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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Ursula von Arx, 1967 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Psychologie. Sie arbeitete als Lehrerin und Journalistin. Sie war Redakteurin beim NZZ Folio, der Zeitschrift der Neuen Zürcher Zeitung, und bei Das Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers. Seit Herbst 2009 lebt sie zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern in Brüssel.

ÜBER DAS BUCH

Es gibt viele Ideen, wie man sein Leben führen soll. Die meisten sind seit Jahrtausenden bekannt. Die wenigsten sind überraschend. Und alle haben sie einen Fehler: Das Leben will sich diesen Rezepten nicht recht anpassen. 20 Leute – von der Hausfrau zum Rockstar, von der Skandalautorin bis hin zum Mönch – erzählen von ihrem Leben: von ihren Wegen und Umwegen zum Glück und ihrem Umgang mit Unglück. Entstanden ist so eine Sammlung intimer Porträts, die auch eine Reise durchs menschliche Leben ist, von der Kindheit bis ins hohe Alter. Dieses Buch zeigt, dass ein gutes Leben nichts für Feiglinge ist, sondern ein Kampf, der ungebärdig, widersprüchlich, locker, schöpferisch, manchmal selbstzerstörerisch und zuweilen äußerst pragmatisch geführt wird.

Ursula von Arx ist ein Buch gelungen, das Sie nicht im Stich lässt. Denn das sicherste Glück ist – das eigene Glück und Unglück mit anderen zu teilen.

»Das Buch ist ein Glücksfall der narrativen Glücksforschung, ein hochwirksames, nicht apothekenpflichtiges Antidepressivum.«

FAZ

»Die wohltuende Ausnahme unter den Glücksbüchern. Weil Ursula von Arx ihre Leser nicht mit Ratschlägen verunsichert, sondern sie zur Ruhe kommen lässt – und damit bestenfalls auch zu sich selbst.«

Spiegel online

»Eine so beglückende wie auch bereichernde Lektüre.«

NZZ am Sonntag

Für meine Mutter

»Schreibe nicht über den Menschen, schreibe über ›einen‹ Menschen.«
E. B. White

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

»Man muss das Leben ertragen lernen«

Margarete Mitscherlich, 93, Psychoanalytikerin

»Hoffnungslosigkeit ist meine Muse«

Tomi Ungerer, 79, Zeichner, Maler, Kinderbuchautor

»Wenn ich ein glückliches Paar sehe, erfüllt mich das mit Wehmut«

Pia von Arx, 77, Hausfrau

»Der Tod ist mein Freund«

Günter Wallraff, 68, Undercover-Reporter

»Ich bin wie Obelix in einen Zaubertrank gefallen«

Daniel Cohn-Bendit, 65, Politiker

»Es gibt keinen Schmerz, der nicht zur Freude werden kann«

Anselm Grün, 65, Benediktinerpater

»Ich hatte den Tsunami um mich und in mir«

Kathrin Messner, 64, Direktorin der
One World Foundation (OWF)

»Das wahre, heilige, große, leuchtende Leben«

Annelies Štrba, 63, Künstlerin

»Mit jedem Mann öffnete sich mir eine neue Welt«

Catherine Millet, 62, Autorin

»Mut bereut man nie«

Lilo Weber, 58, Tanzkritikerin

»Die anderen sind reich, und ich bin legendär«

Blixa Bargeld, 51, Blixa Bargeld

»Ich müsste mir ein Siegerlächeln aufs Gesicht kleben«

Florian Bauer, 49, Grafiker

»Man darf seine Träume nicht aufgeben«

Peter Schüpbach, 48, Unternehmer

»Zeitverschwendung war für mich immer die größte Quelle von Glück«

Constantin Seibt, 44, Journalist

»Ehrlichkeit ist mein Luxus«

Franziska Jacques, 43, ehemals Kindergärtnerin, arbeitet heute als Putzfrau

»Es gibt Sachen, die man selber verkackt. Und es gibt Sachen, die sind verkackt«

René Wernicke, 34, Gebäudereiniger

»Wenn man dem Internet danken könnte, ich würde es tun«

Anja Lenja Mueller, 31, in der Ausbildung zur Heilpraktikerin

»Jeder kann vorgegebene Grenzen überwinden«

Verena Bentele, 28, Studentin und Paralympics-Siegerin

»Man muss seine Wünsche ordnen«

Julia Fischer, 27, Geigerin

»Was tun?«

Sophie Bruderer, 15, Schülerin

Nachtrag

Begriffliches zum Glück – Zahlen zum Glück – Das Glück der Ratgeber

VORWORT

Ich fing an, über Glück nachzudenken, als mir gekündigt wurde und ich entsprechend unglücklich war. Eine Erschütterung zwingt einen dazu, sein Leben neu zu ordnen, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und ein bisschen aufzuräumen. Ein Prozess, der seine Zeit braucht.

