Image

 

 

MIRJAM WYSER

 

Reise

Zum

Inneren

AVATAR

 

Roman

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover: Simone C. Franzius

Bildlizenzen: Adobe Stock

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes

ist die Autorin Mirjam Wyser

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

 

ISBN 978-3-96050-177-0

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2020 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

 

Inhalt

Erster Teil

Magie ist Wissenschaft, die wir noch nicht verstehen

Die Begegnung

Gabriel und Flora

Das Krankenhaus

Der Burn-out Patient

Die alte Dame

Organspenden

Das etwas andere Kind

Der Patient aus Übersee

Der Pilgerweg nimmt seinen Lauf

Wanderer in zwei Welten

Irgendwo im Kosmos steht er, der Wald der Magie

Der Kobold stellt Fragen

Der Mond und die Sterne leuchten Gabriel den Weg

Der Silbersee

Der alte Mann

Der Mensch ein Schlafwandler

Ein Sturm wie schäumende Pferde

Der Königsbaum singt sein Lied

Der Rucksack

Orakel zu Delphi

Das weiße Pferd

Das Licht wird größer und heller

Der goldene Drache

Die Himmelsleiter

Eine Hexe

Seelenlichter wie Luftballone

Klagemauer

Die Seelen fangen an zu schwingen

Die innere Freiheit

Zweiter Teil

Rückblick in die Römerzeit

Er findet sie wie die Stecknadel im Heuhaufen

Die letzte Schlacht

Endlich! Ein Wiedersehen!

Im Reich der Verstorbenen

Die unterirdischen Gänge

Wirkliche Liebe stirbt nie

Abschied

Der Königsbaum

Justus´ Familie

Gabriel und Flora zurück im 21. Jahrhundert

Der Löwe

Die letzten schönen Herbsttage

Esoterik hat viele Gesichter

Sympathie und Antipathie

Sie hängen ihren Gedanken nach

Sie durchschreiten einen Torbogen

Die rosarote Rose

Das Einhorn

Dritter Teil

Dreizehn Tore öffnen sich

Ein Raum mit dreizehn Türen

Das erste Tor: die Krippe

Das zweite Tor: der Dämon

Das dritte Tor: die Asche

Das vierte Tor: zwei weiße Pferde

Das fünfte Tor: das Einhorn

Das sechste Tor: das Gedankenchaos

Das siebte Tor: die Entrümpelung

Das achte Tor: die Lichtexplosion

Das neunte Tor: zwei Schwerter

Das zehnte Tor: die Gralsschale

Das elfte Tor: die Waagschale

Das zwölfte Tor: das Gralslicht

Das dreizehnte Tor: die Tafelrunde

Ritter im Geiste

Über die Autorin Mirjam Wyser

Weitere Werke der Autorin Mirjam Wyser

Novitäten 2019/2020 im Franzius Verlag

 

 

Erster Teil

 

Mystik ist, im Dschungel des Lebens den Königsweg zu finden, der zur Krönung aller Dinge führt!

 

Der Schulungsweg zweier Menschen zum Avatar wird in diesem Buch, zum Teil in symbolischen Bildern, erzählt. Der Avatar ringt nach Erkenntnis, nach der Flamme der Wahrheit, die nie verlöscht. Doch ohne Mühe gibt es keinen Erfolg.

 

Die breite Allgemeinheit glaubt gewöhnlich, die Mystik sei etwas absolut Unverständliches, ein nebelhafter, schattenhafter, unerklärlicher Begriff. Doch die Mystik ist keine bloße Theorie, sondern ein Erlebnis.

 

Den mystischen Weg zur geistigen Entwicklung gab es immer, bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Im alten Atlantis, in Ägypten, in Indien, in der persischen, griechischen und römischen Kultur. Bei den Gnostiker und bei Mystiker des Mittelalters, bei den Rosenkreuzern, den Templern usw.

 

Christus kam nur auf die Welt, um den mystischen Weg so anschaulich zu zeigen, wie es noch niemand vor ihm getan hat. Aber derselbe Weg war schon in uralter Vergangenheit bekannt. Denn es ist der Weg der kosmischen Entwicklung. Der Weg zum Übersinnlichen ist der Weg des Guten. Je höher der Mensch zur höchsten Kraft des Weltalls emporsteigt, desto verantwortlicher wird er.

Magie ist Wissenschaft, die wir noch nicht verstehen

 

Grundfrage eines jeden Menschen ist: »Was ist das Wesentliche in diesem Leben für mich?«

 

Es ist das eigene Wesen, das uns zum Wesentlichen in der Welt führen kann. In der heutigen Zeit inkarniert zu sein, bedeutet, nie da gewesene Möglichkeiten zu haben. Aber auch wissen zu können, was im letzten Winkel des Erdballs geschieht. Die größte Herausforderung in diesem Jahrhundert ist, sich aus eigener Kraft eine innere Oase der Stille zu schaffen. Lernen, innerlich zu sehen und zu hören.

Die Sehnsucht nach spirituellen Erkenntnissen hat immer etwas Geheimnisvolles. Warum forschen wir überhaupt nach dem Geistigen?

Über Mystik ist schon viel geschrieben worden. Es mag wenige Dinge geben, die ebenso viele glühende Feinde wie Freunde haben wie die Mystik, denn jedermann, der sich nur flüchtig damit beschäftigen möchte, merkt bald, dass er hier an Grenzen stößt. Hier geht es ums Ganze. Sein oder Nichtsein, Trug oder Wahrheit? Alles Physische hat hinter sich ein Geistiges, alles Geistige wird bis ins Physische hinein wirksam. Der wahre Weg in das geistig wirkliche Erkennen ist, dem inneren Ruf zu folgen, nach Höherem zu streben. In sich hinein zu horchen und die Türe zur anderen Welt zu öffnen. Sich auf eine Seelenreise einzulassen, die zu unbekannten Ufern führt.

