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„In diesem Augenblick sah ich die Statue, taghell erleuchtet in der Mitte der Piazza. Ein Mann mit langem Bart und weiter Kutte hob den Arm, als wolle er auf etwas zwischen Himmel und Erde zeigen. Er stand unversehrt inmitten der Zerstörung, und die Aufschrift lautete: HL. BENEDIKT, SCHUTZPATRON EUROPAS. Ich spürte einen Stich ins Herz. Bis jetzt war mir nicht bewusst gewesen, dass der Heilige eine Beziehung zu Norcia hatte, zum Ursprung des Kontinents, dem ich mich zugehörig fühlte.“

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Foto © Stephan Ladurner

Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, ist mit seinen eigenwilligen Büchern der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens. Er berichtete für die Tageszeitung „La Repubblica“ über den Afghanistan- und den Jugoslawien-Krieg. Zahlreiche Preise für sein journalistisches Engagement.

Unzählige Essays, Romane und Erzählungen über seine Reisen innerhalb Italiens und an die entlegensten Orte Europas.

Bei Folio sind erschienen: Der Leuchtturm (2017), Die Seele des Flusses (2018) und Via Appia (2019).

PAOLO RUMIZ

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DER UNENDLICHE FADEN

REISE ZU DEN BENEDIKTINERN, DEN ERBAUERN EUROPAS

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

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Inhalt

Norcia, April 2017

Bologna, zehn Monate später

1.Das Glück im Kleinen

Praglia, Veneto

2.Hopfen und Weihrauch

Sankt Ottilien, Deutschland

3.Geduldig den Faden aufrollen

Viboldone, Lombardei

4.Gottes Triller

Muri-Gries, Südtirol

5.Die Lichtmaschine

Marienberg, Südtirol

6.Die Apotheke der Seele

St. Gallen, Schweiz

7.Klavier und Flüstern

Cîteaux, Frankreich

8.Der Dämon des Mittags

Saint-Wandrille, Frankreich

9.Schwalben und Braukessel

Orval, Belgien

10.Die Wunderkammer

Altötting, Deutschland

11.Der Vorläufer des Om

Niederaltaich, Deutschland

12.Die Tyrannei der Sonne

Göttweig, Österreich

13.Die Horde und die Steppe

Pannonhalma, Ungarn

14.Die Symphonie

Camerino, Marken

15.Der unendliche Faden

San Giorgio Maggiore, Venedig

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Norcia, April 2017

Nach den Ruinen der Dörfer waren keine Menschen mehr zu sehen und die Berge wurden rau und unwegsam. Von einem windgepeitschten Sattel stiegen wir im Nebel langsam durch eine verschneite Rinne ab; als wir unten ankamen, durchbrach ein Sonnenstrahl das Grau, funkelte an einem immergrünen Himmel und offenbarte zur Rechten die schneeweißen Berge der Prophetin Sibylle und zur Linken, umrahmt von Hügeln, eine unerwartete, weite, fast mongolisch anmutende Senke, mit vor Schmelzwasser gurgelnden Bächen und einem Rasenteppich mit Büscheln von Krokussen, Nieswurz und Schlüsselblumen, im Schutz des Kreisrunds der Berge.

Diese verzauberte und von unten unsichtbare Ebene namens Pian Grande, die man in diesem April unbedingt barfuß durchlaufen musste, um die Stimme der Erde zu vernehmen, diese Steppe, in der es schon jetzt von Leben wimmelte und in der im Mai eine in Europa einzigartige Blütenpracht explodieren würde – Gelb, Violett, Rot und Blau von Linsen, Mohn und Lilien –, lag in der Mitte der Bruchlinie, an der der Apennin gebebt hatte, und gleichzeitig genau in der Mitte der Halbinsel inmitten des Mittelmeers.

Wir wussten, von 1000 Metern oberhalb der Almen, von dem verschneiten Kamm eines Berges, den man – wahrscheinlich, um die Götter der Tiefe günstig zu stimmen – Redentore (Erlöser) getauft hatte, sah man im Nordosten die blaue Tafel der Adria und im Südwesten, hinter dem Terminillo, die Küste des Tyrrhenischen Meeres. Und auf dem Berghang, der weiß und gleichmäßig geneigt war wie der Ararat oder der Ätna, sah man die lange Narbe des Apennin, die – wenn man die Böschung auf halber Höhe überquerte – die Menschen in Form eines Erdrutsches warnte, der einen kahlen Felsen zurückgelassen hatte. Die einzige Ortschaft – das befestigte Castelluccio, das nur noch eine Ruine war – am Grund der Senke bestätigte die Vorherrschaft des Gebirges.

Wir befanden uns in einer grandiosen Einsamkeit, wir waren die einzigen Lebewesen in dieser tibetisch anmutenden Ebene, und wir reagierten auf dieses Privileg mit einer nervösen und argwöhnischen Euphorie. In den Alpen gab es nichts Vergleichbares. Nirgendwo sonst vereinigten sich Angst und Verzauberung, Hölle und Paradies, Tellurisches und Fruchtbares, Finsternis und Licht auf derart intime Weise und garantierten den Zyklus des Lebens. Ich dachte, über diese Vermählung müsse man noch vor Frühlingsbeginn berichten. Ich bin in den Alpen aufgewachsen, doch als Erwachsener habe ich mich vom Apennin bezaubern lassen. Dieses antike, mittelalterliche, weibliche, barbarische Gebirge mit seinem intensiven Geschmack ist meine zweite Heimat geworden.

