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Cornelie Kister

 

Straße der Dankbarkeit

Die Geschichte der Mrs. Robert Louis Stevenson

 

Ein biografischer Roman

Originalausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München.

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: foto-kathrein, Wiesbaden

ISBN: 978-3-942822-43-5

 

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Straße der Dankbarkeit

Künstlerin, geschieden, Mutter von drei Kindern und zehn Jahre älter als ihr zweiter Mann – Fanny Vandegrift Osbourne Stevenson wäre an heutigen Standards gemessen wohl eine emanzipierte Frau, jedoch keine Ausnahmeerscheinung; Ende des 19. Jahrhunderts aber bricht die Amerikanerin mit ihrem eigenwilligen Lebensstil sämtliche gesellschaftlichen Konventionen. So auch, als sie 1880 den noch unbekannten schottischen Autor Robert Louis Stevenson heiratet. Für Louis ist Fanny mehr als nur Ehefrau und Geliebte, sie ist seine engste Vertraute, seine schärfste Kritikerin und seine wichtigste Beraterin in allen Belangen, vor allem im Hinblick auf sein schriftstellerisches Werk. Die Schatzinsel oder Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde wären ohne Fannys Wirken und Fürsorge nicht denkbar – mehr als einmal rettet sie ihrem todkranken Mann das Leben.

Für Egon

Vorwort

Es heißt, hinter jedem erfolgreichen Mann stecke eine starke Frau – auch der weltberühmte Schriftsteller Robert Louis Stevenson macht da keine Ausnahme. Er selbst war es, der sich bereits zu Lebzeiten vor aller Welt zu den Verdiensten seiner Frau Fanny bekannte: »Nimm all mein Werk, es ist dein«, lautet die Widmung seines letzten, unvollendeten Buches »The Weir of Hermiston«. Es sind die Zeitgenossen, die Fanny unterstellen, sie wirke ungünstig auf ihren Mann und behindere ihn mit ihrer besitzergreifenden, engstirnigen Art in seiner künstlerischen Entwicklung. Diese abschätzigen Stimmen prägen für lange Zeit das Bild von Mrs. Robert Louis Stevenson.

 

Der biografische Roman »Straße der Dankbarkeit« möchte ein anderes, ein facettenreicheres Bild dieser schillernden Persönlichkeit zeichnen. Er erzählt die Geschichte über die Liebe eines ungleichen Paares, die immer dann von besonderer Kraft und Intensität ist, wenn das Leben große Herausforderungen stellt. Sobald die Ehe von Fanny und Louis aber in bürgerliches Fahrwasser gerät und Gleichmaß und Routine ihr Leben bestimmen, ist ihr Zusammensein von heftigen Auseinandersetzungen, Unzufriedenheit und Entzweiung geprägt. Mögen ihre gemeinsamen Jahre turbulent sein mit Phasen großer Vertrautheit und Phasen der Entfremdung – in ihrem wagemutigen und unangepassten Wesen ist Fanny wohl als einzige Frau ihrer Zeit in der Lage, mit dem exzentrischen Künstler eine erfüllte Ehe zu führen.

Fanny Stevenson wird bewundert oder verachtet, gleichgültig steht ihr niemand gegenüber, wie Louis in einem Gedicht über sie schreibt:

 

Eine stürmische Freundin, eine

Fürchterliche Feindin

Immer gehasst oder hemmungslos

Verehrt;

Gleichgültigkeit undenkbar.

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

 

Teil I: Aufbruch nach Europa

Flitterwochen in Silverado, 1880

Abschied in Oakland, 1880

An Bord der City of Chester, 1880

Ankunft in Edinburgh, 1880

Alltag in der Hariot Row, 1880

Unter Freunden in London, 1880

 

Teil II: Nomaden werden sesshaft

Aufenthalt im Hotel Belvedere, 1881

Zaubergarten des Campagne Delfi, 1882

Einsam in La Solitude, 1883

Noahs Taube in Bournemouth, 1884

Ein Zuhause – Skerryvore, 1886

 

Teil III: Kreuzfahrten in der Südsee

Frost in Hunter’s Home, 1887

Eine Luxusyacht – die Casco, 1888

Mitglieder des Hofstaats in Honolulu, 1889

Müßiggang in Waikiki Beach, 1889

An Bord des Liniendampfers Lübeck, 1889

Rückfall in Sydney, 1890

 

Teil IV: Im Südsee-Exil

Eine Hütte im Dschungel, 1890

Endlich zu Hause – Vailima, 1891

Erholung auf Fidschi, 1891

Am Abgrund, 1892

Fannys Dämonen, 1892

Zwischen den Fronten, 1893

Abschied am Mount Vaea, 1894

Unter sternklarem Himmel, 1894

 