Ich tat alles Mögliche. Ich nahm die hässlichste Stoffpuppe meiner Kinder, zerstach sie mit der Schere und warf sie in den stinkenden Müll; so rächte ich mich an meinem ehemaligen Chef. Ich heulte. Pflegte mein Selbstmitleid. Kochte vor Wut. Ich verfertigte lange Listen mit Punkten, warum ich trotz meines Unglücks ein eigentliches Glückskind sei. Und zum ersten Mal in meinem Leben beachtete ich in der Buchhandlung die Abteilung Lebenshilfe/Ratgeber. Wie viel Literatur es da für mich gab!

Ich stellte fest, dass über das Glück nicht mehr nur nachgedacht wird, wie Philosophen das tun, seit es sie gibt. Das Glück wird heute vermessen. Mit den Methoden der Wissenschaft, sei es der Gehirnforschung, der Psychologie oder der Ökonomie, wird es erforscht und erklärt. Ich lernte, wie das Glück mit dem Geld zusammenhängt, was Glück und Sport miteinander zu tun haben, ob die Ehe glücklich macht und ab dem wievielten Kind das Unglück beginnt (mehr dazu ab Seite 208).

Ich fand hilfreiche Tipps und gut gemeinte Drohungen, etwa die, dass Unglück Unglück schaffe und dass es deshalb ratsam sei, glücklich zu sein, weil am Glück viel mehr hänge als nur das Glück, nämlich das gute Leben überhaupt. Das klang in meinen Ohren ziemlich totalitär. Gefallen haben mir deshalb auch die Glückskritiker, die gegen die um sich greifende »Glückshysterie« (Wilhelm Schmid) anschrieben (mehr dazu ab Seite 214).

Am meisten aber halfen mir Gespräche. Ich habe meine Kündigung hundertfach erzählt. Ich brachte sie damit in eine Form, ich stellte sie vor mich hin, machte eine Geschichte aus ihr. Und meine vielleicht etwas forcierte Ehrlichkeit hatte zur Folge, dass man auch mir Hunderte von Geschichten erzählte. Rezepte konnte mir keiner geben. Aber allein die Haltung, in der jemand berichtete – selbstironisch, abgeklärt, finster oder locker, mit Bitterkeit, Humor oder Galgenhumor –, zeigte mir Möglichkeiten auf. Und ich wusste jetzt, ich bin nicht allein. Ich konnte mein Unglück einbetten in die Erlebnisse anderer.

Diese Erfahrung führte zu diesem Buch. Die Menschen, die hier zu Wort kommen, sind zwischen 15 und 93 Jahre alt. Die einen haben das Leben vor, die anderen fast hinter sich. Manche kennen Krieg und Hunger, andere Hunger nur als Lebensgefühl. Dass Glück ohne Disziplin nicht zu haben ist, geht wie ein roter Faden durch die Porträts. Doch auch hier findet sich – zum Glück – eine Ausnahme: Die pure Freude an sich selbst kann ebenfalls ein effektiver Weg sein.

Ich habe mit zwanzig berühmten und weniger berühmten Menschen über ihr Glück geredet, aber schnell landeten die Gespräche auch immer beim Unglück: worin es besteht, wie man es aushält oder daraus herausfindet. Das Unglück ergebe eben mehr Geschichten als das Glück, sagte einer meiner Interviewpartner, und damit hat er offensichtlich recht.

Ein anderer meinte, wir leben, um Geschichten zu erzählen. Ihn kennt man in der Öffentlichkeit; er hat seine Existenz in Anekdoten verpackt, in jedem Interview, das er gibt, entwirft er sich neu. Weniger Berühmte tun das kaum.

Aber es scheint allen gutzutun. Denn manche Geschichten in diesem Buch sind traurig, doch auch deren Helden freuten sich, als ich ihnen meine Nacherzählung ihres Lebens vorlegte. Vielleicht weil sie merkten, dass es Höhen und Tiefen hat, ein Thema, eine Gestalt und in den meisten Fällen Stoff für ein Drama. Form, also Schönheit, kann Unglück aufheben. Mindestens sagte das eine dritte Interviewte: dass sie all die großen Gefühle in der Kunst erlebe, so trostreich wie erhaben, und sich deshalb im Leben mit Zufriedenheit zufriedengebe.