 

Der menschliche Geist ist ein Instrument für etwas, das höher ist als er selbst, und dieses unbekannte Etwas ist das eigene Selbst. Die Suche nach Licht, Leben und Liebe, die sich zum Höchsten entwickeln kann, beginnt auf der materiellen Ebene.

Oft wird die Gier nach wirksamen Ablösungstechniken zu reinem Konsumverhalten. Der extreme Ausdruck davon ist der Gebrauch von Drogen. Es ist naiv zu denken, es sei ein Gratiseintritt ins Übersinnliche. Möglichst einfach und schnell ohne persönliche Anstrengungen in einen Erfahrungsbereich zu gelangen, der neue, ungeahnte Erlebnisse verspricht. Die Welt des Übersinnlichen ist jedoch nicht käuflich wie ein Gegenstand im Supermarkt. Die eigene Verantwortung für die Kontinuität des Ich-Bewusstseins zu finden, ist gefragt.

Versucht man infrage zu stellen, was solche Suchenden in der Meditation erlebt haben, bekommt man oft die Antwort: »Ich bewegte mich in reinem Licht. Das Erlebte in Worte zu fassen, ist fast nicht möglich, weil solche Erlebnisse nicht von dieser Welt sind!«

Das mag unbestritten richtig sein. Doch ist es wirklich erlebt oder nur die Schilderung von Gelesenem? Schlussendlich kann sich jeder Mensch diese Fragen nur durch die persönliche innere Erfahrung beantworten. Unsere Welt ist voller Geheimnisse und Wunder. Die Existenz von Seele und Geist wird von manchen Leuten geleugnet. Radio, Fernseher, Ultraschall, Mikrowellen und so weiter sind auch nicht im Reagenzglas oder unter dem Mikroskop sichtbar. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen immer mehr mit dem Übersinnlichen Kontakt aufnehmen müssen, sonst kommen sie mit dem Leben immer weniger zurecht.

 

Was erlebt die Seele wirklich auf dem inneren Schulungsweg? Unsere Seele löst sich vom Körper, äußerlich bleiben wir bewusstlos. Nur in den Träumen leuchtet manchmal etwas in uns auf, das erahnen lässt, dass auch im Schlaf etwas von uns durchlebt wird. Die Neugeburt der Seele offenbart sich durch die Eröffnung der inneren Sinne. Durch übersinnliches Schauen. Streben nach Höherem bedeutet, sich zu verwandeln, von einem Zustand in den anderen überzugehen.

 

In diesem Buch wird versucht, dem inneren Unbekannten ein Gesicht zu geben. Die Gefühle und die Seelenstimmungen von zwei Menschen werden mit dem tieferen Sinn in Bilder gefasst, symbolisch die Geistige Welt zu erklären. Dazu braucht es keine sogenannten irdischen Meister. Das Leben selbst ist der beste Lehrmeister. Der Himmel verlangt nicht, dass die Menschen vollkommen sein müssen, sondern daran arbeiten.

Wer unbedingt eine bestimmte Methode anwenden will, der schaue genau das Weltbild an, welches dieses Hilfsmittel symbolisiert. Je entwickelter jemand ist, umso unabhängiger wird er von Hilfsmitteln jeglicher Art. Der Weg der inneren Schulung braucht viel Geduld, Demut und Moral.

Religionslehren sind nichts anderes als der Versuch, die Menschen wieder in die Beziehung mit der unsichtbaren Welt zu bringen, aus der sie eigentlich stammen und die ihre wirkliche Heimat ist.

 

Durch eine innere Schau gelingt den Protagonisten dieses Buchs, Gabriel und Flora, der Durchbruch ins Mysterium. Der tiefere Sinn von zwei Inkarnationen wird in Zusammenhang gebracht. Niemand kann vor seiner Persönlichkeit fliehen, sie muss zu einem Absoluten umgewandelt werden. Magie ist Wissenschaft, die wir noch nicht verstehen.

 

Die Begegnung

 

Die Glocke schrillt. Mittagszeit! Die Türen werden aufgerissen und die eben noch menschenleeren Gänge bevölkern sich schlagartig. Wie Ameisen strömen die Studenten aus dem Hörsaal. Der Fokus richtet sich auf eine Gruppe junger Frauen, angehende Medizinerinnen. Angeregt diskutieren sie über die gehörte Vorlesung.

Im Gebäude nebenan, an der Technischen Hochschule, werden Ingenieure ausgebildet. Eine Gruppe junger Männer hat gerade eine Prüfung abgelegt. Im gemeinsamen Gespräch versucht jeder herauszufinden, wie er dabei abgeschnitten hat. Einer davon ist Gabriel. Er nickt zufrieden vor sich hin. Sicher kann er mit einer ausreichend guten Note rechnen.

Draußen ist ein unfreundlicher Herbsttag. Die Studenten beschleunigen ihre Schritte. Der Hunger mag ein Grund sein, doch in diesem Nieselregen möchte man sich möglichst kurz aufhalten. Die jungen Medizinstudentinnen haben ihre bunten Regenschirme aufgespannt und gehen direkt auf die Ingenieure zu.

Und jetzt steht sie vor ihm, die Medizinstudentin Flora. Gabriel fühlt sich, als ob er auf einer Wolke schweben würde, alles um ihn herum tritt in den Hintergrund, er hört und sieht nichts mehr. Floras und Gabriels Blicke haben einander fixiert. Das ist Liebe auf den ersten Blick!, denken beide gleichzeitig. Erst später verraten sie einander die Plötzlichkeit des Schmetterlingsgefühls.

Sie wäre mir immer ins Auge gestochen, auch wenn ich aus tausend Frauen hätte auswählen müssen. Wieso gerade sie und keine andere? Das ist die Magie der Liebe, niemand kennt das Geheimnis!, denkt Gabriel.

Diese elektrisierenden Gedanken jagen wie Blitze durch seinen Kopf. Er muss einen guten Grund finden, um diese zauberhafte Frau anzusprechen. Doch seine Begleiter sind ihm bereits einen Schritt voraus, denn sie haben die jungen Damen in ein Gespräch verwickelt.

