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Dirk Rasch

RETTET DEN

FUSSBALL!

Zwischen Tradition,
Kommerz und
Randale

VERLAG DIE WERKSTATT

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Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0147-8

EINLEITUNG

Als ich sieben Jahre alt war, nahm mich mein Vater zum ersten Mal zu einem Fußballspiel mit. Ich lebte damals in Düsseldorf. Also war die dortige Fortuna unser Verein.

Es war ein Auswärtsspiel, und der Gegner hieß Westfalia Herne. Gespielt wurde im Stadion Schloss Strünkede vor ausverkauftem Haus. Zwar verlor die Fortuna, aber es war für mich ein Erlebnis mit Initialzündung. Ich hatte vor dem Spiel einen rot-weißen Fortuna-Schal geschenkt bekommen und war stolz, diesen erstmals zu tragen. Im Gästeblock gemeinsam mit Tausenden von Düsseldorfern die Fortuna-Spieler leidenschaftlich zu unterstützen, hingegen die Spieler und Fans des Gegners zu schmähen, war mein erstes faszinierendes Fußballerlebnis.

So wie Kultautor Nick Hornby in „Fever Pitch“ (1992) die Entstehung seiner Leidenschaft für den Fußball und im Besonderen für seinen Klub Arsenal FC beschreibt, erging es zeit- und raumversetzt auch mir mit dem damaligen Team von Fortuna Düsseldorf. Vor über 50 Jahren ist eine Fußballleidenschaft in mir entstanden, die zwar altersund erfahrungsbedingt nachgelassen hat, aber noch nicht gänzlich verschwunden ist.

Der Fußballsport spielte in meiner Familie stets eine dominante Rolle, der sich nicht alles, aber vieles unterzuordnen hatte. Als ich zehn Jahre alt war, zogen meine Eltern mit mir von Düsseldorf nach Kopenhagen. Für uns Migranten aus „Tyskland“, die noch in den 1960er Jahren wegen des Einmarsches deutscher Truppen 1940 in Dänemark nicht willkommen waren, war es besonders wichtig, sich schnell zu integrieren.

Also begab sich mein Vater umgehend auf die Suche nach einem populären Fußballklub in Kopenhagen. Er war davon überzeugt, dass wir uns auf diese Weise schneller mit der Stadt und ihren sympathischen Einwohnern identifizieren könnten. Auch ließ sich so eine neue, komplizierte, aber auch lustige Sprache (Käse heißt „Ost“, alter Käse „Gammel Ost“ und Bier „Öl“) schneller erlernen. Seine Wahl fiel auf KB København. Eine kluge Entscheidung, denn KB wurde in der laufenden Saison dänischer Meister.

Ich selbst war auch aktiver Fußballer. Als Jugendlicher spielte ich in diversen Auswahlmannschaften, danach im gehobenen Amateurbereich. In meinen Studienorten Freiburg und Göttingen habe ich versucht, mich bei den dortigen Profiklubs im Probetraining für einen Profivertrag zu empfehlen. Ich bin jedoch jeweils als zu verspielt ausgemustert worden.

Bereits mit 14 Jahren wollte ich der klassische „Zehner“ sein. Vor allem deswegen, weil damals mit Wolfgang Overath ausgerechnet ein Kölner Spieler für mich, den gebürtigen Düsseldorfer, zum fußballerischen Vorbild avancierte. Seine aus dem Stand geschlagenen Diagonalpässe habe ich stundenlang trainiert – allerdings mit dem rechten Fuß. Ihn später als Präsidentenkollegen anlässlich eines Punktspiels „seines“ FC gegen „meinen“ VfL (der VfL hat 2:1 gewonnen) kennengelernt zu haben, war ein besonderer Moment in meiner präsidialen Amtszeit beim VfL Osnabrück.

Auch weil der Fußballsport, wie kaum etwas Vergleichbares, so viele Facetten beinhaltet, ist es schwierig, sich seiner Faszination zu entziehen. Fußball war und ist (noch) trotz ausufernder Kommerzialisierung, trotz Wettskandal und auch trotz des Anstiegs der Gewalt innerhalb und mehr noch außerhalb der Stadien nach wie vor ein nicht zu vergleichendes soziales Phänomen, das Stadien füllt und die Menschen elektrisiert.

Warum ist das so? Welche Erklärungen gibt es dafür, dass sich Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter und sozialem Status, ihrem Verein bedingungslos hingeben? Warum lassen sich Fans von Schalke 04 in der sich im Stadion befindlichen Annakapelle trauen oder ihre Kinder taufen? Sollte man verstehen müssen, warum sich Fans des Hamburger SV auf einem klubeigenen Friedhof beerdigen lassen wollen, um über ihren Tod hinaus dem HSV die Treue zu halten?

In Osnabrück geht die Liebe der Fans zu ihrem VfL so weit, dass Paare ihre Kinder im Kreißsaal der Städtischen Kliniken zur Welt bringen wollen, da dieser in den Vereinsfarben des VfL lila-weiß gestrichen ist und das Neugeborene eine lebenslange Vereinsmitgliedschaft erhält. Warum entscheiden sich Mütter und Väter zu einem solchen Schritt? Wir werden keine Antworten finden. Und das ist gut so.

Ich bin 1997 als sogenannter Traditionalist Präsident des VfL Osnabrück geworden und bin es in modifizierter Form als heutiger Ehrenpräsident immer noch.