Überall neues Leben, die Luft vibrierte von Trillern, Pfeifen und Zwitschern. In den Bächen paarten sich die Kröten. Die Maulwürfe hatten wieder zu wühlen begonnen und hinterließen auf dem samtenen Gras braune Erdhaufen, einer nach dem anderen, wie bei einer Naht. Es war ein Luxus, all das in vollkommener Einsamkeit erleben zu dürfen, doch der Luxus war nur möglich, weil das Gelände aufgrund der Erdbebengefahr militärische Sperrzone war. In Castelluccio durfte man keine Zelte aufstellen, ohne Genehmigung durfte man dort nicht einmal auf- und abgehen. Sogar der Öko- und Abenteuer-Tourismus war aus Sicherheitsgründen verbannt worden. Doch wir besaßen einen Passagierschein für das Paradies und betraten es in einem einzigartigen Augenblick: als die Ebene noch im Winterschlaf lag und bereits die wahnsinnigen Farben des Frühlings explodierten.

Schnee, Sterne und Steppe. Der Schoß einer Welt, die Tausende Male einen neuen Anfang hervorgebracht hatte. Zumindest seit dem Zeitpunkt vor Tausenden Jahren, als Völker aus Zentralasien sich hier mit ihren Herden und ihrem Saatgut – Dinkel, Platterbsen und mit ihnen die Wildblumen, die ein einzigartiges Habitat vorfanden – niedergelassen hatten, ahnend, dass Persephone und Ceres, die Göttinnen der Unterwelt und des Ackerbaus, einander auf dem Gebirgskamm, dem Rückgrat der neuen Welt, die Hand reichten. Das Mysterium wurde von einer dritten Frau besiegelt: von Sibylle, der flüsternden Muttergöttin, der Herrin des Landes in der Mitte.

Wir stiegen zum Rand der Senke, zu einem Pass auf, wo die Sicht bis zum Terminillo, dem Gran Sasso und der Senke von Assisi reichte. Wir zogen die Schuhe aus, es war Zeit für einen Imbiss, rücklings legten wir uns ins niedrige Gras, der Wind kitzelte unsere Zehen. Hinter uns lag eine lange Reihe von Zerstörungen, die die tektonische Aktivität in der Welt der Menschen angerichtet hatte. Nur die Berge standen noch. Wir waren durch verfallene Dörfer gewandert, die dem Aufruhr der Erdschichten zum Opfer gefallen waren, sich an ein Gelände klammerten, das einem Blätterteigkuchen glich.

Das Gelände war total unwegsam geworden, doch im Zentrum der Zerstörung überlebten die tausend Jahre alten Wege. Amatrice glich Bosnien im Krieg: menschenleere Straßen, evakuierte, getarnte Dörfer, Gestank nach Kerosin und Elend, unversehrte Häuser neben Häusern, die dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Mitten in der Zerstörung das Paradox einer brünstigen Natur, am Abend fiel das Licht der Scheinwerfer auf Hunderte Kröten, die sich auf dem noch warmen Asphalt paarten.

Ich sah, wie die Erde gähnte und dabei das Maul aufriss wie Leviathan. An manchen Orten war die Zerstörung so gewaltig, dass ein Niesen genügt hätte, um weitere Gebäude zum Einsturz zu bringen. Mit angehaltenem Atem bewegten wir uns unerlaubterweise zwischen baufälligen Mauern und im Nichts hängenden Dachziegeln. Inmitten von Rinnen, Gestrüpp und Grasland erhoben sich die zerstörten Dörfer Cornillo Vecchio und Rocchetta, die Häuser waren auf obszöne Weise aufgerissen. Spitzenvorhänge, Regale, Wiegen, Lampenschirme, zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Die Natur behauptete sich allerdings auch hier, kümmerte sich nicht um die Menschen. Wind, Stille, Gezwitscher, die Spechte hämmerten im Wald.

San Lorenzo und Flaviano: die Apokalypse. Kein Mensch auf der Straße. Das einzige Geräusch war das Knirschen unserer Schuhsohlen. Erschreckend armselige gemauerte Häuser. Die alte Via Salaria war von den Erdrutschen verschüttet worden, die Leitplanken hatten sich aufgrund der Verrenkung des Berges absurd verbogen und die Steinschlagschutznetze waren von herabfallenden Felsen bombardiert worden. Abgebrochene Lichtmasten funkelten über dem Fluss, hingen wie eine Materialseilbahn an den Stromleitungen. Jenseits des Flusses ein mit aktiven Bruchlinien durchsetztes Gelände.

Dann noch ein Geisterdorf, ein unwirkliches Nebeneinander von Narzissen und Schutt, und über diesem dem Erdboden gleichgemachten Dorf der Koloss des Vettore mit seiner unverwechselbaren Sattelform und dem verschneiten Felsvorsprung, der wie ein Bügeleisen das Tal überragt. Auch beim Aufstieg zum Herzen der Sibyllinischen Berge war der Tribut der Zerstörung zu sehen: Spelonga, Arquata, Pretore, dem Erdboden gleichgemacht. Viel schlimmer als Amatrice. Hier wähnte man sich nicht mehr in Bosnien, sondern in Afghanistan unter dem gleichgültigen Schnee des Hindukusch.