Die Geschichten in diesem Buch zeigen, dass ein gutes Leben nichts für Feiglinge ist, sondern ein Kampf, der mutig oder unter Protest, widersprüchlich, locker, selbstzerstörerisch oder zuweilen äußerst pragmatisch geführt wird. Und dass das einzig sichere Rezept für Glück ist – das Glück und Unglück mit anderen zu teilen.

 

»Man muss das Leben ertragen lernen«

MARGARETE MITSCHERLICH, 93, PSYCHOANALYTIKERIN

Margarete Mitscherlich setzt ihre Brille auf und mustert mich mit ihren blassblauen Augen. Es ist ein Blick echter Neugier. »Worüber wollen wir denn reden?«, fragt sie. Über Glück, sage ich. Da muss sie laut und lang lachen. Sie lacht sehr jung. Dabei fehlen nicht einmal sieben Jahre, und Margarete Mitscherlich kann ein ganzes Jahrhundert überblicken.

Sie streicht sich den Schlaf aus Augen und Haaren. Denn um die Mitte des Tages wird sie jeweils von einem dringenden Ruhebedürfnis heimgesucht, sie muss sich hinlegen. Unser Rendezvous hat sie vergessen, und ich habe sie geweckt. Eine Situation, die sie mit Improvisation bewältigt. »Oh, ich habe ja wirklich allmählich, – wie heißt diese Krankheit schon wieder?«

Wenn sie sich jetzt vorsichtig und mithilfe ihres Rollators Richtung Küche bewegt, dann sieht man eine Dame, die sich auf die Gebrechlichkeit des Alters eingelassen hat. Wenn sie aber mit zwei Wassergläsern zurückkommt und diese so schwungvoll auf den Tisch schleudert, dass sie fast wieder runterfallen, liegt in dieser Geste auch wilder Übermut.

Die Zumutungen des Alters kann sie längst nicht mehr ignorieren: »Also, lustig ist es nicht. Ich sehe eigentlich keine Vorteile.« Eine Operation am Hals, eine kaputte Achillessehne, ein Jahr lang musste sie liegen, mehrere kleine Unfälle, das Gehör lässt nach, die Müdigkeit nimmt zu, die Geschicklichkeit ab, der Körper schrumpft, »um mehr als acht Zentimeter!«, sagt Margarete Mitscherlich. Sie macht sich nichts vor: »Man wird nicht schöner mit dem Alter, nicht schneller, nicht einmal wirklich schlauer«, sagt sie, »nur schwächer.« Sie lacht dazu. Älter zu werden bezeichnet sie als »eine tödliche Krankheit«. Manchmal fühle sie sich ein bisschen besser, manchmal ein bisschen schlechter, das ändere nichts daran, dass sie mit jedem Tag mehr verfalle.

Mindestens so schwer wie unter den körperlichen Beschwerden selbst leidet Margarete Mitscherlich an deren Nebenwirkungen. Das nachlassende Gehör macht Gespräche schwierig. Die schwachen Beine haben ihren Radius klein gemacht. Nicht einmal mehr in ihr geliebtes Haus im Tessin mit Seeblick kann sie gehen, zu steil liegt es im Hang. Sie reiste immer sehr gern, »weltsüchtig« nannte eine Freundin sie. Jetzt ist ihre Welt so klein, wie ihre Wohnung im Frankfurter Westend groß ist. In hellen Räumen und umgeben von Büchern und Möbelklassikern der 50er-Jahre verbringt sie ihre Tage und Nächte.

Dabei war sie ein wildes, hüpfendes Kind, das im dänisch-deutschen Grenzland die Wälder unsicher machte. Und auch später, darauf legt sie Wert, war sie immer ein ganzer Mensch, also auch ein schwimmender und rennender. Da haben ihr die fortgeschrittenen Jahre enorme Bescheidenheit auferlegt. Heute verlangt sie von sich, sich nicht gehen zu lassen. Die Haare in Ordnung zu halten, jeden Morgen zu turnen, Gesicht und Körper zu pflegen, darin sieht sie Zeichen der Selbstachtung. Früher liebte sie gutes Essen und Trinken und musste auf ihr Gewicht achten, heute ist ihr Appetit klein. Sie hatte immer Spaß an schönen Kleidern, wenn sie sich jetzt anzieht, empfindet sie das als harte Arbeit. Sie kauft immer noch teure Cremes, auch wenn sie weiß, dass sie damit jene Momente nicht verhindern kann, in denen sie ihr Spiegelbild betrachtet und sich hinter all den Falten suchen muss.