Nachwort

Zeittafel

Hilfreiche Literatur

Über die Autorin

Lesetipp

Teil I: Aufbruch nach Europa

Flitterwochen in Silverado, 1880

Fanny fuhr erschrocken hoch. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und ihr Atem ging stoßweise. Trotzdem rührte sie sich nicht und versuchte stattdessen, die Schreckensbilder abzuschütteln, um sich ganz auf das Geräusch – vertraut und dennoch beunruhigend – zu konzentrieren, das sich in ihren alptraumhaften Nachmittagsschlummer gedrängt hatte. Mit der rechten Hand tastete sie an ihrem Rock entlang bis zum Saum, schob langsam den leise raschelnden Stoff hoch, bis sie das kühle Metall in Höhe ihres Strumpfbandes zu fassen bekam. Ihre Finger legten sich um den Knauf, bereit zur blitzschnellen Reaktion, doch das Geräusch war verstummt. Einzig das Zirpen der Grillen in der dörrendheißen Nachmittagssonne und ein entferntes Rauschen des Windes von der anderen Seite des Tals waren zu hören. Die Sonne stand schon tief, und ihr schräg einfallendes Licht wurde von den Ritzen in der Holzwand der Hütte zu Strahlen zerschnitten, in denen Staubpünktchen tanzten.

Ehe sie sich aufrichtete, warf Fanny noch einen Blick auf den schlafenden Mann neben ihr. Sie konnte nicht verhindern, dass sie bei seinem Anblick erschrak, denn er rief das Gespenst ihres Alptraums zurück und mit ihm die verstörenden Bilder von Krankheit und Tod. Sie ärgerte sich darüber und streckte vorsichtig die Hand aus, um ihm zwei Haarsträhnen aus der schweißnassen Stirn zu streichen. Er schlief tief, nur die durchscheinende Haut der Augenlider zuckte unmerklich. Sein Gesicht war ihr zugewandt und sie betrachtete es aufmerksam. Der Schlaf hatte die Muskelspannung gelöst, sodass sein Unterkiefer schlaff herunterhing. Der bleiche Teint, die eingefallenen Wangen, der geöffnete Mund, das dünne Haar – all das ließ ihn so leblos erscheinen. Fanny konnte den Blick nicht von Louis abwenden, sondern wartete stattdessen ungeduldig auf ein sichtbares Zeichen von Leben im Körper ihres Mannes. Sein Atem ging so flach und leise, dass er den knochigen Brustkorb unter dem zu großen Hemd kaum anhob. Sie rückte ihr Gesicht dicht an seines heran und erst jetzt, aus nächster Nähe, sah sie, wie einzelne Härchen seines Schnurrbartes unter der ausgestoßenen Atemluft leicht erzitterten. Beruhigt wandte sie sich von ihm ab und richtete sich leise auf ihrem Lager auf, wobei sie sich innerlich wegen ihrer albernen Panik um Louis schalt.

Fanny rückte den Rock zurecht und ging langsam auf die Öffnung zu, in der vor Jahren eine Tür gewesen sein mochte. Jetzt war sie nur notdürftig mit einem stoffbespannten Holzrahmen verschlossen, den sie aus alten Latten zusammengenagelt hatte. An Holzresten, krummen Nägeln und rostigem Eisen war kein Mangel, überall lag das Zeug herum, man brauchte sich nur zu bücken. Stumme Zeugen einer vergangenen Betriebsamkeit. Noch bevor Fanny hinaus in die Hitze des Nachmittags trat, warf sie einen Blick in die Spiegelscherbe, die zwischen zwei Nägeln an einem Holzbalken klemmte. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um sich zu sehen. Ihr Teint war in den wenigen Tagen hier oben noch dunkler geworden, als er von Natur aus schon war. Wie eine Mexikanerin!, dachte sie und betrachtete sich ernst im Spiegel. Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. Die Mundwinkel hingen leicht herunter, das war nicht immer so gewesen. Fanny strich sich eine schwarze Locke aus der Stirn und nestelte sie unter das dichte Haar, das sich bereits wieder zu einem Knoten bündeln ließ. In einem Anfall von Wut und Verzweiflung hatte sie den dicken, geflochtenen Zopf abgeschnitten. Auf dem Kopf hatte sich daraufhin eine Vielzahl skandalös kurzer Locken gekringelt. Fanny löste die Haarnadeln und schüttelte den Kopf. Einzelne Silberfäden durchzogen die halblangen Lockensträhnen, noch weitere zehn Jahre, dann würde sie fünfzig sein und restlos ergraut. Sie seufzte leise und schritt zum Türverschlag.

