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ISBN 978-3-218-01013-9

Die Arbeit an diesen Erzählungen wurde gefördert durch die Stadt Wien.

Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
Lektorat: Tanja Raich
Satz und typografische Gestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Und hundertmal herzliche Grüße

Napoleon, mon amour

Kleine Lastentiere

Wolf im Streiflicht

Einhundertsechzehn Abbildungen meiner selbst, interstellar

Wohin mit der Spucke?

Burnout für Quereinsteiger

Das Verweilen unter der schwebenden Last ist verboten

Übergangsinseln

Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick
Der dich in Frage stellt Es gibt keinen anderen mehr
Endlich die Wahrheit Dass du nur ein Zitat bist
Aus einem Buch das du nicht geschrieben hast
Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein
Ausbleichendes Farbband Der Text schlägt durch

Heiner Müller

Und hundertmal herzliche Grüße

Ich stelle mich kurz vor: Mein Name ist Klem. Ich habe zwei Arme und zwei Beine, dazwischen einen Rumpf. Das ist hier so üblich. Meine Finger sind außergewöhnlich lang, weswegen mir nach der Schule nahegelegt wurde, Räuber oder Räuberin zu werden. Da aber mein Gesicht dem eines berühmten Fernsehstars sehr ähnlich sieht, wäre es zu einfach gewesen, mich zu identifizieren.

Als ich ganz jung war, glaubte ich, die Welt stünde mir weit offen. Ich dachte, dass ich alles werden könnte. Servicepersonal zum Beispiel. Oder Schmied. Auch Bürofachkraft. Erst bei der Arbeitsvermittlung hat man mir die Augen dafür geöffnet, dass ich zu sehr nach Austauschbarkeit aussehe und keine besonderen Merkmale aufweise.

Man sagte mir, dass meine einzige bemerkenswerte Fähigkeit eine geradezu beispiellose Langsamkeit ist, die man schwerlich als Schlüsselqualifikation ausgeben kann.

Kurz darauf habe ich auf eine Annonce für das Zusammenschrauben von Kugelschreibern reagiert. Seither stehen ungefähr achthundert Kisten mit Kugelschreiberteilen in meiner Wohnung. Sie türmen sich überall und nehmen viel Platz weg. Da sie aber nur sehr, sehr langsam weniger werden, habe ich mich mit ihnen angefreundet.

In den einen Kisten sind die – ich nenne sie – Unterkörper. In anderen die Rümpfe und in einer dritten Sorte von Kisten das Fleisch – also der Stift selbst. Oft stelle ich mir vor, dass ich all diese kleinen Kugelschreiber durch mein Zusammendrehen des Unter- und Oberkörpers und den Einbau des Innenlebens aus ihrem Plastikkoma erwecke. Sie tanzen und hüpfen dann mit einem Bein auf meinem Couchtisch oder liegen bei mir und wir genießen gemeinsam das Nachmittagsprogramm, das ich früher mit Puss angeschaut habe.

Wegen Puss schreibe ich auch diese Nachricht. Aber bevor ich näher auf die Bitte, die ich habe, eingehe, möchte ich, um Missverständnisse auszuschließen, einiges des bisher Geschriebenen erklären.

Kisten sind Aufbewahrungsgegenstände, meist aus Karton, den man in Fabriken aus Bäumen macht. Fabriken sind vielleicht bekannt, da sie sehr viel Fläche einnehmen, weil ganz viele Dinge in ihnen entstehen. Fernseher, Bücher oder Couchtische beispielsweise, und auch Kugelschreiber werden in ihnen hergestellt. Einen Kugelschreiber kann man sicher nicht von oben erkennen, denn er ist ein zirka zwölf Zentimeter langes Röhrending, aus dem dünne blaue Striche fließen, mit denen man Zeichen und Spuren hinterlassen kann. Normale Modelle werden mit Hilfe eines Roboters in den eben erwähnten Fabriken zusammengeschraubt. Nur Sondermodelle sind Handarbeit, meine Arbeit also. Man kann Kugelschreiber verwenden, um Einkaufslisten zu machen oder man hat sogar das Glück, jemanden zu kennen, an den man damit Briefe schreiben kann. Meine Briefe gingen, bis zu diesem hier, immer an Puss, aber da ich nur mich als Absender und nicht die richtige Adresse kenne, kommen die Briefe immer wieder ungeöffnet zu mir zurück. Mit einem Kugelschreiber kann man sich auch kratzen. Ich kratze mich zum Beispiel gern damit hinter dem Ohr und stelle mir vor, ich sei Tumtum, meine Katze. Doch mehr dazu später.