Empörung scheint ihr allerdings sinnlos, der Unbill des Alters gegenüber hält sie »Resignation für vernünftig«. Dass Mitscherlich, obwohl sie den körperlichen Jammer akzeptiert, keineswegs kleinmütig wirkt, hat wohl mit ebendieser prosaischen Haltung zu tun. Margarete Mitscherlich ist eine sachliche Frau, offen für das, was sie sieht. Sie setzt ihre Wachheit darauf an, jeden Brocken unverdauter Erfahrung abzutragen. Sie setzt auf die befreiende Macht der Wahrheit. Das gibt ihr etwas Unerschütterliches.

»Wissen Sie«, sagt Margarete Mitscherlich jetzt etwas unvermittelt, »das mit dem Glück, das ist natürlich so eine Sache. Im Moment zum Beispiel bin ich nicht glücklich, weil ich nämlich den Eindruck habe, dass es meinem Sohn gerade nicht gut geht.«

Und aus der nüchternen alten Dame wird sehr schnell eine Mutter mit Muttersorgen. Dabei ist ihr Sohn inzwischen über sechzig Jahre alt und war oberster Manager eines Großunternehmens, das in die Schlagzeilen geraten ist, und er damit auch.

Er sei in einem Haifischteich und sei selbst so gar kein Haifisch, sagt sie. Aber wenn er es in diesem Teich so weit gebracht hat, sage ich, muss er selbst doch auch ein bisschen Haifisch sein, das ist doch der Preis, den man bezahlt. »Meinen Sie?«, sagt sie. »Nein, ich kann das nicht glauben. Er ist einfach kein Haifisch, das glaube ich wirklich nicht.« Und das macht ihr Sorgen: »Wenn er es nur wäre.« Sie liege in der Nacht wach und überlege, wie sie ihm helfen könne. Sie hoffe, dass er nicht bitter werde. Sie denke, dass sie ihm zu wenig Ellbogen beigebracht habe.

Dabei ist es Margarete Mitscherlich völlig klar, dass sie als Mutter längst nicht mehr in der Verantwortung steht: »Mein Sohn ist glücklich verheiratet und Vater von vier Kindern.« Trotzdem lässt die Psychoanalytikerin ihre professionelle Fähigkeit zur Distanznahme, die sie sonst kaum abzulegen scheint, bei ihrem Sohn jetzt einfach fahren. Und diese Reaktion ist wohl der zweite Schlüssel zu Mitscherlichs wacher Lebendigkeit: Sie hat die Fähigkeit, sich auch im hohen Alter noch auf den Kummer, das Glück, das Leben anderer Menschen einzulassen und dabei die Tatsachen des eigenen Gefühlslebens nicht auszusperren.

Nun bleibt ein Sohn für die Mutter immer ein Sohn, Mutterliebe ist lebenslänglich, und bei Margarete Mitscherlich kommt hinzu, dass sie zu wissen glaubt, was ihre Mutter-Sohn-Beziehung geprägt hat. Die Tatsache etwa, dass sie ihr Kind im Alter von zwei bis sechs weggab, »in die Obhut meiner Mutter nach Dänemark«, sie sah damals keine andere Möglichkeit. Sie wollte und musste finanziell auf eigenen Füßen stehen, sie war Ärztin und wollte sich zur Psychoanalytikerin ausbilden lassen, sie wusste, dass dieser Beruf wie maßgeschneidert war für sie, sie wollte nach London, wo die Großen der Zunft waren, Michael Balint, Melanie Klein, Anna Freud. Damit verknüpft die Tatsache, dass sie deswegen Schuldgefühle hatte, obwohl sie immer schon fest davon überzeugt gewesen sei, dass »nur eine glückliche Mutter auch eine gute Mutter ist«.

Natürlich habe sie nachher immer versucht, die vier Jahre ihrer Abwesenheit irgendwie wettzumachen. Einerseits sei er ja sehr selbstständig gewesen, sodass sie ihn manchmal wohl auch überschätzt habe, andererseits sei er als Junge oft zu ihr gekommen bei einem Streit mit anderen und habe sie gebeten, ihn zu verteidigen. Natürlich habe sie da gesagt, nein, das musst du selbst tun. Aber gleichzeitig sei sie auf dem Balkon gestanden, jederzeit bereit einzuschreiten, wenn einer ihrem Jungen was getan hätte. Margarete Mitscherlich lässt zu, dass ihr damaliges Verhalten sie bis heute beschäftigt.