Am Rande der Senke von Castelluccio erblickten wir 900 Meter darunter Norcia (lat. Nursia). Die Sicht war begrenzt. Im Licht des Sonnenuntergangs stiegen wir zwischen strohgelben Disteln und Kuhfladen vom Vorjahr über den steil abfallenden Hang zu der befestigten Stadt hinunter. Wie mit einem Paragleiter segelten wir am Rande einer Heide, die an mehreren Stellen von mörderischen Erdrutschen weggerissen worden war, zogen lange Schleifen. Nach einem zweistündigen Marsch stießen wir vor den Toren der Stadt, während die blühenden Mandelbäume in einem wunderbaren goldgelben Licht leuchteten, wieder auf Ruinen. Außerhalb der Mauer die Überlebenden: Gesichter von Samniten, Picenen, Griechen, Byzantinern, Langobarden – italienische Gesichter, in denen sich lange zurückliegende Migrationen spiegelten. Innerhalb der Mauern fast totale Leere. Ein Gemälde von De Chirico.

Ein Kriegerdenkmal gab uns zum ersten Mal den Faden des Knäuels in die Hand. Unter den in Stein gehauenen Namen der eines Triestiner Partisanen, Sergio Forti, Kriegsverdienstmedaille, in dieser Gegend nach unsagbaren Entbehrungen gestorben. Namen wie dieser bestätigten mir, dass es richtig war, so zu reisen – im Maquis, im Buschwerk, zu Fuß –, weil man so in den vergessenen Bauch des Landes eindringt. Auf diese Weise hört man die Ärmsten der Armen, ihre unerhörten Ängste, und man erkennt auch die schmutzige, unverwechselbare Spur des Rassismus, der aus diesen Ängsten entsteht, fast eine Fährte. Man begreift, dass noch genug Zeit ist, sich aufzulehnen, und dass es richtig ist, den Bestien entgegenzutreten, die sich gegen die Schwachen und die Verlierer verschworen haben, um die Wut nach unten abzuladen, die sich sonst nach oben entladen würde. Gegen die Macht.

Wir waren ängstlich und schweigsam, wir wussten nicht, ob unser Gehen den Stunden, den Jahrhunderten oder den geologischen Zeitaltern folgte. „Wie in Aleppo“, hörte ich einen Einwohner der zerstörten Stadt sagen. Ein Satz, der nolens volens eine Ähnlichkeit zwischen den Evakuierten des Erdbebens und den Kriegsflüchtlingen herstellte. Wir traten auf den Hauptplatz hinaus. Die Hälfte der Gebäude war eingestürzt. Die Ruine der Kathedrale wurde von gelbem Flutlicht beleuchtet. Hinter der Rosette war kein Kirchenschiff mehr.

In diesem Augenblick sah ich die Statue, taghell erleuchtet in der Mitte der Piazza. Ein Mann mit langem Bart und weiter Kutte hob den Arm, als wolle er auf etwas zwischen Himmel und Erde zeigen. Er stand unversehrt inmitten der Zerstörung, und die Aufschrift lautete: HL. BENEDIKT, SCHUTZPATRON EUROPAS. Ich spürte einen Stich ins Herz. Bis jetzt war mir nicht bewusst gewesen, dass der Heilige eine Beziehung zu Norcia hatte, zum Ursprung des Kontinents, dem ich mich zugehörig fühlte.

Was verkündete der Heilige, der inmitten der Ruinen den Segen erteilte? Verkündete er, dass Europa drauf und dran war unterzugehen? Großbritannien hatte sich eben dafür entschieden, aus der EU auszutreten, stand ich vielleicht vor den Ruinen einer großartigen politischen Idee? War der Geist von Ventotene erloschen?

Die Botschaft schien deutlich. Die Rückkehr der Nationalismen ließ eine Balkanisierung auf kontinentaler Ebene befürchten. Doch die Unversehrtheit der Statue inmitten der Zerstörung konnte auch das genaue Gegenteil bedeuten. Vielleicht erinnerte sie daran, dass es die Benediktinermönche waren, die Europa nach dem Untergang des Römischen Reiches gerettet hatten. Dass der Same des Wiederaufbaus im Augenblick des Niedergangs gesät worden war, in einem von Gewalt, Invasionen, Kriegen, Anarchie, urbanem Verfall und Elend gekennzeichneten Europa. In einer Situation, die entfernt an unsere heutige erinnert.