Wenn der Funke überspringt und zum Feuerwerk der Liebe wird, gibt es eigentlich keine falschen Worte!, ist Gabriel gerade bewusst geworden. Beide Gruppen nehmen gemeinsam in der Mensa das Mittagessen ein. Von nun an befinden sich Gabriel und Flora in einer glücklichen Beziehung.

 

Auf der anderen Seite des Lebens lebt ein stolzer, weiser Kobold. Aus unsichtbaren Gefilden hat er dem neuen Liebespaar zugeschaut! Er und mit ihm weitere Kobolde und geistige Wesen nicken zufrieden. Die Freude der Anwesenden wird bis in die Baumkrone des Königsbaumes hinaufgetragen, unter dem alle versammelt sind. Sein Geäst schwingt in sanften Bewegungen mit den unausgesprochenen Worten der zustimmenden Freude.

Der weise Kobold ist der Beschützer dieses Baumes. Er kennt dessen Geschichte von den Menschen, die diesen Königsbaum während hunderten von Jahren erschaffen haben, bis ins kleinste Detail. Immer wieder erzählt er seinen anwesenden auserwählten Freunden diese unendliche Geschichte, denn sie wird wieder weiter und weiter geschrieben.

Als Zuhörer auf der anderen Seite des Lebens wurden erstmals zwei Menschenseelen ausgewählt. Mit der Erlaubnis aus der Geistigen Welt dürfen sie die Geschichte auf der Erde weitererzählen. Das Lebensschicksal wollte, dass sich diese beiden Menschen im Dschungel des Lebens wiederfinden.

 

So beginnt eine Geschichte, wenn die Grenzen von Raum und Zeit verschwinden und Blicke in unsichtbare Welten gestattet werden. Flora und Gabriel sind auf dem inneren Weg zum Avatar.

 

Gabriel und Flora

 

Die Studiengänge sind erfolgreich abgeschlossen worden. In der Erforschung von neuen Technologien im Ingenieurwesen findet Gabriel seine erste Stelle. Flora tritt eine Stelle als Assistenzärztin in einem größeren Krankenhaus an.

In ihren Berufen bewegen sie sich in Grenzbereichen. Flora zwischen Leben und Tod; Gabriel als Ingenieur, als Forscher in unbekannten Gebieten. Diese beiden Welten liegen so unzertrennlich nah beieinander.

 

Flora sitzt im Straßencafé und schaut dem Treiben der vorbeiziehenden Leute zu. Vor ihr auf dem kleinen Tisch steht ein Eisbecher, aus dem sie genüsslich löffelt. Über ihr Gesicht huscht ein Lächeln. In der Menschenmenge hat sie Gabriel entdeckt. Mit schnellen Schritten kommt er auf sie zu, umarmt sie und nimmt neben ihr Platz. Flora hat eine zierliche Gestalt und braunes, halblanges Haar. Gabriel ist immer wieder von ihren tiefblauen Augen fasziniert. Was für Geheimnisse liegen auf dem Seelengrund dieser schönen Augen? Die Zeit wird es zeigen. Für ihn sieht sie wie Schneewittchen aus.

Das gemeinsame Interesse lässt die beiden in Grenzwissenschaften forschen. Sie sind ein Paar, das sich auf den inneren, suchenden Weg nach geistigen Erkenntnissen gemacht hat. Die Lehre der Mystik handelt von der Seele und dem Leben der Seele. Wer das Licht finden will, der muss sich zum Lichte erheben. Doch vorerst sind sie sich dessen noch gar nicht richtig bewusst, was die Geistige Welt ihnen zu offenbaren hat.

 

Das Krankenhaus

 

Das Krankenhaus ist eine wichtige Drehscheibe des Lebens von Krankheiten und Unfällen unterschiedlichster Art. Alles, was wir tun, denken, fühlen, hinterlässt klare Spuren auf einer unsichtbaren Ebene. Da im Leben nichts zufällig geschieht, fordert eine Krankheit oder ein Unfall auf, über sich nachzudenken.

Im Geschäftsleben kann noch Einiges delegiert werden. Doch wenn es um den eigenen Körper geht, muss jeder Mensch sich persönlich damit auseinandersetzen. Der Körper ist nicht mehr in der Balance und braucht Hilfe. Die Palette der Krankheiten ist mannigfaltig und es ist täglich eine neue Herausforderung für das Personal, das Beste zu geben. Ein ständiges Kommen und Gehen. Alle Patienten haben ihre eigenen Geschichten, ihre Krankheiten und ihre bestimmten Zeiten dafür. Jeder Patient erwartet, dass der Arzt immer das nötige Rezept hat, die Krankheit, das Leiden, die Unfallverletzungen möglichst schnell und gut zu behandeln.

In der heutigen Zeit nehmen psychische Krankheiten epidemisch zu. Aktuelle Statistiken besagen, dass jeder dritte Europäer mehr oder weniger an einer kompensierten Depression leidet. Und plötzlich steigt die Angst hoch wie ein Gipfelstürmer und klammert sich fest. Ein Gefühl, von dem man unerwartet überrannt wird und nicht weiß, wie man es wieder loswerden kann.

Angst ist vielfältig. Angst vor Krankheiten, vor dem Alleinsein, Angst, den Anforderungen des Lebens nicht mehr zu genügen. Disziplin und Selbstverantwortung dem eigenen Leben gegenüber kann nicht delegiert werden. Es gilt, das Leben selbst in den Griff zu bekommen. Schon das Gefühl, alleingelassen zu werden, löst Depressionen aus. Die Angst, von den Verpflichtungen verschluckt zu werden, löst Aggressionen aus. Jeder Mensch wird einmal diesen Stimmungen im Leben begegnen. Wichtig ist, die Balance zu finden. Damit der Pendelausschlag nach beiden Seiten kleiner wird. Dass Ärzte auch nur Menschen sind und auch die Medizin an Grenzen stößt, muss oft schmerzlich erkannt werden.