Auf dem Tisch liegt die neuste Ausgabe der Zeitschrift Psyche. Und sie hat zwei Tageszeitungen abonniert: »Wissen Sie, ich bin immer froh, wenn mein Kopf beschäftigt ist.« Denken und Erkennen war für sie immer schon ein Elixier, aber jetzt, da sie sich nicht mehr auf ihren Körper verlassen kann, mehr denn je. Trotz der ihr bewussten Tatsache, dass nicht sie die Zukunft gestalten wird, will sie die Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Dass sie sich von einer Welt, die immer weniger auf ihre Teilnahme baut, keineswegs verabschiedet, ist wohl der dritte Schlüssel zu Mitscherlichs heiterer Präsenz: »Es macht mich einfach glücklich, Zusammenhänge zu erkennen. Ich will informiert sein. Ich will wissen, warum ich handle, wie ich handle. Immer noch. Das macht einfach frei. Zu verstehen und verstanden zu werden ist doch der Weg zu einem guten Leben. Das hilft einem, die Welt zu ertragen.«

Ertragen? Dabei wollte sie die Welt doch einst verändern. »Ich glaube, man muss sie in erster Linie ertragen lernen. Verändern kann man ja nicht wirklich viel.« Sie bezeichnet sich als »Realistin«. »Das Wichtigste ist, sich bewusst zu werden, dass man in einem Räderwerk steckt. Man wird in Situationen geworfen. Und daraus muss man dann etwas machen. Immer wieder.«

Wenn Margarete Mitscherlich aus ihrem Leben erzählt, dann schildert sie solche Situationen, solch »prägende Umstände«. Ihr Leben erscheint von heute aus gesehen als eine ziemlich schlüssige Abfolge von Gegebenheiten, die sie in einem guten Sinne zu nutzen wusste.

Die Eigenständigkeit ihrer Mutter zum Beispiel war für sie prägend. In einer Zeit, als die gesellschaftliche Bestimmung der Mädchen sich noch im Heiraten und Kinderkriegen erschöpfte, drängte die Mutter Margarete zum Studium: »Sie redete mir so lange ein, dass ich doch Abitur machen wolle, bis ich es am Schluss selbst glaubte.«

Eine weitere Gegebenheit war ihre Schulzeit in Deutschland unter den Nationalsozialisten. »Da sah ich, wie sich eine ganze Gesellschaft dem offensichtlich Bösen, Verlogenen unterordnen kann.« Blinder Gehorsam gegenüber gesellschaftlichen Konventionen ist ihr seither unmöglich und Widerstand gegen eine in ihren Augen falsche allgemeine Moral selbstverständlich. Wobei sie auch ihre eigenen Grenzen kennengelernt hat. Sie habe es sich später übel genommen, nicht so viel Mut gezeigt zu haben wie die Geschwister Scholl, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt haben. Sie selbst habe doch in diesen abnormen Zeiten »nur« normales Verhalten gezeigt.

Eine Gegebenheit oder vielmehr »ein glücklicher Zufall« war ihre Begegnung mit Alexander Mitscherlich, die sich zu einer langen Liebes- und Arbeitsbeziehung entwickelte. Die fing nach dem Krieg als Affäre an. Er war zum zweiten Mal verheiratet und Vater von vier Kindern, und als Margarete schwanger wurde, war Scheidung für ihn keine Option. Sie akzeptierte seine Entscheidung, sie konnte sie sogar verstehen. Und war in einem bestimmten Sinne froh: Sie hatte sich lange für das Glück ihrer Mutter verantwortlich gefühlt, die eine großartige, kluge, aber im Grunde traurige Frau war. Und später hatte sie während sieben Jahren nicht den Mut, sich von einem tuberkulosekranken Mann zu trennen, obwohl sie zusammen nicht glücklich waren.

Hier nun, mit dem verheirateten Alexander, hatte sie keine Verantwortung zu tragen, das erleichterte sie. Hart war es trotzdem. 1949 kam ihr Sohn zur Welt, in einer Zeit also, in der ledige Mütter noch als »gefallene Frauen« betrachtet wurden. Sie hatte viele praktische Probleme, aber die öffentliche Meinung belastete sie nicht, da war sie innerlich immun: Die Erfahrungen während der Nazizeit hatten sie diesbezüglich unabhängig gemacht.

Schritt für Schritt, so scheint es im Rückblick, hat sie in ihrem Leben den Zusammenhang von Freiheit, Erkenntnis und Glück freigelegt. Und dieser Zusammenhang gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für ganze Gesellschaften. Diese Überzeugung stand hinter Die Unfähigkeit zu trauern, dem Buch, das Margarete Mitscherlich zusammen mit Alexander schrieb, mit dem sie inzwischen verheiratet war. Das Werk erschien 1967, wurde zu einem Bestseller und zeigte große Wirkung. »Es war das richtige Buch zur richtigen Zeit«, sagt sie. Während die nach dem Krieg geborenen Söhne und Töchter aufstanden, in ihren Eltern die Täter Hitlers suchten und nach deren persönlicher Schuld fragten, forderten die Mitscherlichs, dass sich Deutschland als Nation seiner Vergangenheit stellen müsse, was es bis dahin keineswegs getan hatte. Wer wolle, dass sich die Gräuel der Nazizeit nicht wiederholten, müsse verstehen, wie es dazu kommen konnte, und welche Folgen die Verdrängung der Schuld haben könnte.