Ich sagte ja schon, Briefe schreiben ist Glück. Glück ist, wenn alles für einen kurzen oder längeren Moment gut und richtig ist. Auch dieser Brief ist für mich gut und richtig, ich tanze mit meinen Fingerspitzen über die geschriebenen Zeilen, das Papier ist durch das feste Aufdrücken des Stiftes ein Landschaftsrelief geworden. Die Wörter sind Täler und Flüsse, die durch das Weiß mäandern. Die Leerstellen dazwischen sind die Berge, die ich besonders liebe. Ich stelle mir immer vor, auf diese Berge zu klettern und von oben auf die blauen Ströme der Worte hinunterzuschauen. Ich schreibe sehr oft Wörter auf, die mir gefallen. Hoffnung oder Wunder zum Beispiel. Oder Telefonkabel. Ein Telefonkabel hätte ich gerne, weil daran eine Apparatur hängt, die sich Telefon nennt. Mit einem Telefon könnte man Kontakt aufnehmen. Auch in die Ferne.

Weil ich jedoch kein Telefon habe und auch sonst niemanden, seit Puss weg ist, spreche ich manchmal mit mir selbst und um mich zu vergewissern, dass noch alles da ist, erzähle ich mir die Umgebungen. Dann flüstere ich mir gut zu und sage, siehst du, da drüben, hinter dem Baum dort im Park, da könnte ein Eichhörnchen sein oder ein Spatz. Ist da nichts, siehst du wenigstens eine Ameise oder einen anderen Käfer. Ist da aber auch tagelang nicht einmal ein Käfer, was mittlerweile immer häufiger vorkommt, dann gehe ich in den Tiergarten, wo es eine Blattschneideameisenkolonie gibt, mit der ich gut bekannt bin.

Die Ameisen klettern durch lange, durchsichtige Röhren, die Kugelschreibern nicht unähnlich, jedoch viel länger und in den Wänden und im Boden verankert sind. Stundenlang kann ich dastehen und die Ameisen dabei begleiten, wie sie riesige Blattstücke in den Bauch ihres Baus tragen, wo ein Pilz wohnt, den sie mit einem Blätterbrei füttern. Die Ameisen ähneln sich zwar alle grundsätzlich, doch haben sie ganz unterschiedliche körperliche Ausprägungen und Lebensinhalte. Ihre Physiognomie bestimmt von Anfang an, wer sie sind. Sie werden so oder so geboren, entweder mit einem großen Mund, dann müssen sie schneiden oder mit langen Beinen, dann müssen sie tragen. Oder sie sind klein und runzelig, dann leben sie für das Füttern des Pilzes.

Jede Ameise kommt aus ihrem klitzekleinen Ei heraus und sofort wissen alle Bescheid. Da, das ist eine Außenmitarbeiterin. Das ist ein Nahversorger. Das ist eine Packameise und so weiter.

Bei mir war das ganz anders. Ich bin durchschnittlich auf die Welt gekommen, gewachsen, habe erste Laute von mir gegeben und seither warte ich darauf, zu erfahren, was aus mir werden soll.

Vielleicht sieht man auch von oben genauer, was ich bin. Was ich von mir weiß, ist, dass ich es mag, wenn einzelne Schuhe auf der Straße stehen. Es ist für mich unerklärlich, warum es solche Schuhe gibt. Auf meinen Spaziergängen durch die Innenstadt suche ich immer die Stöckelschuhfüße ab, ob irgendwo nur ein Schuh am Fuß steckt. Ich habe aber, außer als damals Puss, um mir einen Gefallen zu tun, nur einen Schuh anzog, noch nie Einschuhige gesehen. Das gruselt mich schön, darüber nachzudenken, was aus den zweiten Schuhen geworden ist.

