Peter Bichsel

Auch der Esel hat eine Seele

Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971

Mit einem Vorwort des Autors

Herausgegeben von Beat Mazenauer

Suhrkamp

Vorwort – das letzte

Eine meiner ersten Lesungen nach dem Erscheinen der Milchmanngeschichten war im Realgymnasium in Basel. Walter Widmer, der Vater des Schriftstellers Urs Widmer, veranstaltete sie, und er hatte mit seinen leidenschaftlichen Einführungen ein großes und großartiges Publikum herangezogen, das sich im Literaturbetrieb einen Namen gemacht hatte; Autoren rissen sich darum, dort lesen zu dürfen. Selbstverständlich war ich stolz darauf. An seine Einführung erinnere ich mich nicht mehr, ich war zu aufgeregt. Aber er lobte mich – unter anderem auch damit, daß er sagte: »Er hat noch nie ein Vorwort oder Nachwort geschrieben«, und er schimpfte über die gängige Unkultur der Vor- und Nachwörter. Ich nahm mir damals vor, nie eines zu schreiben.

Inzwischen sind es unzählige geworden. Alle unwillig geschrieben, alle so etwas wie ein Verrat an meinem väterlichen Freund Walter Widmer. An ein solches Vor- oder Nachwort erinnere ich mich mit Schrecken und Scham. Ein Verleger fragte mich an, ob ich bereit wäre ein Nachwort für einen seiner Autoren zu schreiben – es eilte und ich kannte diesen Autor, hatte alles von ihm gelesen und war davon begeistert. Sein neues Buch brauchte ich vorerst nicht zu lesen, und ich schrieb ein begeistertes Nachwort, glücklicherweise ohne ein Werk von ihm zu erwähnen, vielmehr von seiner Art zu leben und seiner Art zu schreiben. Erst als mir der Verleger das Buch mit einem Brief und einem Brief des Autors zusandte, schreckte ich zusammen. Ich hatte, weiß der Teufel weshalb, über einen ganz anderen Autor geschrieben, aber ich wurde nun gelobt dafür, daß ich diesen einen und falschen – auch ihn kannte ich, und sein Name im Text war der richtige – so exakt getroffen und sein Schreiben so einfühlsam beschrieben hätte. Ich hatte mit seinem Namen einen wirklich ganz anderen beschrieben. Der Schrecken sitzt mir heute noch in den Knochen, aber auch die tröstliche Einsicht, daß Vor- und Nachwörter austauschbar sind.

Das gilt auch für dieses Vorwort. Schreibe ich über mich oder über einen anderen?

Sollte ich über mich schreiben, dann über einen alten ehemaligen Schriftsteller, der das Schreiben mehr oder weniger hinter sich gelassen hat; schreibe ich aber über den anderen, dann über einen, der sich nach und nach herantastet an das Schreiben, auch wenn er das schon als kleines Kind getan hat. Die Entdeckung der Buchstaben war das größte Abenteuer seines Lebens, und sein Schreiben hatte mit nichts anderem zu tun als mit der Begeisterung für diese Buchstaben, damit zum Beispiel, daß man mit den Buchstaben a, h, s und u ein richtiges Haus, oder gar mehr, nämlich das Haus aller Häuser bauen kann. Und selbstverständlich wurde er auch zum Leser. Erst mal zum Leser der wenigen Bücher, die er zu Hause fand: Die Bibel. Kochs Großes Malerhandbuch, siebzehn Bände von Meyers Konversationslexikon, schön von vorn bis hinten gelesen; erster Band von A bis Aslang, zweiter Band von Asmanit bis Biostatik, so stand es auf den Rücken der Bände, bis zum letzten Band von Turkos bis Zz. Und er entdeckte erst viel später, daß dies nur mit dem Alphabet zu tun hat. Er hielt diese Wörter lange Zeit für so etwas wie die geheimen geografischen Eckpfeiler des Wissens, die Magie der Buchstaben. Hätten seine Eltern viele Bücher gehabt und »richtige« Bücher, er wäre wohl nie zum Leser geworden.

Dann sammelte ich im ganzen Quartier alte Zeitungen und Heftchen ein, und las alles unter dem Strich, also das, was man damals Feuilleton nannte, entdeckte die Stadtbibliothek, las nur noch Gesamtwerke, und zwar so wie meine Kollegen ihren Karl May – Band 1, Band 2, Band 3… Und dann, etwas später, entdeckte ich durch Zufall die Dadaisten, die Konkreten, Heißenbüttel, und mein Schreiben – Gedichte – bekam eine Grammatik und Struktur – »Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen«: für mich konkrete Dichtung, für meine Leser und Kritiker etwas ganz anderes – aber ich war jetzt ein Schriftsteller geworden, wie auch immer, aber eigentlich durch ein Mißverständnis. Es klärte sich drei Jahre später glücklicherweise auf bei meinem zweiten Buch »Die Jahreszeiten«, das nur noch wenigen, mir zum Beispiel, gefallen wollte und den Kritikern schon gar nicht.

