chester, einzige Tochter von Charles Edward George Angus Frederic Chester, 14. Earl von Southmoreland, und verlobt mit Roderick Turnbull-Haynes, hatte Angst – ein mehr als unangenehmes Gefühl. Ich habe mehr als einmal darum kämpfen müssen, mich und meine Ansichten durchzusetzen, gerade im Studium waren die Anfeindungen hart. Doch nie zuvor war ich so mit reiner, nackter Brutalität konfrontiert worden, wie sie jetzt Patrick Willis ausstrahlte. Ich öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, mich zu verteidigen, ihn zu beschwichtigen, aber ich bekam kein Wort heraus.

Agnes legte das Kind auf dem Bett neben seiner toten Mutter ab und drängte den Mann beiseite. Sie wurde mit der Situation wesentlich besser fertig als ich.

»Gehen Sie, Doktor, schnell«, befahl sie mir. »Laufen Sie nach Hause und vergessen Sie das Ganze. Ich nehme nicht an, dass Sie eine Rechnung stellen wollen?«

Nein, nein ganz bestimmt nicht. Hastig schnappte ich meine Tasche, zum Teufel mit der blutigen Schürze und zum Teufel mit dem Händewaschen, das konnte ich auch zuhause tun.

»Es tut mir wirklich leid«, stieß ich hilflos und entsetzt hervor.

»Davon wird meine Elli auch nicht wieder lebendig«, brüllte Willis.

Ich drängte mich hinaus, übersah bewusst die flehenden und traurigen Augen der Kinder. Nur weg von hier.

 

*

 

Ich taumelte hinaus, knickte mit dem Fuß um, hielt mich im Flur an der Wand fest und hinterließ einen blutigen Fingerabdruck. Aus welcher Richtung war ich gekommen? Wie kam ich zurück nach Hause? Ich hastete über die mit Kot übersäten Straßen und achtete nicht darauf, dass ich von dem eben einsetzenden Regen durchnässt wurde. Irgendwo musste es doch einen Anhaltspunkt geben, an dem ich mich orientieren konnte.

Plötzlich erhielt ich einen Stoß. Jemand, der offenbar genauso blind durch die Gassen lief wie ich, war mit mir zusammengestoßen. Ich fühlte den guten teuren Stoff eines Mantels, roch ein herbes, angenehmes Parfüm oder Rasierwasser und schaute für einen winzigen Augenblick in ein erschrockenes Gesicht mit dunklen Augen. Doch es gab hier kaum Licht, ich erkannte nichts weiter als einen gepflegten Bart. Oder nein, da war noch etwas. Noch während der Mann weiter hastete, fiel der Lichtschein einer vereinzelten Laterne kurz auf ihn. Seine Hände waren voller Blut! Frisches Blut! Es konnte nichts anderes sein, diesen Geruch kannte ich nur zu gut.

Unwillkürlich schrie ich entsetzt und laut auf. Dann stand jemand neben mir, ich hörte eine whishygeschwängerte Frauenstimme einen hässlichen Fluch ausstoßen.

»Ach, du meine Güte, Schätzchen, was hat man denn mit dir gemacht? Bist ja voller Blut? Brauchst ’nen Arzt? He, Jungs, hier braucht jemand Hilfe«, rief sie in Richtung der Kneipe.

Die gellenden Pfeifen von gleich mehreren Polizisten beendeten die kaum begonnene Hilfeleistung, jemand hatte meinen Schrei gehört. Ein Polizist zog mich in die relative Helligkeit und Wärme einer Kneipe.

»Beim Heiligen Patrick, Madam, Sie sehen ja entsetzlich aus. Wo sind Sie verletzt? Verflucht, hat der Schweinehund heute Nacht noch nicht genug gemordet? Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich hole sofort einen Arzt. Können Sie sich noch auf den Beinen halten?«

Es war nicht verwunderlich, dass man mich für schwer verletzt hielt. Das stellte ich allerdings erst jetzt im hellen Lichtschein fest. Ich hatte mich nach der Operation nicht waschen können und die Schürze hatte natürlich nicht all das Blut abgehalten. Aber auch auf meinem Mantel befanden sich mehrere neue Blutflecken. Sie mussten bei dem Zusammenstoß mit dem Fremden zustande gekommen sein.

»Vielen Dank, Officer, aber ich brauche Ihre Hilfe wirklich nicht. Ich bin selbst Ärztin. Ich bin nicht verletzt.« Endlich hatte ich meine Fassung einigermaßen zurückerlangt.

Der Beamte starrte mich an. »Sie sind sicher, dass Sie nicht verletzt sind, Madam?« Er hatte offenbar noch auf der Straße anhand meiner Kleidung bemerkt, dass ich nicht in diese Gegend gehörte, sein Ton war höflich.

»Ich sagte bereits, ich bin Ärztin. Dr. LeBain-Chester, und ich war auf dem Weg von einem Notfall zurück nach Hause, als ich mit einem Mann zusammengestoßen bin. Seine Hände waren voller Blut. Auch auf der Kleidung, einem teuren Mantel übrigens, muss Blut gewesen sein, denn hier ist ja auch …«

»Schon gut, Madam. Wir kümmern uns darum. Die Tote da drüben wird nicht vergessen. Sie sah so schrecklich … Jemand wird Sie gleich nach Hause bringen, Madam. Weshalb sind Sie überhaupt allein unterwegs?«

Wie eine wütende Zehnjährige stampfte ich mit dem Fuß auf. Wollte der Polizist mich nicht verstehen?