Doch die Statue verkündete auch noch eine andere Botschaft. Der Keim der Wiedergeburt eines Kontinents war im starken Herzen meines Landes, im Apennin, gelegt worden. Der hl. Benedikt war hier zur Welt gekommen, auf dem langen, nervösen Rückgrat, das nicht nur der Mittelpunkt Italiens, sondern des ganzen Mittelmeerraums ist. Er war der Sohn einer Welt von Sibyllen, Almen und langen Wintern, die im Lauf der Jahrtausende, nach jeder Zerstörung durch die Kräfte aus der Tiefe wiedergeboren worden war und jetzt zum ersten Mal in der Geschichte riskierte, von ihren Bewohnern endgültig verlassen zu werden. Von der Politik im Stich gelassen – das Gebirge hat nie Stimmen gebracht und wird auch nie welche bringen –, wurden die Urenkel Benedikts zu Flüchtlingen, gingen ins Tal hinunter, um wie die Flüchtlinge am Strand zu landen und dort zu sterben. Allerdings war das Gleichgewicht nicht nur von einem Erdbeben, sondern vom Verlust des Gedächtnisses zerstört worden. Eine ganze Nation hatte ihren erhabenen Ursprung aus dem Geist des Klosterlebens vergessen. Die Bewohner des Apennins hatten ihren Stolz verloren.

Ja. Die Botschaft des Heiligen hieß vielleicht auch, dass Europa ins Mittelalter zurückgefallen war und dass es, um zu seinen spirituellen Wurzeln zurückzufinden, aufs Neue eine Zeit der Zerstörung durchleben musste. Eine dritte Katastrophe in hundert Jahren war notwendig, um aus dem selbstzerstörerischen Tunnel der Konsumgesellschaft auszubrechen. Vielleicht würde gute Politik erst auf dem Boden einer neuen großen Zerstörung wiederauferstehen. Wie 1945. Vielleicht war das das wahre Erdbeben und wir erlebten es live mit, ohne es zu wissen. Die Medienhysterie, die sich ganz auf die Einwanderer konzentrierte, hinderte uns, die Konfliktherde zu sehen, die wie Leopardenflecken um das reiche Europa angeordnet waren, oder die unbarmherzigen Finanzkriege, die sich in unserer ureigenen Welt ereigneten und nicht das Gegenteil von Ökonomie waren, sondern deren räuberisches Wesen zum Ausdruck brachten.

Die lange Welle des Apennins, die aus unzähligen Erschütterungen entstandenen sanften Erhebungen, besänftigte meine Verwirrung. Vielleicht konnte man die Botschaft auch positiv interpretieren. Vielleicht bestand die Aussage darin, dass Benedikt imstande war, Europa wiederaufzubauen, obwohl es in Schutt und Asche lag, weil er stärker als Schutt und Asche war. Das Leben würde ohnehin wieder von Neuem beginnen, im Lauf der Jahrhunderte hatte es immer wieder von Neuem begonnen. Aber es war schwierig, daran zu glauben. Wir befanden uns im freien Fall, ohne uns dessen bewusst zu sein, denn eine beeindruckende Menge an Kosmetika und Analgetika trübte unsere Wahrnehmung und zögerte den unvermeidlichen Aufprall hinaus. Man spottete über die Mühsal der Landarbeit, Zynismus machte sich breit, und Politiker, die sich trauten, die bittere Wahrheit zu sagen und auf die Verödung der Berge hinzuweisen, wurden von den Wählern abgestraft.

Ein duftender Wind strich durch die Ruinen und ich spürte, dass Schlüsselwörter wie Schweigen, Hingabe, Opferbereitschaft in meiner Welt abgeschafft worden waren oder völlig ihren Sinn verloren hatten. Sogar das Wort „Europa“ war verloren gegangen. Die Grundlagen seiner christlichen Kultur – Barmherzigkeit und Solidarität – galten mittlerweile als Verbrechen. Auf dem Rücken der Verzweifelten übte sich die ganze politische Klasse in Herzlosigkeit. Sie würde unseren Kindern auf den Kopf fallen, doch wir nahmen es kaum zur Kenntnis. Es tröstete uns sogar zuzusehen, wie andere Schiffbruch erlitten. Wenn sie untergehen, dachten wir, werden wir es nicht tun, denn wir sind „anders“. Ein kolossaler Irrtum. Wie im 5. Buch Mose müssen wir zurückblicken und dem Grund unseres Scheiterns ins Auge sehen.

Der abnehmende Mond hatte ein magisches Nest am Himmel geschaffen. Ein traumhafter, irrealer, noch nie gesehener Mond. Wie betäubt beobachteten wir, wie er den schneebedeckten Abhang der Sibyllinischen Berge 1500 Meter über uns schwach beleuchtete. Paolo Piacentini, einer meiner Reisegefährten, der diese Berge schon mehrmals zu Fuß überquert hatte, flüsterte: „Wie traurig. Bis vor Kurzem haben die Hirten dir hier oben warme Ricotta angeboten, wenn du an ihre Hütten geklopft hast. Damit ist es vorbei. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich jedoch noch immer die Berge meiner Jugend. Unverändert. Hier wohnt meine Seele. Weißt du, was ich dir sage? Hier wird nichts sein wie früher, doch es wird sein. Dessen bin ich mir sicher. Diese Orte besitzen eine spirituelle Kraft, die sie übersteigt.“