Außerdem mag ich die geschwungene Form von Fragezeichen, weil ich das Gefühl habe, ich kann mich zur Not immer in den Bogen des Zeichens kauern und mich in Sicherheit wissen. Ich schätze auch Eisblumen sehr, die sich im Winter an den Fensterscheiben bilden, aber aus irgendeinem Grund immer seltener werden. Und ich liebe frische Marillen. Das sind gelbe Früchte, die einen Pelz tragen und nach Tauwiese schmecken.

Hier muss ich wohl wieder etwas präziser werden, weil man von oben eine Wiese sicher sehen kann, Tau aber nicht, und auf den kommt es an. Tau, das sind unzählige, kleinste Tröpfchen auf Grashalmen, die alles in ein Glitzern tauchen. Schaut man auf diese Wiese, in der Früh, wenn die Sonne noch nicht scheint, dann kommt eine Kühle durch die Augen in den Körper, die mir meinen Herzschlag, der immer zu schnell ist, etwas abbremsen kann. Ein Herz schlägt für gewöhnlich um die sechzig Mal in der Minute, meines arbeitet jedoch die meiste Zeit schneller als es allgemein für normal oder gesund befunden wird, nämlich hundertmal. Früher war mein Herz ruhiger, aber jetzt schlägt es übereifrig und nur noch für eines: für Puss. Puss liebe ich. Doch die Liebe ist einseitig geworden, seit dem Umzug, der unumgänglich war, weil es hier nicht mehr für alle eine Zukunft geben kann. Weit entfernt, an einem ganz anderen Ende, muss Puss jetzt sein. Aber welches Ende es ist und wo, das weiß ich nicht. Vielleicht ist das schwer nachvollziehbar, von ganz oben kann man womöglich, wie im Atlas mit dem Finger, in Sekunden von einem Ende ans andere springen. Aber wenn man hier unten ist, auf dem Boden, dann sind zwischen den Enden weite Distanzen, dann stehen lauter zu hohe Häuser dazwischen. Es gibt außerdem unüberwindliche Gebirge und Gewässer, die mich von der Ferne trennen. Und Brücken und Tunnel sind, wenn überhaupt vorhanden, dünn gesät. Da müsste ich noch weiter laufen, damit ich ein solches Hindernis überwinden kann. Ich weiß ja nicht, wie es oben ist, aber hier unten kann niemand fliegen. Zumindest nicht ohne technische Hilfsmittel. Mit einem Flugzeug beispielsweise. Flugzeuge kennt man wahrscheinlich sogar da oben, weil sie in die Luft steigen und oberhalb der Wolken unterwegs sind.

Auch mit einem Auto oder einem Zug würde man schneller vorankommen. Aber ich kann auf diese Möglichkeiten nicht bauen, weil eine Reise damit sehr teuer ist und das Kugelschreiber-Zusammenschrauben nicht sehr viel Geld einbringt. Und ohne viel Geld geht hier unten gar nichts.

Einmal habe ich, um zu Puss zu gelangen, versucht, mit irgendjemandem mitzufahren, also ein Auto zu stoppen. Ein großes schwarzes Fahrzeug, das von einer älteren Dame gelenkt wurde, ist stehengeblieben. Am Beifahrersitz saß ein winziger Hund. Sowohl die Dame als auch der Hund drehten sich erwartungsvoll zu mir um, während ich auf dem Rücksitz überlegte, wo ich hinfahren sollte. Da ich aber kein Ziel nennen konnte und bloß dumm vor mich her stotterte, wurde die Dame unruhig und brachte mich, offensichtlich aufgrund einer Verwechslung, zum nächstgelegenen Fernsehstudio, wo sie mich aufforderte, wieder auszusteigen.