»Ich habe gerade von Ihnen gehört, dass es offenbar einen Mord gegeben hat. Dann ist doch bestimmt ein Beamter von Scotland Yard am Tatort. Ich sollte ihm von meinen Beobachtungen berichten.«

»Sie sind aufgeregt, Madam, das kann ich gut verstehen. Aber der Anblick der Toten da drüben ist … ist nichts für eine behütete junge Dame wie Sie. Es ist auch nicht gut, wenn Sie in einer solchen Gegend allein herumlaufen …«

»Ich bin Ärztin und gehe dahin, wo ich gebraucht werde«, unterbrach ich ihn scharf.

»Wie Sie meinen, Madam. Ich werde Ihre Daten aufnehmen und lasse Sie nach Hause bringen. Aber ich warne Sie noch einmal, halten Sie sich von Whitechapel fern, noch dazu so ganz allein am Abend.«

»Ich versuche noch einmal, es Ihnen zu erklären, Officer, ich bin Dr. Alice LeBain-Chester und ich wurde als Ärztin zu einem Notfall gerufen. Ich gehe dahin, wo ich gebraucht werde.«

Die tote Elli Willis tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Warum hatte ich ihr nicht helfen können? Gleichzeitig fragte ich mich, ob der höfliche Polizist auch so geduldig mit einer solch einfachen Frau umgehen würde?

»Ich habe alles genau notiert, Madam – Doktor. Dieser junge Beamte wird Sie nun begleiten, und wenn Sie unbedingt darauf bestehen, können Sie morgen nochmals eine Aussage zu Protokoll geben. Ich halte das jedoch für unnötig. Wir werden den Kerl schon kriegen. – Und Sie sind wirklich nicht verletzt?«, erkundigte er sich noch einmal besorgt.

Resigniert schüttelte ich den Kopf und ließ es zu, dass ein junger schweigsamer Polizist mich bis nach Hause brachte.

Roderick war natürlich längst mit der Kutsche weggefahren, doch Iris war von ihrem freien Abend zurückgekehrt und brach in helle Panik aus, als sie meinen Zustand bemerkte. Doch ich wollte erst einmal allein sein und über den Tod meiner Patientin trauern.

 

*

 

»Ich finde es nicht gut, wenn du weiterhin allein solche Notfälle übernimmst«, sagte Roderick ernst.

Er war am frühen Morgen bereits zu mir gekommen und ich hatte ihm haarklein alles erzählt. Eigentlich sollte er mich zu Scotland Yard begleiten, wo ich mit Nachdruck meine Aussage zu Protokoll geben wollte. In dieser von Männern bestimmten Welt hoffte ich, mit ihm an meiner Seite mehr Gehör zu finden.

Ich war noch immer wütend; wütend auf den Tod, der mir die Patientin entrissen hatte; wütend auf Patrick Willis, der mir Angst gemacht hatte; wütend auf den Polizisten, der mich wie ein verzogenes Kind nach Hause geschickt hatte. Doch seitdem versuchte ich verzweifelt, mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern, mit dem ich zusammengestoßen war. Ich hatte ihn für einen winzigen Augenblick gesehen. Trotzdem konnte ich das Gesicht nicht so beschreiben, dass man ein Porträt hätte zeichnen können. Seine Augen, ja, die hatten sich förmlich in mich eingebrannt. Der gepflegte Vollbart, der Duft des Parfüms, oder war es doch Rasierwasser? Seine Hände; lang, gepflegt, voller Blut. War dieser Mann wirklich ein Mörder?

Ich versuchte, mir das Gefühl ins Gedächtnis zu rufen, als ich die Kleidung berührt hatte. Edler Stoff, sorgfältig verarbeitet.

»Alice?« Roddies Stimme holte mich aus der tiefen Nachdenklichkeit.

»Ja?«

»Hast du mir überhaupt zugehört? Ich mache mir Sorgen um dich. Du darfst nicht allein in solche Gegenden gehen. Wenn du unbedingt darauf bestehst, jedem Erste Hilfe zu leisten, dann nimm um Himmels willen in Zukunft die Kutsche oder lass dich von Innes, dem Kutscher, begleiten.«

Ich lachte kurz auf. »Liebster, dort wäre ich selbst mit der kleinsten Droschke nicht angekommen. Du machst dir wirklich keine Vorstellung davon, wie eng und verwinkelt diese Gassen sind.«

»Du willst mich offenbar nicht verstehen. Niemand will dir deine Freiheit beschneiden oder dich in deiner Arbeit behindern. Du sollst es nur nicht allein tun. Hast du die Zeitungen schon gelesen? Es steht in der Sun und übrigens nur dort. Der Mörder hat die Frau heute Nacht regelrecht ausgeweidet. Ich will mir gar nicht vorstellen, was er mit dir hätte tun können. Und ich will nicht darüber nachdenken, was dieser Willis, dieser ungehobelte Kerl, dir hätte antun können. Er hat dich nicht nur bedroht, sondern sogar körperlich angegriffen, und das, wo du nur helfen wolltest …«

»Wie hättest du an seiner Stelle reagiert?«, unterbrach ich ihn. »Roddie, der Mann hatte gerade seine Frau verloren und steht nun mit einem Haufen Kinder alleine da. Er hat kein Geld, keine Aussichten, sich vernünftig um seine Kinder zu kümmern, und vermutlich hat er nicht einmal eine regelmäßige Arbeit, der schuftet als Tagelöhner. Ich hatte Angst, ja, aber ich verstehe ihn trotzdem.«

»Dein großes Herz wird dich noch einmal in Schwierigkeiten bringen«, prophezeite er.