Die Texte in diesem Buch habe ich recht flüchtig durchgelesen, weil ich mich irgendwie vor ihnen fürchte. Ich fürchte mich vor Biographie, vor der Biographie eines alten Mannes. Trotzdem bin ich Beat Mazenauer sehr dankbar für sein liebevolles Suchen und Sammeln, ohne ihn wären sie verloren. Als gedrucktes Buch, das Sie, liebe Leserin, jetzt in den Händen halten, werde ich die Texte sicher auch gründlich lesen.

1963/64 war ich im Literarischen Colloquium in Berlin als kleiner Provinzler in der großen Stadt, über alles staunend, auch über diese Dichterschule, über unsere Lehrer, Höllerer, Peter Weiss, Rühmkorf, Hans Werner Richter, Günter Grass. Ich habe dort das Dazugehören gelernt und auch, daß Schreiben durchaus etwas Gemeinsames sein kann. In Sigtuna/Schweden las ich vor der Gruppe 47, und kurz darauf erschien mein kleines Buch »Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen«. Ein Jahr darauf las ich bei der Tagung der Gruppe 47 in Berlin. Ich gehörte jetzt zu meiner eigenen Überraschung dazu. Ich kriegte den Preis, und das kam so:

Am Samstagabend wurde recht viel getrunken, und ich hielt da tapfer mit. Da kam Hans Werner Richter zu mir und sagte: »Das ist gescheit von dir, daß du nicht liest, es hatte noch nie einer zweimal hintereinander Erfolg.« Und die beiden Wörter »gescheit« und »Erfolg« weckten meinen Trotz, damit wollte ich nichts zu tun haben und ich sagte: »Doch, ich lese morgen.« Nun versuchten mich alle davon abzuhalten, als erster Reich-Ranicki. Ihm sagte ich: »Doch – wunderbare Texte. Ich habe nur die Noten zu Hause vergessen.« »Was für Noten?« »Ich werde singen.« Ranicki ging zu meinem Verleger Otto F. Walter. Und nun versuchten mich alle abzuhalten und machten mich zu Recht auf meine Betrunkenheit aufmerksam. Und ich wußte, ich werde mit meinen Texten aus den »Jahreszeiten« durchfallen, und ich freute mich diebisch darauf. Ich fiel nicht durch, und gesungen habe ich selbstverständlich auch nicht.

Aber gleich nach meiner Lesung mußte ich gehen, ich war Lehrer und mußte am Montag in der Schule sein. Jetzt wollten mich alle zurückhalten und sagten: »Du kriegst den Preis, du mußt bleiben.« Ich ging. Und als ich nach einer umständlichen Reise in Solothurn ankam, stand am Bahnhof meine Frau Therese mit einem Telegramm: »Gratuliere zum Preis der Gruppe 47 – Hans Werner Richter.«

Und das gehört nun wirklich nicht in ein Vorwort und der Schluß der Geschichte auch nicht: Wir gingen nach Hause und ich telefonierte nach Berlin. Der Portier in der Loge am Wannsee nahm ab, und ich fragte nach Hans Werner Richter. »Ich kann ihn nicht ans Telefon holen, der Herr Regierende Bürgermeister ist im Saal.« »Hält er eine Rede?« »Nein, die Herren unterhalten sich.« Ich erklärte ihm von meinem Preis, und er gratulierte mir herzlich, ließ sich aber nicht bewegen in den Saal mit Regierendem Bürgermeister – Willy Brandt – zu gehen. »Sagen sie mal, ich kenne mich nicht aus in deutschen Gebräuchen, aber müssen die Deutschen auch aufs Klo, wenn der Regierende Bürgermeister usw. Das Klo ist doch gleich neben ihrer Loge. Sollte also einer trotz Bürgermeister« – ach Quatsch, was soll das. Aber es ist nun mal erzählt. Und damit habe ich den Faden verloren.

Wo sind wir stehengeblieben?

Ich fürchte mich vor Biographie, vor der Buchhaltung des Lebens. Ich erinnere mich nicht gern an mich. Ja, ich werde diese Texte lesen – sozusagen gleichzeitig mit meinen Leserinnen und Lesern –, und sie werden mich erinnern – nicht eigentlich an mich, vielmehr an die vielen, die mein Schreiben begleitet haben. Jörg Steiner, der erste richtige Schriftsteller, den ich persönlich getroffen habe und der mir, als ich mich von ihm verabschiedete, um in dieses Colloquium nach Berlin zu gehen, noch nachrief: »Vergiß nicht, schreiben kannst du, laß dich zu nichts überreden.« An Hugo Leber und Bruno Schärer, die mich 1968 für ein Jahr an die »Weltwoche« holten. Vielleicht wäre ich ohne sie nie zum Kolumnenschreiber geworden. Ich war ihr Lehrling. Ja, Texte eines Lehrlings, Einübungen und dazugehören. Und die Texte Woche für Woche in der Druckerei kontrollieren, in Blei lesen: Buchstaben, Buchstaben, da waren sie wieder.