Seither weiß ich, dass mir womöglich nichts anderes übrig bleiben wird, als zu Fuß zu Puss zu gehen. Darum habe ich auch damit begonnen, Tumtum, meine Katze, zu trainieren. Ich habe mit ihr tägliches Krafttraining gemacht. Ich dachte, wenn ich ein Lastentier hätte, das mein Gepäck trägt, könnte ich vielleicht schneller und weiter gehen. Tumtum ist aber faul. Immer wenn sie auf meinem Schoß saß und schnurrte, kitzelte ich sie mit einem Kugelschreiber hinter dem Ohr, um sie zum Krafttraining zu motivieren, sie wollte aber partout keine Gewichte heben. Für Tumtum ganz unüblich, begann das Tier zu kratzen und zu fauchen und ich musste also das Klebeband vom Fell ziehen und die Milchpackung, die ich ihr auf den Rücken kleben wollte, um Beine und Rückgrat zu stärken, wieder in den Kühlschrank zurückstellen.

Mittlerweile denke ich, dass ich ja auch mit leichtem Gepäck reisen könnte. Eine Unterhose, eine Zahnbürste und Pflaster – gegen die Blasen, die man vom Gehen an den Füßen bekommen kann. Ich übe jetzt nur mit diesen Dingen auszukommen, aber es ist schwierig.

In letzter Zeit habe ich mir manchmal überlegt, doch Räuber oder Räuberin zu werden und einfach einen Strumpf oder eine Maske über den Kopf zu ziehen, damit mich niemand erkennen kann. Das machen andere auch so, ich habe das im Fernsehen schon oft gesehen. Leider habe ich in engen Räumen starke Atemnot und darum ist es für mich sehr unangenehm, fast unmöglich, mir etwas über den Kopf zu stülpen. Aber auch das übe ich. Am Balkon setze ich mir einen Strumpf auf den Kopf und halte eine Unterhose, eine Zahnbürste und ein Pflaster in der Hand, um mich an das Gewicht zu gewöhnen. Ich schaffe jetzt schon achtundzwanzig Sekunden. Wenn ich Räuber oder Räuberin wäre, könnte ich außer viel Geld auch gleich ein Auto, einen Zug oder ein Flugzeug stehlen, um zu Puss zu gelangen. Dafür müsste ich aber vorher einen Führerschein machen, was auch wieder viel Geld kostet.

Jetzt merke ich aber gerade, dass ich bisher nur von mir erzählt habe, wo ich doch eigentlich in dem Brief anbieten wollte, von den ganz kleinen Dingen zu berichten, die man von da oben, von ganz oben, sicher nicht sehen kann. So Dinge wie die Form des Abdrucks, den eine Wäscheklammer in der getrockneten Kleidung hinterlässt. Oder dass Frühstückscerealien zusammenhängende Klumpen sind, die erst in der Milch zerfallen. Oder dass an einem Schraubverschluss immer ein Frischesiegel ist, das auf der Flasche bleibt. Ich wollte auch von den Brotkrümeln im Bett schreiben, die nachts auf der Haut kitzeln. Und vor allem davon, was die Menschen auf die Straße werfen und liegen lassen. Verpackungen, Taschentücher. Kondome. Manchmal Bonbons oder ein Eis, das aus einer Hand gefallen ist. Oder Brotscheiben. Ich finde diese Dinge, die auf der Straße liegen, so wunderbar, weil sie alle aus einer Geschichte kommen, aus einem Leben. Irgendjemand muss das doch dorthin gegeben haben, auch wenn ich jetzt niemanden mehr darin erkennen kann. Wenn die Sonne besonders hell scheint, lege ich manchmal vor meinem Wohnhaus unauffällig einen Kugelschreiber auf den Asphalt. Auch der erzählt dann eine Geschichte, während er im Licht glänzt. Erzählt von mir. Ein mittelblauer Kugelschreiber mit schräger Schraubung. Die werden gerne aufgehoben. Ich sehe das aus meinem Fenster und freue mich dann. Auch Puss hat so einen Kugelschreiber einmal aufgehoben und hat dann zu meinem Fenster hochgesehen und mir zugewunken. Seit Puss nicht mehr da ist, lege ich die blauen Stifte am allerliebsten zwischen vom Baum gefallene Magnolienblüten, die die Bordsteinkanten rosarot kleiden.