»Du spielst jetzt also Orakel? Soll ich mein Oujia-Brett holen?«, fragte ich spöttisch. Das rituelle Zauberbrett war gerade in der feinen Gesellschaft besonders angesagt, aber ich bezweifelte, dass auch nur eine der feinen Damen korrekt damit umgehen konnte.

Roderick küsste mich und schnitt mir auf diese Weise das Wort ab. »Kein Orakel, mein Liebling. Wir sollten uns nun auf den Weg machen, wenn du darauf bestehst, ein Protokoll aufnehmen zu lassen.«

Die Sprechstunde hatte ich für diesen Tag abgesagt, obwohl ich sonst jeden Morgen in der Ordination saß und Patienten behandelte – nun ja, einen oder zwei. Roderick half mir in den Mantel und spannte den Regenschirm auf. Er ist immer so fürsorglich, obwohl ich gut für mich selbst sorgen kann.

 

*

 

Den Weg zu Scotland Yard legten wir mit seiner Kutsche zurück, das offizielle Wappen prangte auf der Tür, und obwohl ich im Allgemeinen keinen Wert auf solchen Prunk lege, kam es mir heute doch zupass. Der Pförtner bemerkte jedenfalls sofort, dass ein Mitglied des Oberhauses bei Scotland Yard vorfuhr. Er kam aus der winzigen Kabine gelaufen und baute sich höflich neben der Kutsche auf, als wir ausstiegen.

»Womit kann ich dienen, Euer Lordschaft?«, beeilte er sich zu fragen.

»Wer ist der verantwortliche Beamte für den Mord letzte Nacht in Whitechapel?«, fragte Roderick.

Das verblüffte Gesicht des Mannes war sehenswert, und ich bemühte mich, mein Lächeln hinter der vorgehaltenen Hand zu verbergen.

»Ich – das ist – ich werde mich selbstverständlich sofort erkundigen, Euer Lordschaft.« Er lief davon, und ich betrachtete meinen gut aussehenden Verlobten, der mit dem eleganten Gehrock und dem passend silbergrauen Hut jede Frau beeindrucken konnte. Die Verlobung zwischen uns entsprang eigentlich dem Wunsch unserer Väter, aber wir waren uns einig, dass wir niemals aus Familienräson heiraten würden. Wir liebten uns wirklich, und ich wusste es durchaus zu schätzen, dass er mir meine Freiheit lassen wollte. Nicht jeder Mann unserer Gesellschaftsklasse wäre bereit, seine Verlobte oder Ehefrau in einer eigenen Arbeit zu unterstützen.

Wir betraten nun das Gebäude, da kam der Pförtner wieder auf uns zu, im Schlepptau einen Mann mittleren Alters. Er trug eine ordentliche, wenn auch nicht gerade elegante Uniform.

»Constable Hunter wird Sie zu Inspector Primrose führen, Euer Lordschaft.« Wir folgten dem Mann durch einen langen Gang, in dem es nach Staub, Fäkalien und Erbrochenem roch. Aus einem Zimmer hörten wir lauten Streit, jemand protestierte gegen seine Verhaftung, direkt neben uns kam ein Beamter mit zwei Frauen vom horizontalen Gewerbe aus einem Verhörraum.

Hunter klopfte an eine Tür, steckte den Kopf in den Raum und meldete Lord Roderick Turnbull-Haynes. War ich eigentlich unsichtbar oder gar nicht vorhanden? Es war wieder einmal der Beweis, dass wir Frauen nur schmückendes Beiwerk sind, man bemerkt uns erst dann, wenn man etwas von uns will oder wir im Wege stehen.

Das Büro war relativ klein, ein Schreibtisch mit einem Stuhl, zwei Besucherstühle davor, vier Aktenschränke – das war doch alles weniger als sparsam.

Inspector Primrose war noch recht jung. Er trug einen schmalen Oberlippenbart und auffällige Koteletten, seine eisgrauen Augen blickten freundlich, er war noch nicht abgestumpft durch das tägliche Leid und die Grausamkeit des Lebens. Er sprang auf und verbeugte sich höflich vor Roderick, der war immerhin ein Lord. Doch dann neigte er auch vor mir den Kopf.

»Meine Begleiterin ist Dr. Alice LeBain-Chester, die Tochter des Earl von Southmoreland. Wir sind hier, um eine Aussage zu Protokoll zu geben.«

Primrose knickte förmlich ein. Es kam nicht alle Tage vor, dass Leute wie wir bei der Polizei vorstellig wurden, statt die Beamten bei uns zuhause antanzen zu lassen.

»Selbstverständlich, Mylady – ich – bitte nehmen Sie doch Platz – es tut mir leid, dass ich Ihnen … Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber mit dem Commissioner in dessen Büro …«

»Inspector, Sie bearbeiten doch den Mord letzte Nacht in Whitechapel?«, unterbrach ich sein hilfloses Stammeln.

»Ja, Mylady.«

»Gut. Ich war Zeugin – nun ja, fast. Ich bin mit einem Mann zusammengestoßen, dessen Hände und Kleidung voller Blut war. Es muss der Täter gewesen sein.«

»Richtig, der Constable hat in seinem Bericht aufgeführt, dass Sie dort waren. Darf ich mit allem gebotenen Respekt fragen, was eine Lady wie Sie am späten Abend in dieser Gegend zu suchen hat?«

Verschwunden war schlagartig sein übertriebener Respekt uns gegenüber. Seine Augen blickten hellwach, der Körper war angespannt, höchste Konzentration zeigte sich in seiner Miene. Nun, er schien ausgesprochen fähig zu sein.