Rund zehn Jahre später brachte Mitscherlich dann das vermeintlich unversöhnliche Paar Feminismus und Psychoanalyse zusammen, indem sie Freuds Verdienste für die Anerkennung einer weiblichen Sexualität herausstrich. Vor Freud seien Frauen ja gar nicht als sexuelle Wesen in Betracht gezogen worden, sagt sie. Als die Frauen der 68er-Bewegung sich dann von der 68er-Bewegung befreiten, war Margarete Mitscherlich zwar bereits sechzig, sah aber durchaus die Notwendigkeit, in den Frauen ein neues revolutionäres Feuer zu entfachen. 1977 bekannte sie in der ersten Ausgabe der Emma: »Ich bin Feministin.«

Dabei war sie ideologiefrei freundlich zu den Männern. Sie sah in ihnen nicht in erster Linie Vergewaltiger und Unterdrücker der Frauen, sondern Verletzte, die sich gegen die grundlegende Kränkung zu behaupten suchen, dass sie ihr Leben einer Frau, ihrer Mutter, zu verdanken haben, dass eine Frau über ihr Sein oder Nichtsein entschied.

Und ebenfalls gegen den damaligen feministischen Mainstream war Mitscherlich streng zu den Frauen: Sie sah in ihnen nie nur Opfer, sondern Mittäterinnen. Denn dass die Frauen den Kindern, die sie gebären, ebenso ausgeliefert sind wie die Kinder ihnen, führe bei ihnen zu einem perversen Masochismus, den die Gesellschaft in ihren Muttermythen fördere und den die Frauen zu wenig hinterfragten, so Mitscherlich. Zudem seien Frauen einander oft genug feindlich und schadenfroh gesinnt, statt sich gegenseitig zu unterstützen. Häufig sei eine Frau der größte Widersacher einer anderen Frau.

Margarete Mitscherlich hat enorm viel erfüllte Vergangenheit in sich. Und sosehr sie sich immer noch um die Gegenwart bemüht, lebt sie doch mehr und mehr in ihren Erinnerungen. Ihre Zukunft sieht sie an einem kleinen Ort: »Nur noch diesen Sommer«, dachte sie letzten Sommer, und jetzt denkt sie: »Mein letzter Sommer.«

Sie denkt oft an den Tod. Er ist in ihrem Leben gegenwärtig geworden. Die meisten Menschen, die ihr wichtig waren, sind gestorben. Ihre Mutter, die sie als »die erste Liebe meines Lebens« bezeichnet, der von ihr sehr geliebte Alexander, viele Freunde, und sie ist ein zur Freundschaft begabter Mensch; sie hatte viele lebenslängliche Freundschaften. »Aber wer wird schon so alt, wie ich es jetzt bin?« sagt Margarete Mitscherlich.

Sie vermisst ihre Toten sehr, »aber da muss man halt einfach durch«, sagt sie. Jammern nützt nichts, also jammert sie nicht. Dabei beharrt sie darauf, ganz Psychoanalytikerin, dass man den Schmerz nicht verdrängen dürfe, das koste sehr viel Energie und blockiere. Nur wenn man sich die Trauer bewusst mache, auch die Erinnerungen, die Schuldgefühle, alles, so schmerzhaft dies auch sei, einzig dann könne man wachsen und weiterleben.

Nur den eigenen Tod hält Margarete Mitscherlich sich offenbar nicht nur erfolgreich vom Leib, sondern auch aus ihren Gedanken fern. Nicht, weil sie so sehr am Leben hängt, und auch nicht, weil sie an ein Leben nach dem Tod glaubt. Sondern weil man den eigenen Tod gar nicht denken könne: »Wie soll ich mir denn das Nichts vorstellen? Das geht ja gar nicht«, sagt Mitscherlich und schenkt Wasser nach.