Ein letztes, kaum wahrnehmbares rosa Licht säumte den schneebedeckten Grat im Osten. Die ersten Sterne funkelten. Ein feuchter, guter Geruch stieg von der Erde auf. Wenn man sich umblickte, sah man, dass die Ebene von Norcia noch immer ein Meisterwerk der Bodenbestellung war. Benedikt hatte zweifellos seine Spuren hinterlassen. Was für Männer waren das doch gewesen! Ohne Waffen, allein mit der Kraft des Glaubens, hatten sie Europa gerettet. Mit einer effizienten Formel: ora et labora. Und zwar zu einer Zeit, als es tatsächlich bedrohliche Invasionen gab, als Horden von Armen einbrachen. Gewalttätige, unbarmherzige heidnische Horden. Hunnen, Vandalen, Goten, Langobarden, Slawen und Magyaren. Über Jahrhunderte hatten die Riesen in schwarzer Kutte sie christianisiert und gezähmt, indem sie mit gutem Beispiel vorangingen. Sie hatten die antike Kultur vor der Vernichtung gerettet, den beinahe verwahrlosten Boden bestellt, großartige Festungen errichtet, in denen sie der Zerstörung trotzten: Klöster.

Beim Betrachten der mondbeschienenen Berge zwischen den beiden Meeren wurde mir klar, dass mein Europa, das nur vom Atlantik begrenzt wurde, immer das Ziel von Völkern aus dem Osten gewesen war, von kraftstrotzenden Eindringlingen, die es bekriegt, aber auch belebt und fruchtbar gemacht hatten. Auf diese Weise war eine einzigartige menschengerechte Landschaft mit einer unvorstellbaren Dichte an Einsiedeleien, Klöstern, Kapellen und Orten entstanden, die alle ihren Namen dem heiligen Benedikt verdanken. Ein Raum, durch den man bequem wandern konnte, wo man von jedem Dorf aus andere Dörfer, ein vertrautes Netz an Glockentürmen sehen konnte. Ein „kultiviertes“ Land, in dem – anders als in Asien oder Afrika – nicht eindeutig war, ob es sich um ein Werk der Natur oder des Menschen handelte.

Es war eine sternklare Nacht. Die schwarzen Berge schienen sich über Norcia zu beugen und einen leisen Gesang anzustimmen. Von wo hätte vor fünfzehnhundert Jahren der Anreiz zur Erneuerung Europas ausgehen sollen, wenn nicht vom Apennin, einer seit Jahrtausenden bewohnten Welt, die nach jedem Erdbeben wieder auferstand? Wie sehr war Italien sich bewusst, dass es beim Schicksal des Kontinents eine zentrale Rolle gespielt hatte? Wie war es möglich, dass Italien das Land und die Almen verkommen ließ, von wo vor fünfzehn Jahrhunderten der Auftakt zur Wiederauferstehung ganz Europas gegeben worden war? Es war eine Sünde, Norcia – und auch Visso, Amatrice oder Camerino – verfallen zu lassen. Den Apennin verkommen zu lassen bedeutete, auf unsere Geschichte zu spucken. Auf Benedikt, Franziskus, Romuald und andere Glaubenskrieger, die Söhne dieser Erde.

Der Schatten der Sibylle und der schwarze Wein sorgten dafür, dass ich die dramatische Veränderung, die im Gange war, noch deutlicher wahrnahm: die Zerbrechlichkeit der Randgebiete, das Verschwinden der Ortsnamen, durch das die Landkarten ihren Sinn verloren, das Verschwinden der biologischen Vielfalt, mit der die Gefahr der Verwilderung der Natur einherging, das Erdbeben, das zum ersten Mal vielleicht den Untergang einer Welt besiegelte. Der Wiederaufbau ließ auf sich warten, die kaputten Häuser wurden überwuchert und wurden sogar wie nach einem Einbruch ihren Besitzern und Mietern fremd. Der Adrenalinspiegel derer, die Widerstand leisteten, sank allmählich, die letzten Bewohner, die sich noch an die Berge klammerten, würden vielleicht bald gehen, sie hatten es satt, dass man Tag für Tag zu ihnen sagte: „Wer zwingt dich denn hierzubleiben?“

Tief in der Nacht glaubte ich das Heulen von Wölfen zu hören, so schmerzvoll wie das Schreien der Seelen im Fegefeuer. Unter dem funkelnden W der Kassiopeia ähnelten die schneebedeckten Berge der Zauberin dem heiligen Berg Kailash. Ich spürte ganz deutlich die Drehung der Erde in den Sternennebeln. In so einer Nacht konnte man nicht schlafen. Inmitten der Ruinen Norcias wurde mir auf schwindelerregende Weise die zentrale Rolle Italiens und seines Rückgrats bewusst. Wenn mein Land den Apennin verlor, verlor es sich selbst. Dreimal war Europa aufs Neue aus diesen Ruinen wiederauferstanden: mit Rom, den Klöstern und der Renaissance. Und hatte es doch vergessen.

Bologna, zehn Monate später

Schneesturm im Apennin, die Zugverbindungen sind unterbrochen. Um drei Uhr nachmittags begebe ich mich zum Bahnhof Bologna, um nach Mailand zu fahren, und muss zur Kenntnis nehmen, dass die ganze Nation gelähmt ist. Die Hochgeschwindigkeitszüge haben vier, fünf Stunden Verspätung. Keine Verbindung nach Rom. Wegen Platzmangels erscheinen auf den elektronischen Anzeigetafeln noch immer die Züge, die um zehn Uhr vormittags hätten ankommen sollen, nicht die, die im Augenblick ankommen. Die Durchsagen sind im Lärm der hektisch hin- und herrennenden Reisenden unverständlich. Niemand fühlt sich zuständig, niemand erklärt, was los ist, niemand sagt den Passagieren, was zu tun ist.