»Ich bin Ärztin, Inspector, man hatte mich zu einem Notfall gerufen.«

»Ich verstehe. Ist es üblich, dass Sie Patienten aus der unteren Gesellschaft behandeln?«

»Inspector, ich muss doch sehr bitten«, mischte sich Roderick ein. »Was soll denn dieses Verhör meiner Verlobten?«

»Lass nur, er macht seine Arbeit«, bremste ich ihn. »Es war das erste Mal, dass ich in dieser Gegend tätig wurde. Ein junger Mann trommelte an meine Tür und bat um Hilfe. Als Ärztin kann ich so etwas nicht ablehnen.«

»Dann sind Sie allerdings eine rühmliche Ausnahme, Mylady«, murmelte Primrose. »Jedenfalls wurde Ihre Aussage bereits vermerkt, auch dass auf Ihrer Kleidung viel Blut war, ebenso wie an Ihren Händen. Stammte das alles von dem Zusammenstoß?«

»Nein, ich habe eine Patientin während einer Risikogeburt verloren. Daraufhin wurde der Ehemann – nun ja, unfreundlich, sodass ich davongelaufen bin.«

»Das tut mir leid. Es ist vermutlich nicht einfach, wenn ein Patient stirbt, auch wenn zwischen Ihnen keine längere Beziehung bestanden hatte. Es wird Sie allerdings freuen zu hören, dass wir bereits den Mann verhaftet haben, der als Mörder infrage kommt. Nur für das Protokoll – können Sie mir den Täter noch einmal beschreiben?«

Roderick stand auf, er wirkte unzufrieden. »Wenn Sie den Täter bereits in Gewahrsam haben, Inspector, ist unsere weitere Anwesenheit hier überflüssig.«

»Verzeihen Sie, Sir, es dauert wirklich nur einen Moment«, beharrte Primrose mit plötzlich aufkommender Hartnäckigkeit.

»Ich mache das gerne«, wandte ich ein und lieferte dem Inspector die wenigen Tatsachen, die mir aufgefallen waren. Er runzelte für einen Augenblick die Stirn.

»Teure, elegante Kleidung? Edles Rasierwasser?«, wiederholte er nachdenklich und zweifelnd.

»Kann ich den Mann sehen?«, fragte ich rasch und bemerkte, dass Roderick nach Luft schnappte. »Das ist nicht dein Ernst, Alice«, begehrte er auf. Ich schenkte ihm ein winziges Lächeln.

»Ich bin doch nur neugierig, das wirst du doch verstehen? Geh ruhig schon zurück in die Kutsche. Inspector Primrose wird mich bestimmt vor allen bösen Verbrechern beschützen.«

Der wiederum sah nun auch nicht gerade begeistert aus, hütete sich jedoch vor Widerspruch.

»Ich bleibe selbstverständlich an deiner Seite«, verkündete mein stolzer Lord tapfer.

Primrose führte uns eine Treppe hinunter in den Keller, wo sich die Zellen für kurzzeitig Inhaftierte befanden, und hielt dann vor einer schweren Holztür mit drei dicken Schlössern und einer Luke in Kopfhöhe an. Er schob einen Riegel auf und ich konnte in die Zelle hineinsehen.

»Gefangener, stellen Sie sich vor der Tür auf«, befahl der Beamte.

Ein Grunzen, dann stellte sich eine Person so, dass ich das Gesicht undeutlich sehen konnte. Aber es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was ich für einen winzigen Augenblick in der Erinnerung besaß. Nein!

»Das ist nicht der Mann«, rief ich laut.

»Bist du sicher? Du hast ihn doch kaum gesehen.«

»Roderick, dieser Mann da drinnen ist fast einen Kopf kleiner. Und schau dir die Kleidung an, die ist von billigster Machart. Die ganze Körperhaltung stimmt nicht …«

»Mylady, es tut mir leid, aber das hier ist eindeutig der Täter. Wir haben auch schon ein Geständnis«, mischte sich der Inspector ein.

Ich bemerkte ein blaues Auge und eine hässliche Schramme quer über der Wange des Gefangenen. Hatte jemand bei dem Geständnis nachgeholfen?

»Das ist ganz sicher nicht der Mann, der mit Blut an den Händen und an der Kleidung mit mir zusammengestoßen ist. Sie haben den falschen verhaftet, Inspector«, beharrte ich.

»Sie werden verzeihen, Mylady – nicht, dass ich Ihre Aussage anzweifeln möchte, die Sie bestimmt nach bestem Wissen gemacht haben …«

»Reden Sie mit mir nicht wie mit einem kleinen Kind«, fuhr ich ihn an. »Ich weiß genau, was ich gesehen, gehört und gerochen habe. Es handelt sich eindeutig um eine andere Person.«

»Der Fall ist abgeschlossen, es tut mir leid. Ich wiederhole, wir haben bereits ein Geständnis, und es wird keine weitere Untersuchung geben. Auch nicht aufgrund Ihrer Aussage, Mylady.«

»Wohl auch deswegen nicht, weil der Mord an einer unwichtigen Frau im Whitechapel nicht gerade an erster Stelle der Prioritätenliste steht«, stellte ich erbittert fest.

Primrose zuckte die Schultern. »Scotland Yard ist Ihnen sehr dankbar für Ihre staatsbürgerliche Mithilfe. Aber ich vermute, Sie müssen sich täuschen, was angesichts der äußeren Umstände durchaus verständlich ist.«

Ich kochte vor Wut. Hätte Roderick eine solche Aussage gemacht, wäre vermutlich der ganze Fall neu aufgerollt worden. Vielleicht aber auch nicht, schließlich handelte es sich bei dem Opfer um eine höchst unwichtige Person.