Es kommen aber auch Menschen ins Krankenhaus, die so viel Raubbau an ihrem gesunden Körper betreiben, dass es auch für Ärzte oft schwierig ist, den Sinn ihrer Arbeit darin zu erkennen. Sie stehen dem Patienten ohnmächtig gegenüber. »Die Dummheit kennt keine Sorgen«, wäre die passende Botschaft. Eine Neuorientierung des eingeschlagenen Weges aus der totalen Enge des Nullpunktes kann nur gefunden werden, indem neue Ebenen angepeilt werden.

 

Wichtige Momente sind für Flora, besondere Gespräche mit Patienten zu führen, damit sie aus der stummen Verzweiflung leichter herausfinden. Der Körper sendet durch Krankheiten Warnzeichen, um bewusst zu machen, dass es Zeit ist, einmal auszuruhen und über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Gerade betritt sie das Zimmer, in dem ein Burn-out Patient liegt. Kürzlich ist er mit einem Zusammenbruch notfallmäßig eingeliefert worden. Sein Zustand erlaubt ihm nicht einmal mehr, Eins und Eins zusammenzuzählen. Diagnose: ein totaler Blackout.

 

Der Burn-out Patient

 

Dem Patienten scheint es wieder besser zu gehen. Er sitzt im Lehnstuhl, begrüßt die junge Ärztin freundlich und verwickelt sie sofort in ein Gespräch.

»Frau Doktor! Ich habe mir einige Gedanken über mich, meinen Zusammenbruch und über unsere Gesellschaft gemacht. Haben Sie ein paar Augenblicke für mich Zeit?« Flora nickt, obwohl sie eigentlich keine Zeit hat. »Beim Nachdenken über mich, meine Kollegen und viele andere habe ich folgende Bilanz gezogen: In der heutigen Zeit rasen wir Menschen durchs Leben wie auf einer Autobahn. Ich war an vorderster Stelle. Immer schneller, immer rastloser, oft bis zu meiner totalen Erschöpfung. Da eine Sitzung, dort eine Sitzung, immer auf Achse. Die Anzeichen zum Innehalten wurden von mir einfach übersehen.

Wir gestressten Menschen können erst durch ein Burn-out, eine Krankheit oder einen Unfall ausgebremst werden. Dann, wenn das Bewusstsein wegen psychischer und physischer Erschöpfung aus dem Gleichgewicht fällt. Mein ganzes menschliches Empfinden geriet in Schieflage. Der angestrebte Lebensplan ging plötzlich nicht mehr wie erwartet auf, das Gefühl des Scheiterns, der Heimatlosigkeit, der inneren Leere stellte sich ein. Wahrhaben wollte ich es nicht.

Noch nie gab es ein Jahrhundert, in dem in so kurzer Zeit eine so große Vielfalt an technischen und anderen Errungenschaften auf uns Menschen einwirkte. Mir ist bewusst geworden, dass alles im Leben seinen Preis hat. Durch die völlige Hingabe zu diesen rasanten technischen Entwicklungen verliert man ein Stück seiner Individualität! Das führt zu Einsamkeit. Wird diese Tatsache einem bewusst, sitzt man schon tief in diesem Sog drin. Dann gilt es, nach neuen Ufern zu suchen. Dann schreit die Seele, von diesem pulsierenden, fordernden Alltag mit dem Ziel ausbrechen zu wollen, wieder zu lernen, der eigenen inneren Stimme zu lauschen. Zusätzlich die Sinne zu schärfen, um die leisen Wünsche zu hören und eine neue Orientierung zuzulassen. Um aus dieser Überforderungsspirale herauszukommen, muss der ganze Lebensrhythmus neu überdacht werden. Nur: Was hier einfach und logisch klingt, ist oft nur mit gravierenden Folgen umzusetzen. Ich muss wieder lernen, mich neu zu entdecken, mit all den Facetten meiner eigenen Persönlichkeit. Mir eine Lebenswelt zu erschaffen, die ein anderes Bewusstsein zulässt. Mein eigenes ICH neu entdecken. Mich selbst wahrnehmen heißt, die zentripetale und die zentrifugale Kraft in meinem tiefsten Innern anfangen zu bewegen. Das alte Leben will ich abstreifen, doch vor dem neuen Unbekannten hat man Angst. Des Lebens bunten Lichtern bin ich überdrüssig geworden. Es gilt, neue Inhalte der Universalität, die Geistesgeschichte zu finden. Für mein gegenwärtiges Leben bedeutet es anzufangen, an meinem inneren Tempel zu bauen.

An der Schwelle zur übersinnlichen Welt zu stehen, ist die gesuchte Herausforderung. Ein Hindernis zu überschreiten, um Neuem mehr Raum zugeben. Dem Leben wieder den eigenen Stempel aufzudrücken.

Alkohol und Drogen eignen sich unbestrittenermaßen nicht zur Lösung eines Problems. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Diese Drogen machen abhängig und haben einen Pseudo-Entspannungseffekt, der nur kurze Zeit andauert, jedoch großen Schaden anrichten kann. Die Alltagssorgen schwimmen mit.«

Flora pflichtet ihm bei: »Sie haben das richtig erkannt. Viele Patienten nehmen sich viele gute Vorsätze vor. Sind sie zurück im Alltagsleben, fallen sie leider allzu oft wieder in den alten Trott zurück. Auch wir Ärzte arbeiten nicht selten fast bis zum Umfallen und sind davor auch nicht gefeilt!«

»Jetzt, als ausgebremster Manager, empfinde ich mich erstmals bewusst als suchender Mensch! Soll ich möglicherweise eine Auszeit nehmen, vielleicht meine Arbeitsstelle kündigen, um eine lange Reise machen zu können? Oder mich sogar in ein Meditationsseminar zurückziehen? Oder mir auf endlos langen, staubigen Pilgerwegen die Füße wund laufen? Immer auf der Suche nach einem neuen Lebenssinn? Vielleicht präsentiert man den Daheimgebliebenen nach den Strapazen beim Ablaufen des Jakobsweges stolz das erhaltene Diplom. Sicher darf jeder auf seine persönliche physische Leistung stolz sein. Bringt mich das wirklich weiter?«

Flora zuckt mit den Schultern.