Die Rolltreppen werden gestürmt. Menschenströme fahren hinauf und hinab in die dantesken Höhlen des Schnellverkehrs. Es gibt keine Sitzplätze, ein paar alte Frauen weinen. Draußen ist es kalt, der Wartesaal gerammelt voll. Trotz des hektischen Kommens und Gehens herrscht hier, im Bauch des Bahnhofs, ein beeindruckendes Schweigen. Niemand flucht. Keine Gespräche. Alle beugen sich über ihr Smartphone, eingeschlossen in einer Blase, jeder sucht für sich einen Ausweg. Manche tippen wütend. Sie leben ihre Wut auf Twitter aus.

In einem Gang im unteren Stockwerk des Bahnhofs beobachte ich eine surreale Szene: Zwei Polizisten und zwei Soldaten im Tarnanzug kümmern sich nicht um die Gestrandeten der Hochgeschwindigkeitszüge, sondern umringen mit gezückten Waffen einen dunkelhäutigen Fremden, der in seiner Jacke hektisch nach seinen Papieren sucht, obwohl er offensichtlich keine hat. Rucksacktouristen kommen vorbei, einige machen sich über den „Illegalen“ lustig, doch die Ordnungshüter reagieren nicht. Eine ältere Dame mischt sich ein: „Warum geht ihr auf die armen Teufel los und nicht auf die vielen Diebe, die herumlaufen?“ Die Ordnungshüter reagieren noch immer nicht. Eine exemplarische Situation. Noch nie habe ich so deutlich verstanden, worin die Funktion des Sündenbocks besteht. Wenn die Obrigkeit keine Lösung für eine Krisensituation hat, bestraft sie den Fremden und zeigt auf ihn, um die Wut des Volkes auf ihn zu lenken.

Die Verspätungen führen zu weiteren Verspätungen, die Züge bleiben stecken und erzeugen einen gewaltigen Stau im Apennin, die Menschenmenge im unteren Stockwerk wogt ängstlich und ungeduldig hin und her, ballt sich aber nicht zusammen. Derweil schikanieren die Ordnungskräfte den Einwanderer. Ein perfektes Bild des Landes. Italien wird von der Mafia und von Heerscharen von Steuerhinterziehern erpresst, von Banken ausgeplündert, von Steuern geknüppelt und von der Bürokratie erstickt, Stadtzentren veröden aufgrund der Supermarktketten, Verwahrlosung droht, doch man redet einzig und allein von den Immigranten. Man hat uns das Vertrauen in die Institutionen und die Arbeiterrechte genommen, der Zukunft und des nationalen Gedächtnisses beraubt, doch wir beschuldigen einzig und allein die Schwachen, anstatt eine Revolution anzuzetteln und die Regierungskaste davonzujagen.

Natürlich, ungeregelte Einwanderung ist ein ernstzunehmendes Problem. Sie bringt die Armen gegen die Immigranten auf, entfacht Rassismen, bringt unsere verbliebenen Werte zum Schwanken. Doch es besteht auch eine innige Beziehung zwischen der Unfähigkeit der Führungsklasse und dem aufkeimenden Rassismus. Wenn die Regierenden dem Volk keine Antworten liefern können, liefern sie ihm Feinde. So ist es seit Jahrhunderten. Das lehrt uns das Beispiel Jugoslawiens. Nachdem die postkommunistische Regierung das Land ausgeplündert hatte, hat sie – um nicht für ihr Scheitern zur Verantwortung gezogen zu werden – Serben gegen Kroaten ausgespielt und Bosnien zugrunde gerichtet. Zerfleischt euch, feixten die, die für den Bankrott verantwortlich waren. Mit derselben Methode wurden der Reihe nach die Orte zerstört, an denen die Ethnien jahrhundertelang zusammengelebt hatten. Saloniki, Sarajewo, Lemberg, Smyrna, Beirut, Alexandria, Casablanca, Aleppo. Eine Meisterleistung an Zynismus machte ausgerechnet die Städte zunichte, die der Idee des Zusammenlebens der Völker einen Sinn gegeben hatten. Ohnmacht und Scheitern, verkleidet als Patriotismus.

Ich denke an Benedikt, an seine unversehrte, fast engelsgleiche Statue inmitten von Chaos und Zerstörung. Nach unserer ersten Begegnung im Apennin hat sich der Mann aus Nursia samt seiner Gefolgschaft von Pionieren in meinem Hirn eingenistet. Wenn der Tag der Sintflut kommt, denke ich, werden wir vielleicht wieder an dieses Häufchen mutiger Männer denken, das imstande war, in einer Welt der Angst, des urbanen Zerfalls, in der Barbareninvasionen an der Tagesordnung waren und die Wälder wieder zu Urwäldern zu werden drohten, die Werte der Zivilisation hochzuhalten. Vielleicht werden wir uns erst später wieder auf die vergessenen Werte besinnen: Gastfreundschaft, Zuhören, Eifer, die Freude an erledigter Arbeit, Gebet, Respekt vor der Natur.