»Sie werden impertinent, Inspector, aber vermutlich können Sie gar nicht anders handeln. Dennoch werde ich es Ihnen beweisen. Da draußen läuft weiterhin ein Mörder frei herum. Ein Mörder aus der gehobenen Gesellschaft, der vielleicht wieder morden wird. Der arme Kerl da drinnen hat vielleicht ein paar kleine Gaunereien begangen, aber ein Mörder ist er sicher nicht.«

»Alice«, flehte Roderick und war einigermaßen entsetzt. Primrose wirkte ungerührt. »Überlassen Sie bitte kriminologische Untersuchungen der Polizei. Es gibt nichts zu beweisen, Mylady. Der Täter ist gefasst, der Fall ist abgeschlossen.«

»Aber Sie haben den Falschen«, beharrte ich.

Nun aber hatte mein Verlobter genug. Ich weiß nicht, ob er mir glaubte, doch er verhinderte resolut, dass ich mich vollständig zum Narren machte. Energisch legte er den Arm um meine Schulter und drängte mich nach draußen.

»Sie haben recht, Inspector Primrose, Sie haben einen geständigen Täter. Lady Alice hat in der Nacht nicht viel erkennen können. Wir danken Ihnen für Ihre Geduld. Auf Wiedersehen.«

Er schaute mich mit einem strengen Blick an. »Sei vernünftig, wir reden draußen weiter«, murmelte er.

Ich sprühte förmlich vor Wut, doch er hatte recht. Widerstrebend ging ich mit ihm die Treppe hinauf und zwang mich zur Beherrschung und zu einem Lächeln, solange der Inspector uns noch begleitete.

»Auch ich danke Ihnen, Inspector, Sie waren sehr – entgegenkommend«, erklärte ich artig.

»Das ist meine Aufgabe.« Höflich wartete er, bis wir in der Kutsche saßen und die Tür geschlossen war.

»Warum hast du das getan?«, begann ich zu schimpfen. »Der Mann da unten in der Zelle ist unschuldig.«

»Mag sein. Aber du wirst es nicht ändern. Tut mir leid, aber ich gebe dem Inspector recht. Der Fall ist abgeschlossen.«

Das wollte ich so nicht stehen lassen und es kam zum ersten richtigen Streit zwischen uns.

 

*

 

Zwei Tage später lieferte ein Bote einen riesigen Blumenstrauß und eine Schachtel Pralinen bei mir ab. Ein Umschlag mit einem Brief steckte zwischen wunderbaren Rosen. Die mussten um diese Jahreszeit ein kleines Vermögen gekostet haben.

Geliebte Alice. Das tut mir leid, dass diese unliebsame Angelegenheit in einer Missstimmung zwischen uns gipfelt. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist, und werde alles dafür tun. Gehen wir heute Abend bei TARDYS essen? Ich bin sicher, du wirst von dem Restaurant begeistert sein. In Liebe, Roderick. PS: Der Bote wartet auf Antwort.

Ja, der Bote stand geduldig vor der Tür. Natürlich hatte ich meinem Verlobten längst verziehen und vorgehabt, heute Nachmittag nach der Sprechstunde zu ihm zu fahren. Das erübrigte sich jetzt. Rasch nahm ich eine Karte und schrieb einige Worte darauf.

Ich nehme deine Einladung mit großer Freude an. Ich liebe dich, Alice.

Dem Boten gab ich ein großzügiges Trinkgeld und freute mich den ganzen Tag über auf den Abend. Pünktlich stand Roderick vor der Tür und ich hörte den bewundernden Ausruf von Iris, die ihm öffnete. Mein Lord sah also wieder einmal umwerfend aus.

Ich war ausgehbereit, warf aber noch einen letzten Blick auf die Zeitung von heute und las murmelnd den Artikel. Es war nur ein kleiner Bericht, der mich jetzt noch traurig machte.

»Wie Scotland Yard mitteilte, wurde der Mord an einer Frau in Whitechapel bereits aufgeklärt. Die Ermittlungen führten zu einer schnellen Ergreifung des Täters, der mittlerweile gestanden hat. Barbara O’Connel war in der Nacht zum Dienstag auf bestialische Weise umgebracht worden. Der grausame Tod erinnerte an die Taten von Jack the Ripper, der allerdings nie gefasst werden konnte. Hier nun führte die sorgfältige Arbeit der Polizei zu einem schnellen Erfolg, für den wir alle dankbar sein sollten. Wie Scotland Yard weiterhin mitteilte, bestehen keine Zweifel an der Täterschaft. Der Beschuldigte wurde bereits einem Richter vorgeführt, der Haftbefehl erlassen hat.«

 

Es war also jetzt eine Tatsache und ich konnte nichts mehr daran ändern, dass ein Unschuldiger angeklagt wurde. Aber niemanden interessierte meine Empörung, ausgenommen vielleicht Roderick, aber auch das nur vielleicht.

Ein letzter Blick in den Spiegel. Ich trug ein blaues, elegantes Kleid, das verschwenderische Spitzenapplikationen am Kragen und an den Ärmeln besaß. Der schmal geschnittene Rock sprang im Gehen nach vorn auf und zeigte Kaskaden von Stoff, die dank des raffinierten Schnitts wie ein Wasserfall wirkten.