Der Patient lässt sie gar nicht zu Worte kommen und spinnt seine Gedanken weiter: »Ich habe hier endlich die nötige Ruhe gefunden, über mich nachzudenken. Ohne diesen Zwischenfall wäre alles im gleichen Trott ungebremst weitergegangen. Nun muss ich mein Leben wieder in die Hand nehmen. Die Zeiten sind vorbei, als ich wie ein gehetztes Tier durch das Leben gerannt bin. Bis jetzt habe ich nur an meiner Karriere gearbeitet, um die Erfolgsleiter noch höher zu steigen und ein noch größeres Gehalt zu bekommen. Eigentlich beginnt erst jetzt die wirkliche Arbeit an mir selbst, mit dem Ziel der Rückgewinnung meiner Lebensenergie. Es gab in meiner Studentenzeit eine Phase, da habe ich nach höheren Zielen gestrebt. Mit den Jahren im Berufsleben habe ich es einfach vergessen. Ich fühle mich wie ein Vogel im Käfig, der nicht weiß, dass er Flügel besitzt, mit denen er abheben könnte. Am Ende habe ich vielleicht sogar die ersten Schritte gemacht, die zur inneren Erleuchtung führen könnten.

Wer sich materiell praktisch alles leisten kann wie ich, der fängt automatisch an, nach inneren Werten, Erkenntnissen zu suchen. Sich selbst zu hinterfragen, das ist zweifellos eine gute Sache und der erste wichtige Schritt auf diesem Weg zur geistigen Erleuchtung. Dass es ein langer und anstrengender Weg sein kann, dessen bin ich mir bewusst. Ich gelte als gebildeter Mann, doch wie sieht es mit meiner inneren Ausbildung aus? Ich dachte einfach, wenn ich älter bin, habe ich immer noch genügend Zeit für solche spirituellen Dinge.

Nur: Dieser angestrebte Weg wird wohl kaum nach einer Auszeit erreicht werden können. Die sprudelnde Quelle in meinem suchenden Herzen hat mich aufgefordert, die Quelle des göttlichen Seins zu suchen. An diesem Punkt bin ich angelangt.

Ich als Suchender muss lernen, die Sinne zu meistern, die nur auf die äußere Welt abzielen! Ich habe gelesen: ›Wer das Spirituelle sucht, wird viele schwere und mühsame Wege wandern müssen.‹ Die Zeit ist nichts. Ein Tag kann lang sein und viele Jahre kurz. Nur dort, wo die Wegweiser des Werdens stehen, ist etwas geschehen, was nicht vergänglich ist. Die Wege, die zu Spiegeln des Allmächtigen werden, sind so mannigfaltig wie die Menschen selbst.

Jeder muss für sich selbst das Optimale herausfinden. Das Herz wird den Suchenden leiten. Wo Liebe ist, ist Licht. Verwandlung dieser Liebe in den Dienst am Nächsten, das ist die höchste Übung auf dem spirituellen Weg! Doch ich habe mich nur im Kreis von Egoisten bewegt und es nicht mehr gemerkt.«

»Das sind ganz wertvolle Gedanken, die Sie mit mir gerade geteilt haben. Ich werde mir das Gespräch zu Herzen nehmen. Ich bin überzeugt, dass eine fundamentale Wandlung bei Ihnen stattgefunden hat.«

 

Flora hat am Abend mit Gabriel über die Gedanken des Burn-out-Patienten diskutiert. Dieser Sinneswandel ist bemerkenswert. Leider müssen die Menschen nur allzu oft einen Tiefpunkt erreichen, um aufgerüttelt zu werden.

Sie sind zum Resultat gekommen, den Pilgerweg bewusst und gemeinsam mitten durchs Alltagsleben zu starten. Zu zweit und doch jeder für sich alleine. Sind sich beide auch sehr nah, ist doch jeder Lebensweg ganz persönlich und einmalig. Symbolisch gesehen, ist das ganze Leben ein Pilgerweg. Lernen, die Herzen zur allumfassenden Liebe auszuweiten. Das Universum ist ein wunderbarer Paradiesgarten, um darin zu lernen. An gewissen Stationen verweilt man etwas länger, solange, bis das tägliche Leben die Möglichkeit gibt weiterzugehen. Das Übersinnliche und Unbeweisbare nicht nur glauben, sondern seine Seele so schulen, dass eigene Erfahrungen damit gemacht werden können, die schlussendlich zu ersten Blicken, in die Geistige Welt führen können.

 

Die alte Dame

 

Flora hat ein paar freie Tage genossen. Das kalte Winterwetter mit Eis und Schnee bereitet dem Krankenhauspersonal viel zusätzliche Arbeit.

Im Team, auf der morgendlichen Arztvisite, begegnet Flora erstmals der alten Dame, welche mit einer Platzwunde im Gesicht, gebrochenem Arm und von einem Sturz verstauchtem, blutunterlaufenem Bein hilflos im Bett liegt. Sofort fixiert sie mit freundlichen Augen Flora. Auch ohne Worte ist spürbar, dass die Patientin große Sympathien für die junge Ärztin hat.

»Wie geht es heute mit den Schmerzen? Konnten Sie etwas schlafen?«, fragt der Oberarzt freundlich.

Ohne den Blick von Flora abzuwenden, jammert die Angesprochene drauflos: »Ich bin zu Hause auf die Nase geflogen, dazu brauchte es keinen Schnee und keine gefrorenen Straßen. Ach, wieso muss ich nur so alt werden? Langsam wäre es doch Zeit, dass ich gehen kann! Warum muss gerade ich dieses beschwerliche Leben fristen? Mein Mann ist schon so lange tot und ich bin immer noch da. Täglich kämpfe ich mit dem schrecklichen Gefühl, überflüssig geworden zu sein. Am liebsten wäre mir, ich bekäme eine Tablette, damit ich gar nie mehr aufwachen müsste!«

Flora steht etwas hilflos da. Der Oberarzt ergreift wieder das Wort: »Liebe Patientin, den lieben Gott über Leben und Tod zu spielen, steht nicht in unseren Kompetenzen. Unsere Aufgabe ist, Leben zu retten und zu heilen.«

Er wendet sich an Flora. »Frau Kollegin, geben Sie nachher der Dame nochmals ein Schmerzmittel!«

Daraufhin verlässt das Ärzteteam das Zimmer.