 

»Hoffnungslosigkeit ist meine Muse«

TOMI UNGERER, 79, ZEICHNER, MALER, KINDERBUCHAUTOR

Ein Besuch bei Tomi Ungerer ist ein Besuch bei einem Menschen, der sagt: »Zum Glück bin ich nie glücklich gewesen.« Er heißt einen willkommen mit den Worten: »Ach, wären Sie doch lieber nicht gekommen.« Er mag Beleidigungen: »Also, ich weiß auch nicht, was Sie in Ihrem Kopf haben.« Ich sage: »Aber damals haben Sie in Neuschottland gewohnt, nicht?« Er bellt zurück: »Ja, was. Und? Durfte ich da vielleicht nicht wohnen? Aber jetzt lebe ich in Irland. I-R-L-A-N-D. Verstehen Sie?« Plötzlich jault er auf: »Ah, ich hab solche Schmerzen.« Er wimmert: »Ich bin ja so erschöpft.« Und winselt: »Ein bisschen Respekt, bitte! Ich bitte um Respekt. Ich bin jetzt 79 Jahre alt und hatte drei große Ausstellungen.«

Wie ein Refrain unterbricht dieser Satz das Gespräch: »Ich bin müde.« Er fasst sich an den Kopf: »Ich bin fertig.« Er streicht sich durch die Haare: »Ich kann nicht mehr.« Aber auf den Vorschlag, eine Pause zu machen, reagiert er unwirsch.

Ein Besuch bei Tomi Ungerer ist ein rasantes Wechselbad der Gefühle. Die so dramatisch und vital zum Ausdruck gebrachte Empfindlichkeit und die plötzlich zischende Wut gehen leichtfüßig über in Höflichkeit, Freundlichkeit, Schwermut, Ernst, Lächeln, Lachen, Schalk, Lockerheit und Freude, über einen gelungenen Satz etwa. Die versöhnliche Kraft und die Abgründe, die man in Tomi Ungerers Arbeiten findet – von seinem Zauberlehrling bis hin zu Schutzengel der Hölle –, offenbart er auch als Person, ungezähmt durch die Konturen seines Zeichenstifts und ohne Übergänge.

Herr Ungerer, können wir über Glück reden?

»Ach was. Das ist doch eine Illusion. Es hat gar keinen Sinn, über Glück zu reden, weil es Glück nicht gibt. Man kann es natürlich suchen, bitte. Ich habe nichts dagegen. Aber das ist dann eine Ballonfahrt, bei der man sehr schnell abstürzt.«

Für Sie ist Unglück ein verlässlicherer Treibstoff?

»Aber sicher. Ich mache mir keine Hoffnungen. Wer nicht hofft, kann nicht enttäuscht werden. Hoffnungslosigkeit ist meine Muse. Je hoffnungsloser ich bin, desto mehr wuchern meine Ideen. Da schießen Bilder aus der Hand wie Unkraut aus dem Boden. Glück dagegen ist viel zu ernst. Glück ergibt keine Geschichten. Und hat keinen Humor. Ohne Verzweiflung ist Humor nicht zu haben.«

Was bringt Sie denn zur Verzweiflung?

»Alles. Diese Welt. Ich trage das Unglück der Welt auf meinen Schultern. Ich muss nur die Nachrichten schauen. Alles voller Kriege, Flutkatastrophen, Hungersnöte. Das kriege ich nicht mehr aus meinem Kopf. Noch jetzt besuchen mich diese iranischen Mädchen, die ich vor zwölf Jahren im Fernsehen gesehen habe, barfuß im Schnee. Sie kommen näher und näher und sehen mich aus großen, traurigen Augen an, und ich erkenne ihre Gesichter, obwohl ich sie nie gesehen habe. Das kann ich nicht erklären, diese immer wiederkehrenden Visionen, diese Schreckensbilder.«

Was machen Sie damit?

»Ich erzählte mal jemandem davon, und er sagte: Du musst sie willkommen heißen. Du musst mit ihnen reden.«

Das hilft?

»Das war ein kluger Mann, ja. Man muss seine Ängste annehmen und damit leben lernen. Man darf sie nicht verdrängen. Das nützt nichts. Damit werden sie nur größer und bedrohlicher. Man kann auch das Böse nicht verdrängen. Man muss es anerkennen wie ein uneheliches Kind. Es ist in uns und dieser Welt. Man kann es nur zähmen, indem man sich mit ihm anlegt, nicht, indem man es flieht.«

Besuchen Sie deswegen regelmäßig das Konzentrationslager Struthof?

»Selbstverständlich. Und ich nahm auch meine Kinder mit, wenn sie im Elsass waren. Denn die Menschen morden nun mal, sie saufen, schreien, bekiffen sich, sie vögeln, schlagen sich die Köpfe ein und krepieren. Jeder fährt seinen eigenen Lasterwagen, jeder ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde, vereinigt das Schlimmste und das Beste in sich. Das muss man den Kindern zeigen, damit sie eine Haltung dazu entwickeln können. Es ist grausam, Kinder in rosa Watte zu packen. Es ist nicht grausam, den Kindern die Welt zu zeigen, wie sie ist.«

Wobei die Welt Ihrer Kinderbücher ja gar nicht hoffnungslos ist. Im Gegenteil. Es gibt zwar drei grimmige Räuber, aber sie bauen mit dem geraubten Geld ein Waisenhaus. Und in Zeraldas Riese ist der böse Menschenfresser am Schluss glücklich verheiratet und hat viele Kinder. So freundlich ist die Wirklichkeit nicht immer.