»Ich komme«, rief ich oben an der Treppe und ging vorsichtig die Stufen hinunter. Roderick trug einen grauen Anzug mit schwarzer Steppnaht und ein blütenweißes Hemd sowie eine Fliege aus grauer Seide. Er starrte mir entgegen, als würde er einen Geist sehen.

»Du siehst einfach fantastisch aus«, erklärte er dann beeindruckt.

Auch Iris strahlte mich an. Sie war der Meinung, dass ich mich viel zu selten in eleganter Kleidung in der Öffentlichkeit zeigte.

»Ich werde heute Abend eine Menge neidischer Blicke ertragen dürfen«, erklärte Roddie und küsste mich zärtlich.

»Holst du dir den Nachtisch schon vor der Hauptmahlzeit?«, flüsterte ich.

»Du schmeckst als jede Mahlzeit gut«, murmelte er.

Er legte seinen eleganten schwarzen Umhang mit dunkelrotem seidenem Futter um, ich nahm ein Cape, das wunderbar zu meinem Kleid passte, dann fuhren wir los.

 

*

 

Das TARDYS hatte vor etwa vier Monaten geöffnet und war sofort voll eingeschlagen. Man hatte unter anderem zwei französische Köche eingestellt, die Speisekarte bot neben unseren guten englischen Mahlzeiten einen Querschnitt ausländischer Speisen, vorzugsweise Französisch, Deutsch und Italienisch. Das Personal war aufmerksam und unauffällig, die Weinkarte galt als sensationell, die Preise waren allerdings entsprechend hoch. Es war unvermeidlich, dass wir auf Bekannte trafen, während wir zu unserem Tisch geleitet wurden. Roderick hatte einen Tisch reserviert, der sich etwas separiert in eine Nische schmiegte. Wir konnten auf diese Weise das ganze Lokal überblicken, während man von uns nicht viel bemerkte.

Schon die Suppe war eine Köstlichkeit. Wir ließen sie uns schmecken, wobei wir uns angeregt unterhielten und das heikle Thema bislang aussparten.

Ein Paar wurde zu einem anderen Tisch in unserer Nähe geleitet. Interessiert betrachtete ich das elegante taubengraue Kleid der Frau, die allerdings nicht besonders fröhlich wirkte. Plötzlich hob ich schnuppernd den Kopf.

»Riechst du schon den nächsten Gang? Ich habe dir nicht zu viel versprochen?«, fragte Roderick interessiert.

»Nein, dieser Geruch – ich kenne ihn …«

»Das ist das Chateaubriand, das uns gleich serviert wird«, unterbrach er mich, doch ich winkte heftig ab.

»Nein, ich meine diesen Geruch – dieses Rasierwasser – Roderick, das ist der Mörder.« Ich spähte zu dem Paar hinüber, das gerade zum Tisch geleitet worden war.

»Nun reicht es aber wirklich, Alice. Das ist ja schon eine fixe Idee bei dir.«

Ich behielt nur nach außen hin ein ruhiges Äußeres. »Ich täusche mich nicht. Dieses Rasierwasser ist höchst auffällig, ich wette, es wird speziell für ihn gemischt. Auch die Größe des Mannes passt und die Kleidung ist erstklassig. Dazu kommt der Bart …«

»Ich bitte dich, in London gibt es mindestens zweihundert Männer, die so ähnlich aussehen. Mach dich bitte nicht lächerlich«, beschwor er mich.

»Ich habe nicht vor, mich lächerlich zu machen. Ich will nur einen Mörder entlarven.«

»Das ist Aufgabe der Polizei, im Übrigen ist der Fall abgeschlossen.«

»Das heißt, die Polizei wird nichts tun«, konstatierte ich erbittert.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass die beiden am Nebentisch stritten, worüber, das konnte ich nicht hören. Sie sprachen ebenso leise wie wir. Das Gesicht meines Verlobten zeigte blankes Entsetzen.

»Du wirst nicht zu diesem wildfremden Mann gehen und ihn des Mordes bezichtigen. Du könntest in dem Fall froh sein, wenn er das nur für einen schlechten Scherz hält.« Noch während Roderick sprach, war ich bereits aufgestanden.

»Du bleibst hier.«

Aber ich war schon weg und bemühte mich um ein höfliches Lächeln. »Sie werden verzeihen, dass ich Sie belästige«, begann ich und hörte noch die Frage der Frau.

»Wo bist du in der Nacht zum Dienstag gewesen? Hast du eine Mätresse?« Beide blickten mich irritiert an.

»Sie wünschen?«

»Ich bin Dr. LeBain-Chester und ich glaube, Ihr Gatte kann mir eine Frage beantworten.«

»Ich verstehe nicht«, knurrte er ungehalten. »Kennen wir uns etwa?«

»Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, doch wir sind am späten Montagabend zusammengestoßen. Ihre blutigen Hände haben meine Kleidung beschmutzt.«

»Montagabend?«, wiederholte die Frau mit schriller Stimme.

»Ich verstehe kein Wort«, sagte er brüsk. »Weshalb sollte ich Sie mit Blut beschmutzen? Ich kenne Sie nicht. Nun wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie gehen.«

Nun bekam ich jedoch unerwartete Schützenhilfe von der Frau. »Ich habe dir diese Frage auch gerade gestellt. Du bist am Montagabend nicht zuhause gewesen und du hast andere Kleidung getragen, als du nach Hause gekommen bist. Wo warst du? Was hast du getan, Robert?«

Er sprang unvermittelt auf, der Stuhl fiel hintenüber. Nun kam auch Roderick näher.

»Ich sagte schon, ich kenne diese Frau nicht«, erklärte der Mann unwillig. »Ich finde auch deine Fragen peinlich und aufdringlich, Mary«, herrschte er sie an.