Man müsste ganz laut die Wahrheit sagen. Man müsste den Populisten in Erinnerung rufen, dass im 19. und 20. Jahrhundert 22 Millionen Italiener ausgewandert sind, um im Ausland ihr Glück zu versuchen. Zweiundzwanzig Millionen Italiener in einem halben Jahrhundert, das bedeutet ein Schiff mit tausend Personen pro Tag, und zwar fünfzig Jahre lang. Mein Großvater hat mit acht Jahren allein den Ozean überquert, weil er zu Hause nicht satt wurde. Als unbegleiteter Jugendlicher wurde er in Argentinien wie Abschaum empfangen, als Verbrecher und Träger von Krankheiten, als jemand, der anderen die Arbeit wegnahm, als verdammter Italiener, der bloß imstande sei, Kinder zu zeugen.

Ein entscheidender Kampf steht an, eine Schlacht um Europa. Öffnung gegen Abschottung. Solidarität gegen Ablehnung. Verantwortungsbewusstsein gegen Fremdenhass. Hilfe für die Schwachen gegen Rückzug ins Private. Der Geist des Kontinents verlangt die Rettung der Schiffbrüchigen, Dialog, Begegnung. Trotz aller Mängel ist und bleibt das vereinte Europa der höchste Ausdruck einer Staatengemeinschaft, die das zweite Jahrtausend hervorgebracht hat. In den Jahrhunderten, die oft allzu leicht als „dunkel“ diskreditiert werden, hat Benedikt nichts anderes getan, als die zentrale Stellung des Menschen im Zentrum der Gemeinschaft zu betonen.

An diesem Abend komme ich mit einem halben Tag Verspätung in Mailand an. Ich will nur noch ins Bett, aber noch ist es nicht so weit. Der Taxifahrer setzt mich vor dem Hotel ab. Während er das Geld entgegennimmt, murmelt er: „Ach, bald kommt wieder die Zeit der Italiener.“ Ich brauche einen Augenblick, bis ich den Sinn des Satzes verstehe. Auf dem Gehsteig gegenüber ist gerade ein Schwarzafrikaner vorbeigegangen.

Ich antworte pikiert: „Die Italiener besitzen dieses Land seit eineinhalb Jahrhunderten, und was haben sie daraus gemacht?“

Er macht die Geldbörse zu. „Wollen Sie mich provozieren?“

„Sicher, ich bin doppelt so alt wie Sie, wenn ich dumme Aussagen höre, fühle ich mich dazu gezwungen.“

Der Taxifahrer steigt aus. „Dann probieren Sie es.“

„Los, werfen Sie alle Ausländer raus und schauen Sie, was passiert. Keine Mafia und keine Korruption mehr. Alle Probleme gelöst. Keine Schlaumeier und keine Pharisäer mehr.“

Ich bleibe ruhig. Der Taxifahrer ist unschlüssig, ob er mich anrempeln, mit mir streiten oder über das Wort „Pharisäer“ nachdenken soll, das er nicht kennt, doch da kommt schon der Rezeptionist gelaufen, um mich ins Hotel zu führen.

In Zimmer 212 werfe ich mein Zeug aufs Bett. Ich bin erschöpft. Ich verspüre ein großes Verlangen nach Einsamkeit, Klausur, Pilgerreise, Schweigen. Nicht nach so etwas Radikalem wie dem Sacro Speco im Kloster San Benedetto in Subiaco – der Höhle, in der Benedikt als Einsiedler lebte –, aber zumindest nach einer Reise der Seele. Ich würde gern eine spirituelle Reise abseits der Landkarten unternehmen.

Das Telefon klingelt. Es ist Ivan Dimitrijevic aus Warschau, ein Italo-Serbo-Kroate, der an einer polnischen Universität Philosophie lehrt. Ich habe ihn vor einigen Monaten, im nasskalten Herbst in den ex-sowjetischen Alleen des Ostens kennengelernt, damals haben wir lange über Populismen und die Art und Weise, sie zu bekämpfen, geredet. Ein heiterer und intelligenter Mann, groß und dünn, der sich in der Komplexität seiner Herkunft zu Hause fühlt.

Ich erzähle ihm von Bologna, dass wir alle Wutbürger geworden sind und ein Teil der italienischen Bevölkerung sich dank der xenophoben Aussagen unserer Regierung selbst freispricht und ein reines Gewissen pflegt.

Ivan am anderen Ende der Leitung hört schweigend zu. Er antwortet: „Wir haben ein Europa des materiellen Wohlstands geschaffen, und auf der Suche nach Wohlstand haben wir die Regeln des Zusammenlebens festgelegt. Aber Europa war immer mehr als das. Der europäischen Idee liegt das Streben nach Glück zugrunde, das ist etwas ganz anderes.“

Der Philosoph denkt darüber nach, wie man auf die Verrohung reagieren und Widerstand leisten kann. Er denkt im großen Stil. „Früher einmal gab es acht Todsünden, die achte war die Traurigkeit, wusstest du das? Ein guter Christ war zur Fröhlichkeit verpflichtet. Im Mittelalter wurden die Sünden in erster Linie an Gott gemessen. Die Traurigkeit war eine Beleidigung Gottes, nur das zählte. Dann wurde diese Sünde abgeschafft, man dachte, sie wäre gesellschaftlich nicht relevant. Man hat sich dummerweise der Illusion hingegeben, dass die Traurigkeit die Welt nicht beeinflusst … Mit dem Ergebnis, dass wir in einer beziehungsunfähigen Welt leben.“

Das hat mir vor Jahren auch schon Mordechai, mein Seelen-Rabbiner, mit einer unvergleichlichen Formulierung gesagt. Ich wiederhole sie meinem Freund in Polen.