»Aber der eine Junge des Riesen hält ein Messer hinter dem Rücken versteckt. Das heißt, die Grausamkeit geht weiter. Doch Fehler können korrigiert werden, wer Böses tut und bereut, dem wird vergeben. Das ist die frohe Botschaft. Das Böse geht ins Gute über, umarmt es, steckt mit ihm unter einer Decke, je nachdem, böse ist nicht nur böse, gut nicht eindeutig gut. Alles ist eben relativ. Man muss sich nur umdrehen, schon wird aus links rechts. Für eine Ameise ist eine Pfütze ein Ozean, für einen Astronauten ist ein Ozean eine Pfütze. Damit muss man klarkommen.«

Konnten Sie Ihre Erfahrungen mit Krieg und Besetzung auch so relativieren? Sie waren neun Jahre alt, als die Deutschen 1940 bei Ihnen im Elsass einmarschierten. Von einem Tag auf den anderen durfte kein französisches Wort mehr gesprochen werden. Alle Hauptstraßen wurden in Adolf-Hitler-Straße umbenannt. Sie selbst hießen plötzlich Hans.

»Ja, die Deutschen waren mir eigentlich recht sympathisch. Es waren jedenfalls nicht die Hunnenhorden, die ich vom elsässischen Zeichner Hansi her erwartet hatte. Da war ich selbst überrascht. Unter uns wohnte ein sehr freundlicher Waffenmeister. Er verkündete strahlend, er hätte zwei Söhne, die bereits für den Führer gestorben seien, und es wäre ihm eine Ehre, auch noch den dritten zu opfern. Er zeigte zu dem Kastanienbaum vor unserem Haus und sagte zu meiner Mutter: Frau Ungerer, eines Tages werden an den Ästen dieses schönen Baumes Juden hängen.«

Wie haben Sie die Schule erlebt?

»Der Führer braucht auch Künstler, hieß es, so ließ man mich machen. Ich wurde sogar bewundert. Nein, obwohl ich keine guten Noten nach Hause brachte, war die Schule für mich keine traumatische Erfahrung. Natürlich werde ich Sätze wie Denket nicht, der Führer denkt für euch nie vergessen. Aber ich bin ja der Einzige, der auch sagt, was gut war. Zum Beispiel die Lieder. Dieser Naziunterricht fing nach jeder Pause mit einem Lied an. Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute, da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt – solches singe ich heute noch. Wenn ich deprimiert bin, kann mich so ein Nazilied etwas aufrichten.«

So, so.

»Das ist keine Provokation. Mir gefällt auch der Goebbels-Spruch Kraft durch Freude. Und die Deutschen haben mir Disziplin beigebracht. Dafür bin ich dankbar. Ohne Disziplin ist man verloren. Wenn es Glück denn geben würde, wäre es eine Frage der Disziplin.«

Wie meinen Sie das?

»Ich bin ja ein unsäglich ängstlicher Mensch. Ich bin ja so ängstlich, dass ich gar nicht überlebt hätte, wenn ich nicht schon früh Rezepte gegen diese Angst entwickelt hätte. Disziplin ist eine Haltung dem Leben gegenüber. Try harder! Bleib dran!«

Was für Rezepte fanden Sie?

»Erstens: Keine Fragen stellen, wo es keine Antworten gibt. Zweitens: Das Unabänderliche akzeptieren. Wenn der Vater stirbt, stirbt er eben. Drittens: Man muss über alles lachen. Hast du einen Tumor? Nimm ihn mit Humor. Viertens: Auf das Schlimmste gefasst sein. Ich habe immer eine Schachtel mit Gummiband, Klebstoff, einem Schlauch und einem Lederriemen bei mir. So bin ich gegen alle möglichen Katastrophen gewappnet.«

Sie wappnen sich symbolisch.

»Natürlich symbolisch. Also bitte!«

Sie waren dreieinhalb, als Ihr Vater starb. Wie konnten Sie da einfach so sagen, tot ist tot?

»Na ja, ich habe mich natürlich schon sehr nach einem Vater gesehnt. Es war richtiggehend traumatisch für mich, keinen Vater zu haben. Ich füääüäü«