Die alte Dame wartet schon fast lauernd auf Flora. Sofort fängt sie wieder an, der jungen Ärztin von ihrem einsam gewordenen Leben zu berichten. Und dann ist es Flora, als ob eine innere Stimme zu ihr sprechen würde und die passenden Antworten bereithielte.

»Liebe Patientin, sehen Sie einmal alles aus einer etwas anderen Perspektive. Gerade bei alten und kranken Menschen hören wir oft diese fragenden Worte, wieso ausgerechnet sie immer noch ihr beschwerliches Dasein auf dieser Erde fristen müssen. Die Antwort ist ganz einfach: Der Lebensleib hat sich noch nicht soweit verpuppt, dass die Seele abheben kann. Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, wieder zu lernen, in Würde zu altern und zu sterben. Kürzlich habe ich mit meinem Freund diskutiert, dass eigentlich das ganze Leben ein Pilgerweg ist. So wie zu jedem Menschen eine individuelle Geburt gehört, trägt auch das Sterben seine persönliche Signatur. Am Ende des Pilgerweges – eines Menschenlebens – steht jeder vor dem Himmelstor und wartet auf Einlass. Noch niemand ist vergessen worden. Wie die Geburt der Eintritt ins physische Leben ist, so ist der Tod wie eine Geburt zurück ins übersinnliche Leben. Das geistige Lebensziel ist es, dass der Mensch seinen Lebensleib, vergleichbar einer Raupe auf dem Weg zum künftigen Schmetterling, verpuppt. So unterschiedlich die Menschen sind, so verschieden sind die Geistkörper, die Schmetterlinge, also Seelen, und die benötigte Zeit bis zur Vollendung seiner Umwandlung. Dann spannt die Seele ihre Flügel und fliegt zurück nach Hause.«

Die Angesprochene hat die Augen geschlossen und wirkt wie weggetreten.

»Schlafen Sie?«, fragt Flora leise.

»Nein, nein, sprechen Sie nur weiter. Das sind wunderbare, hilfreiche Gedanken, die Sie da für mich formulieren, Frau Doktor!«

Flora fährt fort: »Es ist unbestritten, dass jeder Körper älter wird und Beschwerden machen kann. Wenn jedoch das Interesse an anderen Menschen, der Gesellschaft sowie an der eigenen Entwicklung wach bleibt, dann bleibt der Mensch geistig jünger. Er nimmt nicht nur am Leben teil, sondern gestaltet es aktiv mit!«

»Frau Doktor, da kann ich Ihnen nur zustimmen! Ich fühle mich schon fast undankbar, dass ich mich so gehen gelassen und den Herrn Doktor aufgefordert habe, mir eine Tablette des Vergessens zu geben. Ich habe erwachsene Kinder und Freundinnen, die sich sporadisch liebevoll um mich kümmern. Vielleicht erwarte ich einfach zu viel, denn alle haben ja ihr eigenes Leben. Wir alten Menschen haben viel Zeit und wissen oft gar nichts damit anzufangen. Bei den jungen Menschen, die mitten im Leben stehen, rennt die Zeit davon. Der Karneval meines Lebens geht langsam zu Ende. Mein wahres Gesicht wird hinter der Maske gelüftet. Die Stunden, die uns Menschen wirklich ohne Masken zeigen, sind die letzten Stunden, dann tanzen wir nicht mehr mit auf dem Karneval des Lebens. Aber das muss man aushalten können, es kann auch Angst machen! Man wird mit einer Tatsache konfrontiert, die manch einer lebenslang von sich weggestoßen hat: sich auseinanderzusetzen mit dem baldigen Ableben. Nun wird es ernst. Nun gilt es, alles Irdische loszulassen. Das Materielle, aber auch Immaterielle. Mein ganzer Besitz, meine Begabungen, meine ganze Persönlichkeit.

Die letzten Schritte muss ich selbst machen, niemand wird es für mich tun können. In dieser letzten Phase bin ich angelangt. Durch Ihre Worte bin ich jetzt stark genug, mich dieser Tatsache ohne Angst zu stellen. Bitte sagen Sie nicht, dem sei nicht so. Was denken Sie eigentlich über die Sterbehilfe?«

Flora denkt ein paar Momente über dieses heikle Thema nach, um die richten Worte zu finden: »Die aktive Sterbehilfe ist immer ein aktuelles Thema, auch bei uns Ärzten. Ich habe meine Meinung dazu, ein anderer Arzt mag eine andere Meinung haben. Doch Sie haben ja mich nach meiner Meinung gefragt.«

Mit einem leisen Seufzer nickt die Patientin zustimmend. Flora betrachtet ihr altes gutmütiges Gesicht und spricht weiter: »Umfragen haben ergeben, dass in unserer westlichen Gesellschaft die meisten Menschen im Schlaf, möglichst unbewusst, betäubt und natürlich ohne Schmerzen sterben möchten. Die Angst vor dem Ich-Verlust treibt viele Menschen in eine Art Prävention, diese Verantwortung abzugeben. In früheren Zeiten war man bestrebt, möglichst bewusst über die Schwelle ins Jenseits zu treten. Die Menschen kommen sich ganz schlau vor, weil sie denken, den Todeszeitpunkt selber bestimmen zu können. Ich denke, Menschen, die von dieser Möglichkeit des Suizids Gebrauch machen, hätten oft sowieso nur noch eine kurze Zeit auf dieser Erde zu verweilen gehabt. Dann wäre man nach dem natürlichen Tod mit einem vollkommenen Schmetterlingskleid, dem Geistkörper, über die Schwelle getreten. Selbstmörder kommen nicht von der Erde weg. Das Leid, das sie erleben, wird schlimmer sein als die Schmerzen, die sie auf Erden hätten ertragen müssen. Eine fruchtbare Einsamkeit, die ausgehalten werden muss. Oft ist die Angst einfach so dominant in den Vordergrund gerückt, dass man von ihr getrieben wird wie ein gehetztes Tier, das gar nicht mehr klar denken kann. Und als letzter Ausweg ein arrangierter Suizid vorgezogen wird. Sicher mag es Situationen geben, wenn ein von Schmerzen geplagter Mensch nicht mehr leben will. Wenn schon Sterbehilfe, dann müsste das in den Kompetenzbereich zwischen Arzt und Patient gehören. Selbstverständlich ist es nicht die Aufgabe von uns Ärzten, einen Menschen zu töten. Das Eingreifen in den Sterbeprozess wird immer ein schwieriges Thema bleiben.