»Ich bleibe dabei, Sie hatten blutige Hände«, wiederholte ich und war meiner Sache absolut sicher. Sein Gesicht verzerrte sich.

»Ich hatte blutige Hände, sagen Sie? Ihr Kleid sah aus, als wären Sie gerade vom Schlachtfeld gekommen«, stieß er so laut hervor, dass es niemand überhören konnte. Längst hatten alle aufgehört zu essen und lauschten interessiert oder peinlich berührt unserem Streit. Doch nun hatte der Mann unbewusst zu viel gesagt, was ihm nun selbst auffiel.

Seine Frau stieß einen spitzen Schrei aus, er wirbelte herum, stürmte auf mich zu und versuchte, mich mit dem Messer vom Gedeck zu treffen.

Roderick brüllte auf und warf sich dazwischen, verfehlte den Mann aber. Das Messer erwischte mich am Oberarm, die Ehefrau erwachte aus ihrer Schockstarre. Blitzschnell nahm sie vom Nebentisch eine Terrine mit der köstlichen, aber brüllend heißen Suppe und kippte sie über den Kopf ihres Mannes.

Der schrie auf, brach in die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mary liefen die Tränen über das Gesicht. »Ich dachte, er hätte eine Geliebte. Aber er ist ein Mörder, eine verabscheuungswürdiges Monster. Robert, wie konntest du nur?« Sie kniete sich neben ihn hin und weinte an seiner Schulter.

Längst hatte das Personal des TARDYS die Polizei verständigt. Gleich drei der Constables kamen herein und versuchten, aus der verworrenen Situation schlau zu werden.

Roderick behielt in diesem Chaos eine bewundernswerte Übersicht. Es stellte sich kurz vor und erklärte in wenigen Worten die Lage, bat darum, den Mann in Gewahrsam zu nehmen und augenblicklich Inspector Primrose zu verständigen. Die Polizisten waren nur zu gern bereit, einem Lord zu Diensten zu sein.

Wir begleiteten natürlich alle zur Wache, und erst jetzt fiel meinem Verlobten auf, dass mein Arm voller Blut war. Er wurde blass. Ich schaute ihn irritiert an. Sollte mein geliebter Verlobter etwa Angst vor Blut haben?

Gut eine halbe Stunde später war auch der Inspector anwesend und die Sache konnte endlich geklärt werden. Ein Officer hatte einen Arzt verständigt, der sich zunächst um die heftigen Verbrennungen des Mörders kümmerte. Ich hatte festgestellt, dass meine Wunde nicht schwerwiegend war, und wartete geduldig.

»Sie sehen mich betrübt, Mylady«, erklärte Primrose schließlich. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«

»Sie konnten nicht anders«, versuchte ich zu relativieren. »Sie haben Ihre Arbeit gemacht, wie es einem Polizisten zukommt, dafür verdienen Sie Respekt.«

»Ich habe nur noch eine Bitte«, sagte er rasch.

»Ja? Was kann ich für Sie tun?«

»Gehen Sie nie wieder allein durch die Nacht und überlassen Sie die Aufklärung von Mordfällen bitte Scotland Yard. Ich könnte es nicht verantworten, dass Sie noch einmal verletzt werden.«

»Das, Inspector, kann ich Ihnen nicht versprechen.« Dann schleppte ich meinen immer noch bleichen Roderick zur Kutsche, sodass wir endlich nach Hause fahren konnten.

 

E N D E

 

Ebenfalls erhältlich in unserem

umfangreichen BOXEN-Programm:

 

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DIE LEICHE IM PARK

Box 1 – Story 2

Boston, 12. Dezember 1921

Die wundervollen Glaskügelchen, in denen lang brennende Talglichter steckten, verbreiteten eine festliche und anheimelnde Atmosphäre im Vorgarten der Villa.

Wohl über hundert mussten in den Büschen vor dem mit Säulen besetzen Haupteingang angebracht worden sein.

Eine harte Arbeit für das Personal, diese Lichter alle zu entzünden.

Doch die Gäste, welche die fünf breiten Marmorstufen zur gleichfalls weißen Eichenholztür hinaufgeschritten waren, hatte der Glanz begeistert.

Wie immer um diese Zeit gab Lady Sylvana Barington ihre berühmte vorweihnachtliche Party.

In der festlich geschmückten Halle tummelte sich alles, was in Boston Rang und Namen hatte.

Man könnte sagen, der gesamte Geldadel dieser amerikanischen Region war anwesend.

Es ging um gesellschaftliche Kontakte und – natürlich – Wohltätigkeit.

Wobei letzteres eher hinten anstand.

Lady Sylvana Barington war nicht irgendwer.

Immerhin gehörten ihr nicht nur achtzig Prozent des BOSTON HEROLD – eine der renommiertesten Tageszeitungen – sondern auch in diesem Stadtviertel zahlreiche Immobilien.

Sie hatte völlig marode Häuser aufgekauft und in annehmbare Wohnungen für gering begüterte Menschen erstellen lassen.

Ihre karitative Ader war weit über die Stadt hinaus bekannt.

Ebenso die Exklusivität ihrer Partys.

Wer etwas gelten wollte in Boston, musste wenigstens einmal von der Lady eingeladen worden sein.

Durch das Gewimmel und Stimmengewirr unbeeindruckt lagen die beiden Labradore auf den Treppenstufen zum Obergeschoss und machten den Eindruck zu dösen. Wäre nicht bei Molly oder bei Tristan immer mal ein Auge aufgegangen, um abschätzend das Umfeld zu sondieren.