Zum Zeitpunkt meiner Wahl zum Präsidenten des VfL Osnabrück war ich Mitgeschäftsführer des Rasch-und-Röhring-Verlages in Hamburg. Einer unserer Autoren war Ralph Giordano. Dieser zeigte sich überrascht von meinem neuen präsidialen Ehrenamt. Er stellte mir als bekennender Fußballlaie die Frage, ob sich denn die politische und literarische Welt des Bücherverlegens mit der lauten und aggressiven Atmosphäre im Profifußball vereinbaren lässt.

Er war nicht der Einzige, der mir im Lauf der Jahre diese Frage stellte. Aber er war der Erste. Ich konnte diese Frage damals nicht beantworten. Heute weiß ich, dass sich die beiden Parallelwelten nicht nur miteinander vereinbaren lassen, sondern sie ergänzen sich auf wundersame Weise. Bücher stehen für Sinnlichkeit und Erkenntnis und werden zumeist individuell konsumiert. Der Profifußball als Kultur- und Sozialphänomen hingegen ermöglicht jedem, unabhängig von Bildung, Alter und sozialem Status, seine Emotionen gemeinsam, wenn es sein muss, auch mal moderat-aggressiv, mit anderen auszuleben.

Zu einer solchen Erkenntnis ist auch einer der renommiertesten Geisteswissenschaftler dieses Landes gelangt. Walter Jens, der 2013 verstorbene Professor für Rhetorik und Literaturwissenschaft, Autor zahlreicher Bücher und langjähriger Freund von Ralph Giordano, war nicht nur Geisteswissenschaftler und Gesellschaftskritiker, sondern auch leidenschaftlicher Fußballfan. Als solcher war er sich nicht zu schade, seinen Tempel der Wissenschaft in Tübingen bisweilen zu verlassen und sich seinem geliebten Fußballsport zu widmen. Die Liebe ging so weit, dass der in Hamburg-Eimsbüttel aufgewachsene Jens den für einen Literaturprofessor sehr ungewöhnlichen Satz formuliert hat: „Wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können – Dehrle Ahlers, Otto Rohwedder, Herbert Panse, Kalli Mohr und Hanno Maack.“

Ich bin sicher, hätten sich zu Lebzeiten der Intellektuelle Walter Jens und z. B. das ehemalige Dortmunder Fußballidol Lothar Emmerich, der so Kultiges wie: „Gib mich die Kirsche“ formulieren konnte, kennengelernt, sie hätten sich einiges zu erzählen gehabt.

Auch deswegen ist der Fußballsport ein Sozial- und Kulturphänomen von schwer vergleichbarer Faszination. Das Fußballstadion, da lege ich mich fest, ist der einzige Ort, an dem sich Hochschulprofessoren, Beamte, Rechtsanwälte, Unternehmer, Arbeiter und Lothar Emmerich auf Augenhöhe begegnen.

Aber die seit meinem achten Lebensjahr „schönste Nebensache der Welt“ hat Dellen bekommen. Wie diese aussehen, woher sie stammen und ob es möglich ist, sie zu beheben und zukünftig zu vermeiden, soll das wesentliche Thema des vorliegenden Buches sein. Es ist ein Plädoyer für die Erhaltung der Bodenständigkeit des Profifußballs mit all seinen emotionalen Facetten. Es ist aber auch ein Appell an die Kritiker des kommerzialisierten Fußballs, die wirtschaftlichen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, sie bis zu einer Obergrenze zu tolerieren und sich der ökonomischen Vernunft nicht zu verschließen.

Weder den „Marktradikalen“ noch den „Hardcoretraditionalisten“ allein darf es überlassen bleiben, wie der Profifußball in Zukunft zu strukturieren und zu organisieren ist.

Man muss nicht mit prophetischen Gaben ausgestattet sein, um zu erkennen, dass der Profifußball mittel- bis langfristig an Attraktivität verlieren wird, wenn er sich nicht vermehrt auch an den Wünschen der Fans orientiert.

Denn Ablösesummen für Spieler jenseits der 50 Mio. € und Jahresgehälter für Spieler und Trainer von über zehn Mio. €, oder auch die Vergabe der übernächsten Weltmeisterschaft ins „fußballverrückte“ Katar durch die Altherrenriege der FIFA sind Belege dafür, wie sehr man in den Führungsetagen des Profifußballs abgehoben ist und wie sehr man sich von den Fans und deren Identifikationssehnsüchten entfernt hat.

Die überzogene Kommerzialisierung des Profifußballs und auch das Gewalt und Angst verbreitende Auftreten einiger Fangruppierungen, berauscht von ihrem Anspruch „der Fußball gehört uns“, werden dem Fußball viel von seiner Faszination nehmen. Das darf nicht kritiklos hingenommen werden. Hierüber vor allem will ich schreiben.

Ich habe in den 15 Jahren meiner Amtszeit nicht verstanden und auch nicht verstehen wollen, warum viele den Profifußball so ernst, verbissen und aggressiv begleiten. Umso wichtiger erschien es mir, sich im Haifischbecken Profifußball eine gewisse Lockerheit zu erhalten. Dies fiel mir nicht allzu schwer, weil mich in den 15 Jahren auch richtig gute Typen begleitet haben. Darunter witzige, komische und tragikomische. An sie erinnere ich mich gern. Die erlebten Geschichten mit ihnen müssen auch erzählt werden.