„Wenn Gott etwas hasst, dann lange Gesichter. Als würde er zu uns sagen: Ich habe euch so viele wunderschöne Dinge aufgetischt, und ihr langweilt euch? Ich hoffte, ich würde euch dabei erwischen, wie ihr mit den Fingern im Marmeladenglas wühlt, doch ihr zieht eine Schnute. Rutscht mir den Buckel hinunter. Die Freude ist in erster Linie eine Pflicht und dann erst ein Recht, so sagte der Rabbiner. Der Mensch ist verpflichtet, glücklich zu sein, denn nur so macht er andere glücklich. Das lehrt das Judentum.“

„Die Juden“, jubelt Ivan am anderen Ende der Leitung, „haben das alles vor uns und viel besser als wir zum Ausdruck gebracht. Wir Bewohner der westlichen Welt haben die Freude verlernt. Wir haben uns vom Materialismus schlucken lassen und verleugnen unsere kulturellen Wurzeln. Das merken auch die Muslime. Lies einmal Ratzinger. Er schreibt, die gläubigen Muslime würden uns nicht deshalb argwöhnisch beäugen, weil wir Christen sind, sondern weil wir keine überzeugten Christen sind und die Transzendenz verloren haben. Für sie sind wir das als Freiheit getarnte Laster. Und das sagt ein Papst. Und nicht irgendein Papst.“

Ich erwidere, dass Ratzinger nicht gerade ein weltoffener Papst war, doch Ivan lässt mich nicht ausreden.

„Überzeugt es dich nicht, dass sich Ratzinger sofort nach dem Tod Wojtylas zur Höhle des Heiligen nach Subiaco begeben und verkündet hat, dass die Kirche von der Bösartigkeit der Priester verdorben worden ist? Dass er als Papst den Namen Benedikt angenommen hat und schließlich auf das Amt des Papstes verzichtet und sich in ein Kloster zurückgezogen hat? Fuga saeculi … Contemptus mundi … Auch das liegt der Idee des Klosters zugrunde …“

Schön langsam verstehe ich ihn. Es ist an der Zeit, Widerstandsnester zu gründen und mit benediktinischer Beharrlichkeit und vor allem mutig Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Mit Mut und Herz, wie Gandhi, der Widerstand gegen den britischen Imperialismus leistete. Wie alle, die ein Ideal hochhalten. Es ist an der Zeit, in unseren Städten und in den Städten anderer Länder ein Netzwerk derer zu schaffen, die sich der Sprache der Gewalt nicht unterwerfen wollen.

Schön langsam wird mir auch die Botschaft der Statue inmitten der Ruinen klarer. Sie fordert dazu auf, sich die verwilderten Räume wieder anzueignen und sie mit Geist zu erfüllen. Den Megastädten und der selbstzerstörerischen Urbanisierung Einhalt zu gebieten. Wieder einmal ist Norcia im Zentrum von allem. Hier findet eine epochale Auseinandersetzung statt: zwischen einer Globalisierung, die kaputte Vorstädte und verödete Dörfer hervorbringt, und dem Widerstand derer, die noch die Kraft der Orte verspüren. Benedikt ist das Banner der Wiedereroberung des Landes, in einem Europa, das wie 1914 ins Schlingern geraten ist. In einem Europa, das kaum seine Katastrophen vergessen hat und schon wieder für den Mechanismus der Xenophobie und der Zwietracht anfällig wird. Das Abendland hat noch nie gesiegt, indem es in fremde Länder einmarschiert ist. Es ist immer wiederauferstanden, wenn es die Fremden aufgenommen und die Reihen geschlossen hat. Das ist die Lehre Benedikts.

Der Philosoph beendet das Gespräch. „Für uns gibt es nur zwei Arten, Europa zu schaffen: Kultur und Wirtschaft. Beide befinden sich im Niedergang, und die Wirtschaft hat das Glück des Menschen aus den Augen verloren. Und wir haben vergessen, dass es einen dritten Weg gibt, um Europa zu schaffen: die Politik, eine Politik, die auf starken Werten beruht, die fähig ist, die Sprache der Angst zu bekämpfen, die einen Draht zu den Peripherien hat, die den Ärmsten der Armen Hoffnung geben und die Gemeinschaft neu entdecken kann. In den Benediktinerklöstern ist all das in nuce vorhanden. Eine anspruchsvolle Politik, die sich als kluge Verwalterin der menschlichen Beziehungen versteht.“

Ich bin so müde, dass ich das Gespräch abbreche. Ich schaue auf die Uhr. Ein Uhr morgens. Vielleicht bin ich auf dem richtigen Weg.

1.

Das Glück im Kleinen

Praglia, Veneto

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