Lady Barington zog durch ihren Charme die männlichen Gäste in ihren Bann.

Die Damen betrachteten sie eher distanziert.

Die dunkelhaarige, vierzigjährige Diplomatengattin faszinierte in ihrem perlmuttfarbenen Abendkleid. Im Haar trug sie modisch eine weiß eingefärbte Reiherfeder.

Von den anwesenden Herren wurde gleichfalls ihr messerscharfer Verstand gelobt und bewundert, wenn dieser auch – neben ihrer Größe, dem Gardemaß für eine Frau von 185 Zentimetern – vielen Platzhirschen Angst machte.

Wie analytisch sie denken konnte, hatte sie bereits mehrfach unter Beweis stellen können. Wofür besonders der Chief Lieutenant der Boston Police dankbar war.

»Man nennt allgemein ihre Kombinationsgabe schon Das Mysterium«, hatte er einmal geäußert.

 

*

 

Es herrschte fröhliche Vorfesttags-Stimmung.

Eine große Zahl der Gäste drängte sich am erlesenen Buffet.

Mrs. Gouvern, die Gattin des Direktors der Central Bank, segelte auf die Lady zu und flötete: »Das haben Sie ja wieder wundervoll gemacht. Ich bewundere Sie, wie Sie nach dem Tod Ihres Gatten den Lebensmut gehalten haben.«

Lady Barington lächelte die aufgedonnerte Fünfzigjährige an. »Es ist nicht immer einfach gewesen. Zu Anfang. Aber … die Dinge sind, wie sie sind.«

Mrs. Gouvern legte theatralisch den Kopf schief und drehte die Augen zur kostbaren Stuckdecke mit den Kristallleuchtern. »Wie recht Sie haben, meine Liebe.«

Glücklicherweise unterbrach die Gesellschafterin der Lady das aufdringliche Gehabe.

Lady Barington entschuldigte sich und kam zu Lydia herüber, die am Treppenabsatz mit dem roten Läufer stand.

Lydia wirkte nervös.

Sylvana Barington zog fragend eine Augenbraue hoch.

Statt einer Antwort zog ihre Gesellschafterin … und auch Freundin … sie in das angrenzende Arbeitszimmer. Sie schloss die Schiebetür und sogleich dämpfte sich das stimmliche Wirrwarr.

»Hinter der Laube im Park liegt jemand.«

Sylvana runzelte die Stirn. »Einfach so …?«

Lydia schüttelte den Kopf. »Eher tot. In seiner Stirn befindet sich ein kreisrundes Loch. Ich schätze mal Kaliber 45.«

Sylvana presste die flache linke Hand an den Mund. »Oh – ein Armeecolt. Wie unangenehm. Gerade heute.«

Lydia – eine ehemalige Ärztin aus England, aber dort als Pathologin nicht zugelassen – hatte Lady Barington auf einem Kongress in Los Angeles kennengelernt, den sie als Gast in Begleitung eines renommierten Arztes besuchen durfte.

Sylvana war von ihren Sachkenntnissen der modernen Leichenschau so begeistert, dass sie ihr im Keller der Villa vor zwei Jahren ein Labor eingerichtet hatte.

Ihre Ergebnisse in einem Mordfall vor sechs Monaten hatten den Chef-Pathologen des Bezirkskrankenhauses von Boston sehr geärgert. Zumal Chief Lieutenant Koszeck sich begeistert äußerte und auf den Grundlagen der Untersuchung den Mörder festnehmen konnte.

Seitdem konnte man mit Sicherheit sagen, dass Lydia und der Pathologe niemals Freunde werden würden.

»Wer hat den Toten gefunden?«, wollte Sylvana Barington wissen.

»Charles, als er von der Garage gekommen ist. Er hat den Studebaker abgeschlossen und dann die Abkürzung durch den Park genommen. Da ist er fast über die Leiche gestolpert.«

Sylvana sog die Luft ein. »Hast du dir den Toten schon angesehen?«

Lydia nickte. »Er muss mehr als drei Stunden tot sein. Aber …«

Sylvana blickte abwartend.

»Er ist nicht hier gestorben, er wurde hier platziert. Vor nicht länger als einer halben Stunde.«

»Wozu sollte das gut sein?«

Lydia deutete zum Fenster. Blinklichter spiegelten sich dort.

»Um die Polizei zu bestellen.«

Es dauerte auch nicht lange, da wurde ausgiebig die Schelle an der Eingangstür betätigt.

Lydia öffnete.

Vier finster dreinblickende Polizisten standen vor der Tür.

»Miss Lydia McAnderson – Sie sind festgenommen wegen des Mordes an Henry Parker!«

Die Angesprochene blickte irritiert. »Bitte? Ich … kenne keinen Henry Parker.«

Zwei Polizisten nahmen sie in die Mitte und schoben sie in den kleinen Vorflur neben dem Arbeitszimmer.

Hilflos blickte sich Lydia um. Da kam die Lady heran.

»Officer McGrew … was verschafft uns die Ehre?«

Der reckte das Kinn vor. »Wir erhielten einen Tipp!« Er winkte zwei weitere Polizisten heran, die sich schnurstracks, bewaffnet mit Handlampen, quer durch die Halle in den Garten begaben. Sylvana stemmte die Hände in die Seiten. »McGrew! Was soll das?«

»Das, verehrte Lady Barington, werden Sie gleich sehen.«

Die Lady zuckte die Achseln.

Nach zehn Minuten kehrten die Polizisten mit leicht betretenen Mienen zurück.