Wenn das Leben mit einem Giftcocktail beendet wird, wird die Seele gewaltsam vom Körper getrennt. Die Alternative wäre, mit Essen und Trinken aufzuhören. Mit diesem terminalen Fasten stirbt man ungefähr nach zehn Tagen. Dabei leidet man weniger als bei einem tödlichen Cocktail und hat eher den inneren Frieden. Ist jemand lebensmüde, fallen Essen und Trinken ohnehin schwer. Essen und Trinken sind mit Lebensgenuss verbunden. Bei guter Mundpflege haben sie keinen Durst und keinen Hunger. Sie lassen das Leben sanft los und sterben.

Wer seinen Lebensweg bis zum natürlichen Ende geht, steht vor seinem persönlichen Himmelshaus. Der Tod vollendet den Kreislauf des Lebens. Der Tod ist das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm je entronnen. Und so soll es auch sein. Denn der Tod ist die wohl mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er räumt das Alte weg, damit für Neues Platz geschaffen wird. Eines Tages wird jedem die Himmelstür geöffnet werden. An der Schwelle zur Geistigen Welt wird beim Übertritt der Mensch erwartet und zum himmlischen Fest geladen sein, wo er die Hauptperson sein wird. Die Engel werden begleitend zur Seite stehen. Und wer will nicht schon Engel sehen? Die Zurückgebliebenen werden weinen, die Vorausgegangen freuen sich auf ein Wiedersehen. Eintreten ins Himmelreich, ins göttliche Licht, ist die Krönung des Lebens. Wieso lässt sich der Mensch oft nicht die nötige Zeit dazu? Einen Schmetterling kann man auch nicht gewaltsam mit Gift aus der Raupe pressen. Sich durch einen Nebeneingang einzuschleichen, ist kein würdiger Höhepunkt eines gelebten Erdenlebens!«

Die alte Frau öffnet die Augen: »Jetzt freue ich mich schon fast auf den Tod. Mir persönlich hat Ihre Meinung sehr geholfen. Ich rede von mir und für mich könnten Ihre Schilderungen so stimmen! Denn ich habe auch kein Bedürfnis mehr zu essen!«

Flora lächelt: »So, jetzt haben wir lange philosophiert. Ich gebe Ihnen noch die Schmerzspritze!«

Die alte Dame wehrt ab: »Nein, nein, verschieben wir die Spritze auf später. Ich werde nun mein Leben nochmals Revue passieren lassen und mir Ihre wunderbaren Worte verinnerlichen! Dazu will ich geistig wach bleiben und nicht betäubt durch eine Spritze sein. Es ist schön, an meinem Lebensende einer so tollen jungen Ärztin begegnen zu dürfen. So hat alles seinen Sinn. Sogar mein unglücklicher Sturz!«

Ihr Atem geht ruhig und das Gesicht wird entspannt und schön. Flora verlässt kurz darauf leise das Zimmer.

 

Drei Tage später.

Die Verwandten sind zum Abschied gekommen. Langsam trennt sich die Seele der alten Frau vom sterbenden Körper. Vor dem inneren Auge erblickt die Sterbende ein Tor, es gehört zu ihrer Kathedrale. Sie geht darauf zu, stößt es auf. In diesem Moment, wo sie es durchschreitet, wird sie von einem Sog erfasst, emporgehoben. Unter sich erblickt sie den sterbenden Körper. Ihr Geist fliegt davon und verlässt die Zelle der sterblichen Hülle. Die umhüllenden Energien in Pastellfarben tragen die Sterbende in ein Lichtermeer, das schöner nicht sein könnte. Auf der anderen Seite des Lebens wird sie von den vorausgegangen Freunden und Verwandten zum himmlischen Fest abgeholt. Für die Zurückgebliebenen heißt es, endgültig Abschied zunehmen.

Als die Trauernden das Krankenhaus verlassen, hängt dichter Nebel über der Welt. Plötzlich zeigt sich ein Regenbogen. Welch wunderbare Botschaft aus dem Reich des Unsichtbaren! Die Toten sprechen über das Gefühl mit uns. Sie inspirieren, sie wirken mit, sie sehen die Wahrheit. Die alte Frau kann von der anderen Seite des Lebens auch erkennen, dass alte schwache Menschen nicht nur eine Hypothek für die Menschheit sind. Sie ziehen sich immer mehr von der physischen Welt zurück, dafür weben sie am geistigen Licht. Für die ganze Menschheit.

 

Organspenden

 

Als Flora die Cafeteria betritt, ist bereits eine hitzige Diskussion im Gange.

Da in der Transplantationsmedizin zu wenig Organe zur Verfügung stehen, wird von Befürwortern heftig darüber diskutiert, Jede und Jeden zum Organspender zu machen. Außer jemand äußert sich zu Lebzeiten ausdrücklich dagegen.