Aber ich wollte auch die kleine Schraube in meiner Türklinke beschreiben, die mich immer, wenn ich die Klinke berühre, daran erinnert, dass alles einen Zusammenhalt braucht. Oder wie sich ein gefaltetes Blatt Papier durch den Knick komplett verändert. Oder die Kugelspitze des Schreibers, deren Bewegung man nicht mit freiem Auge sehen kann, die aber trotzdem stattfindet, denn anders würden es keine Wörter auf das Papier schaffen. Und dann wollte ich unbedingt Sätze dafür finden, wie es ist, ein einzelnes Katzenhaar auf der Jacke zu finden, das aussieht, als wäre es auf der Flucht.

Ich wollte aber auch von den vielen Gesprächen erzählen, die man da ganz oben sicher nicht hören kann. Von den Streitereien und Grausamkeiten. Von den bösen Worten gegen Menschen, die gerade nicht da sind. Oder von den Vorurteilen, die wahrscheinlich irgendwo ins Trinkwasser geleitet werden – wie sonst könnten alle von den gleichen Frechheiten ausgehen. Oder von den Sätzen nachts auf der Straße, die man nicht hören will. Ich wollte aber auch die schönen Stimmen beschreiben, Beteuerungen, die Trost sind. Von freundlichen Sätzen wie „Nimm du es, ich brauche es nicht so dringend“ oder „Ich mag die Art, wie du lächelst“. Aber auch von der Stummheit mancher, von ihren Augen, aus denen eine Stille und Traurigkeit quillt. Aber wie soll ich das beschreiben, wenn man das von oben noch niemals gesehen hat. Wie ein Mensch schweigt, der vor einem Regal steht und vergessen hat, was er eigentlich sonst vom Leben wollte, außer Toastbrot. Oder jemanden, der auf offener Straße innehält, um sich seine abgenützten, trockenen Handinnenflächen anzuschauen. Ich lege ab und zu einen mittelblauen Kugelschreiber in eine solche Hand. Die Leute wundern sich gar nicht, denn seit Puss weg ist, bin ich wohl auch ein wenig abgenutzt, vielleicht sogar etwas wunderlich geworden.

Als Puss noch da war, war alles anders. Ich spürte Glück und auch Hoffnung in mir. Puss war immer voller Farbe und hatte nur gute Sätze, schöne Augen und ein einmaliges Lächeln. Eigentlich wollte ich auch die lustigen Geschichten erzählen, die Puss immer so fröhlich gestimmt haben, aber sie wollen mir einfach nicht mehr einfallen. Seit dem Umzug höre und sehe ich nichts mehr von Puss und auch die Erinnerung wird grau. Aber ich habe versprochen, dass ich nachkommen werde – ans andere Ende.

Das ist nun schließlich auch der Grund, weshalb ich diesen Brief schreibe, denn ich habe mir gedacht, dass man vielleicht von oben besser sehen kann, wo Puss jetzt ist.

Wie Puss aussieht, kann ich leider schwer beschreiben. Aber Puss ist nicht sehr groß und hüpft viel auf einem Bein. Mit nur einem Schuh und hinter dem linken Ohr klemmt bestimmt ein mittelblauer Kugelschreiber. Vielleicht kann man von ganz oben sogar nach Puss rufen und Bescheid geben, dass ich unterwegs bin.

Jetzt, wo ich es geschafft habe, meine Bitte auszusprechen, kann ich es kaum noch erwarten, den Brief in das Marmeladenglas zu schrauben, das ich für die Sendung ausgesucht habe. Das Ganze ist dann wie eine Flaschenpost für die Luft, also eigentlich Luftflaschenpost. Eine gewöhnliche Flaschenpost ist ursprünglich ganz anders, die wirft man ins Wasser, wenn man die Hoffnung hat, dass jemand am anderen Ende des Wassers die Flasche findet und die Nachricht liest. Das ist natürlich eine Glückssache, oft passiert so etwas wohl nicht oder es wird nur ganz selten im Nachmittagsprogramm davon berichtet. Bei Luftpost ist es schon etwas anderes, denn ich habe gehört, dass schon viele Menschen welche verschickt oder erhalten haben. Das macht mir Mut.