Aber dazugekommen war so etwas wie Ernst, eine gewisse Direktheit, Engagement. Auch das hat mir gefallen und erinnert mich an jene Zeit – 68 –, die mich entscheidend geprägt hat, nicht einfach so und direkt, ich war schon etwas älter als die 68er, und ich hatte zu lernen, mühsam zu lernen. Auch daran erinnern mich meine Texte aus jener Zeit – einer Zeit, die jung war.

Inzwischen – so scheint mir – bin nicht nur ich alt geworden, sondern auch die Zeit. Geblieben ist mir das Lesen, fast nur noch Bücher, die ich bereits gelesen habe, die ich noch einmal und noch einmal lesen möchte. Diese Bücher erinnern mich mehr an mich als meine eigenen Texte. Ich erinnere mich beim Lesen von Joseph Conrad sozusagen Zeile für Zeile an jenen Jüngling, der es damals zum ersten Mal gelesen hat.

Auf Wiedersehen, auf Wiederhören, auf Wiederlesen.

 Bellach/Solothurn, September 2019

 Peter Bichsel

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Eine Kolumne aus »Die Tat« 1963

In seinem Gedächtnis

Einer war in der Stadt, und es liegt mir fern, ihn hier ausführlich zu beschreiben, der kannte die Geburtsdaten der Leute. Er hatte ein riesengroßes Gedächtnis, in ihm stapelte er Geburtsdaten auf. Er fragte die Leute nicht nach ihrem Namen, er fragte sie nach dem Geburtsdatum. Er rempelte sie später, vielleicht Jahre später auf der Straße an und preßte mit seiner schweren Zunge hervor: »Du hast gestern Geburtstag gehabt« oder er sah jemanden in der Wirtschaft und sagte: »12. April.« Er täuschte sich nie. Er konnte Zwillinge auseinanderhalten, wußte, welcher der Erstgeborene war und verstand die kompliziertesten Familienverhältnisse in seinem Kopfe zu ordnen. Dabei, das muß hier gesagt sein, gab er sich nicht mit Astrologie ab, nur mit Geburtsdaten und er suchte nichts in ihren Zufälligkeiten und Unzufälligkeiten.

Es hat einen Grund, daß ich das aufschreibe.

Er war ein Trottel. Man weiß, daß Idioten oft ein überraschendes Gedächtnis haben. Ich kannte einen anderen und verehrte ihn damals, der lernte den Fahrplan und zwar den großen, internationalen – auswendig.

Dieser nun also merkte sich Geburtsdaten, doch er gratulierte niemandem zum Geburtstag. Seine Fähigkeit machte ihm Freude. Seine Fähigkeit ließ sich auch kontrollieren und die Leute sagten etwa ›großartig‹, wenn seine Behauptung zutraf und das tat sie immer. Er wußte auch auf den Tag genau, wie das Wetter in den vergangenen Jahren war, das konnte man nicht kontrollieren und man glaubte es auch nicht, trotzdem es einen gefreut hätte, wenn es zugetroffen hätte. Er war ein glücklicher Mensch, ich hörte oft sagen: »Er ist doch ein glücklicher Mensch.« Er war weder böse noch gefährlich, alle mochten ihn gut. Wenige kannten seinen Namen und vielleicht niemand sein Geburtsdatum. Vielleicht hatte er selbst keines. Ja, bestimmt, hatte er keines. Ich glaube, er hatte keinen Spitznamen, jetzt fällt mir das plötzlich auf. Es gab bestimmt Leute, die ihm hie und da etwas schenkten. Er verrichtete auch kleine Arbeiten und war zuverlässig. Er sah immer gleich alt aus.

Es hat einen Grund, daß ich das aufschreibe.

Sicher hatte er Gewohnheiten und er fürchtete sich nicht vor ihnen und er hatte einen Sprachfehler und er hatte einen Tick. Er hatte tiefe braune Augen, die direkt ins Gedächtnis führten. In sein großes Gedächtnis, in dem die Leute in 365, oder sogar in 366 Gruppen geordnet waren. Soviel ich weiß, kannte er die Jahrgänge der Leute nicht, um eine Ordnung aufzustellen genügt das Geburtsdatum. Mehr wußte er nicht, mehr sagte er selten, mehr schien ihm nicht Freude zu machen.

Ihm war eine Ordnung gelungen und niemand hatte etwas dagegen.

Ich versuchte oft, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Mein Geburtsdatum kannte er nicht. Er fragte mich nie danach und ich hätte nicht gewagt, es ihm aufzudrängen.

Mein Geburtsdatum ist verzeichnet in den Kartotheken des Staates, in Verzeichnissen von Vereinen, in den Bestandeslisten der Armee und wohl noch vielerorts. Oft bedrückt mich das. Aber in seinem Gedächtnis wäre ich gern gewesen.

Ich wäre gern in seinem Gedächtnis gewesen.