Der Assistenzarzt Lukas ist im Kollegenteam bekannt, die vielen Möglichkeiten in der Medizin auch aus einer alternativen Sicht heraus zu betrachten. Für ihn ist es ein innerer Drang, sich nach seiner schulmedizinischen Grundausbildung weiter in der Alternativmedizin fortzubilden. Nicht alle Kollegen können seinen Ansichten beipflichten. Für Flora ist es eine interessante Herausforderung, sich mit seinen kritischen Gedankenanstößen auseinanderzusetzen.

Er winkt Flora zu und fordert sie auf, neben ihm Platz zu nehmen. Alle rücken ein bisschen zusammen. Lukas empfindet große Sympathie für Flora, weil auch sie offen ist für andere Denkweisen. Und so fährt er fort.

»Leider wird dieses Thema der Transplantation nur aus physischer Sicht betrachtet. Richten wir den Fokus vor allem auf das Herz. So wird in bester Absicht die Meinung verbreitet, dass derjenige, der einen sinnlosen Tod sterben muss, wenigstens etwas Gutes tun soll, indem er seine Organe spendet. Aus rein irdischer Sicht betrachtet, mag dies eine Akt der Nächstenliebe sein! Doch wie sieht es aus geistiger Sicht aus? Nehmen wir an, ein junger Mensch verunglückt – fast – tödlich. Zwar ist er bereits hirntot, doch sein Herz schlägt noch. Dieser Mensch ist auf dem Weg, über die Schwelle ins Licht zu treten. Sein Körper und sein Geistkörper sind noch miteinander verbunden. Auch wenn er als hirntot bezeichnet wird. Das Seelisch-Geistige, das den Menschen ausmacht, lebt nicht nur im Hirn. Es lebt in den Stoffwechselorganen, den Gliedern, im Rhythmus von Herz-, Lungen- und Nervensystem, im Gehirn. Ein hirntoter Mensch ist demnach ein schwerkranker Mensch, nicht mehr bewusstseinsfähig, ein sterbender Mensch – irreversibel –, aber kein Toter. Die Nabelschnur zurück in die Geistige Welt ist noch nicht vollständig durchtrennt. Er befindet sich auf einer Zwischenebene. Das Leben beginnt mit einem Atemzug und hört mit dem letzten Atemzug auf. Der natürliche Tod ist ein Herztod. Man stirbt in dem Moment, wo das Blut nicht mehr fließt.

Gerade junge Menschen haben noch unverbrauchte Lebenskräfte, deshalb dauert der Sterbeprozess oft etwas länger. Genau an dieser Stelle greift die Medizin ein und unterbricht den Sterbeprozess. Die Organe des Hirntoten werden herausgenommen und verpflanzt. Das bedeutet: Der Organspender kann nicht sterben. Er wird ein Gefangener zwischen Stuhl und Bank, zwischen zwei Welten. Der Mensch, welchem das Herz weggenommen wurde, wird es suchen. Er wird den Herzempfänger beeinflussen, besetzen, weil er nicht tot ist. Ein Desaster!«

»Das sind Gedankengänge, die ich so auch noch nie bedacht habe!«, wirft Flora ein.

»Ich bin noch nicht fertig mit meinen Ausführungen! Bleiben wir noch beim Organ Herz.«

»Sorry, dass ich dich unterbrochen habe! Rede weiter, Lukas.«

»Den Einfluss der Psyche auf das Herz anerkennt auch die Wissenschaft zunehmend. Zwischen Herz und Psyche besteht ein besonderer Zusammenhang. Die alte Betrachtungsweise des Herzens als Sitz der Seele wurde in den Hintergrund gestellt. Was sich in Sprachbilder als Ahnung erhalten hat, nimmt die moderne Medizin zunehmend wieder zur Kenntnis. Mit ›leichtem Herzen‹ durch den Alltag gehen. Das Herz ist ein mystisches Organ, dessen Bedeutung weit mehr als ein Pulsgeber ist, der den Motor antreibt. Die Maschine funktioniert normalerweise ungeachtet dessen, ob wir sie mit oder ohne innere Zuwendung ölen, Hauptsache wir ölen sie. Es schlägt bereits beim ungeborenen Kind im Mutterleib. So sind seine energetischen Substanzen, die reinsten und edelsten Elektronen zwischen Mutter und Kind. Ich bin überzeugt, das Organ Herz ist etwas ganz Persönliches, etwas Heiliges, etwas Unantastbares, unser Gefühls-und Liebeszentrum. Es ist der Sitz der Wahrheit, aus der die Liebe und die Weisheit resultieren. Für manche Menschen mag es einfach ein Motor oder eine Pumpe sein, die zuständig für den Blutstrom des Körpers ist. Doch der Mensch ist nicht nur ein physisches Wesen, sondern auch ein geistiges. Der geistige Mensch ist umgeben von seinen persönlichen Gefühlen, Energiefeldern und Farben.

Der Volksmund kennt einige Redeweisen über das Herz. Die Ahnung davon ist noch in Sprachbildern erhalten:

Gute Freunde sind ein Herz und eine Seele.

Ein Geschenk kommt von Herzen.

Das Herz hüpft vor Freude.

Ein Herz ist gebrochen.

Es drückt mir fast das Herz ab.

Mir rutschte vor Angst das Herz in die Hose.

Ich werde es mir zu Herzen nehmen.

Nimm es nicht so schwer.

Er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube.

Er hat ein großes Herz.

Ich bin mit Leib und Seele – ganzem Herzen – dabei.

Mir blutet das Herz.

Sie ist offenherzig beziehungsweise großzügig.

Du bist meine Herzallerliebste.

 

Das Leben eines Jeden ist symbolisch eine heilige Flamme, die über allem leuchtet, in der die Welt entsteht und untergeht. Die Wissenschaft darf nicht danach die Hand ausstrecken und Unheil anrichten. Das Sterben ist ein geistiger Prozess, wird aber nur mit physischen Augen betrachtet. Der vorbestimmte Zeitpunkt des Todes mag für die meisten Menschen nie im richtigen Moment sein. Die Patienten grämen sich und hadern mit der übersinnlichen Welt, wenn ihre Wünsche nach Gesundheit nicht erfüllt werden.