Damit das Glas auf jeden Fall oben ankommt, habe ich die teuerste und beste Silvesterrakete gekauft, Terranova heißt sie. Laut Beschreibung soll sie ganz besonders hoch fliegen. Das Feuerwerk, das aus der Rakete platzen wird, reicht hoffentlich aus, um auf meine Nachricht aufmerksam zu machen. Beiliegend findet ihr außerdem ein Haar von Tumtum und einen mittelblauen Kugelschreiber. Eigentlich wollte ich auch eine Ameise mitschicken, aber ich weiß nicht, wie gut sie den Höhenunterschied vertragen würde.

Bitte antwortet mir so schnell wie möglich, ich warte bereits jetzt voller Ungeduld und mein Herz schlägt noch viel schneller als sonst. Falls ihr euch da oben fragt, wer ich bin, dann werft einen Blick in die Innenstadt. Dort hängt ein überdimensionales Plakat, das man sicher auch von ganz weit oben noch gut erkennen kann. Es bin zwar nicht ich selber darauf abgebildet, sondern die anfangs erwähnte Berühmtheit. Trotzdem bin das ich. Zumindest mehr als jemand anderer. Zumindest irgendwie.

Napoleon, mon amour

In der Pause der Samstagsmatinee stürmen die Zuhörer, einer Massenpanik gleich, aus dem Konzertsaal und hin zum Buffet. Es ist noch früh am Tag und doch gieren sie bereits nach den Weingläsern, Weißwein vor allem, weil der rote ihnen am Vormittag zu schwer ist, zumindest behaupten sie das voreinander, um nicht als Trinker dazustehen.

Während sie darauf warten, dass die Buffetdame sie nach ihren Wünschen fragt, sind ihre Münder, die durch die überteuerten Brötchen kurz von jeder Redeschuld befreit sein werden, bereits halb geöffnet. Wenig später rutschen sie kauend in den guten Schuhen hin und her, flanieren auf dem Parkett und halten die Stiele ihrer Gläser fest umklammert, als würde das Gefäß sie führen und erst ihre aufrechte Haltung ermöglichen. So bleibt es, bis das Klingeln den Frieden der Pause zerreißt. Beim ersten Signal widersteht das Publikum noch und will sich nicht von einer Klingel dazu zwingen lassen, in den Konzertsaal zurückzugehen, wo die Luft schlecht und die Beinfreiheit eingeschränkt ist. Doch schon beim zweiten Klingeln überkommt alle eine Unruhe, denn was wäre, wenn die richtige Tür nicht mehr auffindbar wäre oder schlimmer noch, ein anderer den eigenen Platz eingenommen hat und den roten Polstersessel mit seinem fremden Hintern flach drückt?

Am Ende bleibe nur ich übrig. Ich widersetze mich dem Klingeln nicht, denn es meint gar nicht mich, weswegen ich auch kein halbleeres Glas mit zu viel Wucht auf einen der Stehtische stelle, und schon gar nicht suche ich, verzweifelt rufend, meine verloren gegangene Begleitung auf der Toilette. Ich bleibe stehen. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, überblicke ich das Gläsermeer vor mir, innen leer, doch außen voller Fingerabdrücke, verbrauchtes Geschirr, das bis zur nächsten Pause nicht mehr benötigt wird, wo ich wieder hier stehen werde, mit den Händen hinter dem Rücken, während der Zeiger auf meiner Armbanduhr, die du immer so abscheulich gefunden hast, die Zeit schneller vergehen lässt als meine nur mit dem Mindesten entlohnte Wahrnehmung.

Kein Glas, kein Feuer, kein Augenkontakt. Unauffällig, freundlich. Stolz auf die Uniform, die mich zu einem Bestandteil des Hauses macht. So soll ich mich fühlen, und ich bleibe noch für einen Moment im Pausenfoyer stehen und überlege, ob mich hier überhaupt irgendjemand als mich selbst wahrnimmt. Mich, die nicht mehr ganz junge, aber doch vom Leben noch etwas erwartende Exfrau, von deren Schicksal niemand erfährt, weil es nicht in die für alle gleiche Uniform eingeschrieben ist. 100% Polyester steht stattdessen darin und dass man sie nicht waschen darf.

Meine Augen sind geschlossen wie vor einem Kuss. Im Pausenfoyer ist es still, und ich kann in Ruhe zuhören, wie jedes Glas von den Serviererinnen in die Hand genommen und auf ein Tablett gestellt wird. Ich vernehme einzelne Töne klassischer Musik und versuche ganz genau hinzuhören, ob das Konzert schon weitergegangen ist. Die Musik entpuppt sich als Handyklingeln im Gilet einer Servicekraft. Da schrillt jedoch erneut das Klingelsignal, das sonst nur den Beginn oder die Fortsetzung des Konzerts ankündigen darf, und weil dies so ungewöhnlich ist, beunruhigt es mich. Klingt so der Katastrophenalarm? Ist das jetzt der Notfall, für den ich bezahlt werde? Ich drehe mich einmal um mich selbst, wie ein Hund, der seinen Schwanz fängt. Ich lausche, aber es folgen weder Pfeifton noch Sirenen. Nur Helmut, ein Arbeitskollege, der in seinen Pausen immer zu mir kommt, taucht auf.

Wenn jetzt bloß eine Flut käme. Bis in den ersten Stock müssten die Sturzwellen reichen. Das Wasser müsste sich seinen Weg über alle Absperrungen und Hindernisse hinweg bahnen, Fensterscheiben einschlagen und in die Körper derer vordringen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätten. Wasserunmengen müssten es sein. Sie würden durch die Türen gedrückt. Auch die stärksten Wände könnten sich nur kurz zur Wehr setzen, bevor unzählige Schwachstellen auftauchen würden.

Die Flut reißt die Stadt in eine unvorstellbare Tiefe und Dunkelheit, in der Gebäude in Stücke gerissen werden und die vollbesetzten Touristenbusse wie Quallen durchs Wasser treiben. Und endlich wird auch das Konzerthaus kippen. Wie die untergehende Titanic wird sich das Gebäude an einer Seite aufstellen, in der Mitte zerbrechen und sinken, während das Orchester bis zur letzten Note weiterspielt und ich nicht fliehen kann, weil ich längst in meiner Uniform am Fischgrätparkett angewachsen bin. Für mich wird es keinen Rettungsring geben. Aber das macht nichts. Zuerst werde ich mich zwar noch fürchten, wenn das Wasser über meine Knie steigt und die Flut um mich spült, sobald ich dann aber erst einmal ganz unter Wasser bin, wird es mir nichts mehr ausmachen. Dann werde ich den Besuchern von den billigen Plätzen, den Instrumenten und Wurstbrötchen in gewohnter Weise dabei zuschauen, wie sie an mir vorbeitreiben.

Hinter meinem Rücken zerbricht ein Glas, es ist beim Buffet von der Theke gefallen. Es geht mich nichts an und ich drehe mich nicht danach um. Stattdessen gehe ich langsam und mich am Geländer festhaltend die Treppe hinunter. Meine Hand wird beim Abstieg vom Samtüberzug des Geländers gestreichelt, und ich halte inne, um den Stoff anzugreifen, der sich nur im ersten Moment weich und zart, im zweiten aber rau und durchgewetzt anfühlt. Ruckartig und nur durch die Nase atme ich aus, so wie ich es immer tue, wenn ich innerlich auflache. Ich lache, weil dieser Stoff ein perfektes Sinnbild für unsere Liebe ist. Bei dem Gedanken daran wird mir jedoch brennend heiß, anders als bei einer Hitzewallung, es ist eher wie eine Stichflamme in meiner Brust, und ich muss mich auf die Stufen setzen, um nicht hinunterzufallen. Einatmen, tief, und die Sorgen ausatmen. Die Flammen züngeln durch den vielen Sauerstoff höher, gelbe Spitzen, die in mich hineinstechen. Verzweifelt halte ich die Luft an und kämpfe mich weiter die Stufen hinunter, denn im Parterre gibt es eine Löschdecke, in die ich mich einwickeln kann.