Die Lederriemen, mit denen er am Pfosten befestigt war, quietschten, als sie den Holzrahmen nach innen öffnete. Sie kniff die Augen zusammen, das gleißende Sonnenlicht blendete sie. Ein Hauch von Nelkenduft lag in der Luft, der echte Gewürzstrauch, Calycanthus, sie hatte ihn auch in ihrem Garten in Oakland gepflanzt, der kleinen Stadt am östlichen Ufer der Bucht von San Francisco. Ungezählte Stunden hatte sie in ihm verbracht, um Strauchrosen zu züchten, Nutzpflanzen zu ziehen und Tigerlilien, immer wieder Tigerlilien – ihre Lieblingsblumen. Was nun aus ihm werden würde? Ein Garten durfte nicht sich selbst überlassen werden. Eine kundige Hand musste ausdünnen und zurechtschneiden, um den Wildwuchs ungebetener Pflanzen in Schach zu halten, die sich binnen eines Jahres über das liebevoll arrangierte Blumenbeet hermachten. Andere Gerüche von Kräutern, die ebenfalls in ihrem Garten wuchsen, wehten aus dem Tal herauf, manche verhalten, andere aufdringlich, von der Sonne aufgeheizt und freigesetzt. Sie roch den Lorbeer, die Muskatnuss, aber auch das würzige Harz der kalifornischen Kiefer.

Fanny trat hinaus auf die wackelige Holzbohle, die wie eine Brücke die Türöffnung mit der gegenüberliegenden Felswand verband. Eine Treppe innerhalb der dreistöckigen Hütte gab es nicht. Wer von der Plattform aus in den ersten Stock zu ihrer Schlafstätte gelangen wollte, musste den Weg über das Holzbrett nehmen. An dem Felsvorsprung angekommen, schürzte Fanny den bodenlangen Rock, um mit wenigen Schritten zur Plattform hinunterzusteigen. Dabei war sie stets versucht, an den züngelnden Trieben der Gifteiche Halt zu suchen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Louis hatte bereits mehrere Sträucher dieses efeuartigen Gewächses mit der Hand ausgerissen und sich dabei juckende Hautekzeme zugezogen. Sie wucherte überall, nicht nur draußen. Sie begnügte sich sogar mit dem dürftigen Nährboden zwischen den Holzritzen innerhalb der Hütte, als wollte sie das Gebäude so nach und nach unter sich begraben.

Unten angekommen, kramte Fanny in ihrem kleinen Lederbeutel nach Tabak, Zigarettenpapier und Zündhölzern. Mit geübtem Augenmaß löste sie eine exakt bemessene Menge Tabak aus der Verpackung, breitete sie auf dem Papier aus, drehte beides mit flinken Fingern zu einer dünnen Rolle und steckte sich die fertige Zigarette zwischen die Lippen. Die wenigen heraushängenden Tabakfäden glommen als erstes auf, als sie das flammende Zündholz daran hielt, bis Fanny einen tiefen Zug nahm, und die Glut sich rasch durchs Papier fraß. Genussvoll blies sie die Rauchschwaden aus und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, die sich vor ihren Augen ausbreitete.

Die Aussicht von der hölzernen Plattform – ihrem »Felsenhorst«, wie Louis sagte – war atemberaubend. Sie blickte hinab auf dunkle Baumkronen und schwarzgrüne Hügelkuppen, die in der Ferne zu sanften Wellen ausliefen. Hinter ihr türmte sich eine zerklüftete Felswand auf, deren rötliches Gestein in der Sonne leuchtete. Für Fanny war es ein denkwürdiger, ja nachgerade vertrauter Ort – eine verlassene Silbermine: Silverado Square. Obwohl hier seit Jahren kein Erz mehr aus dem Fels gehauen wurde, schien es, als hätten die Minenarbeiter ihr Werkzeug einfach nur fallen gelassen, um eine kurze Pause einzulegen. Es war noch alles da: Die Schienenstränge und die Karren, die darauf warteten, die Gesteinsladung abzutransportieren; eine eiserne Rinne auf Holzstelzen, die wie ein monströser Wasserspeier aussah. Auf ihr hatten sie vormals das edelmetallhaltige Gestein nach unten zu den Karren rutschen lassen. Eine triangelförmige Plattform, die sich an die Felswand klammerte und die ganze Weite des ausgehöhlten Canyon einnahm. Auf ihr befanden sich die Holzbaracke und ein Schmiedeofen, halb verrostetes Werkzeug, schmutzige Kleider, zerrissene Zeitungen und ein Tümpel aus Bauschutt, durch den man waten musste, wenn man über die Plattform lief.

Nicht gerade ein romantischer oder komfortabler Ort für eine Hochzeitsreise. Aber Fanny fühlte sich bereits jetzt erfrischt und wie erlöst nach all den Strapazen des vergangenen Winters, obwohl sie erst vor wenigen Tagen hier oben, auf halber Höhe von Mount Saint Helena, dem höchsten Berg des Napa Valleys, angekommen waren. Die Luft hier oben war klar und trocken wie Glas, kein Nebel wie in San Francisco, der als giftiger Dampf in Louis’ Lungen drang. Sie mussten sich keinerlei Gedanken über das Wetter machen. Eher noch als mit Regen wäre mit einem Erdbeben zu rechnen. Solange sie in dieser gottverlassenen Mine residierten wie Adler in ihrem Horst würde die Sonne ungetrübt am Himmel stehen. Lediglich um die Mittagszeit türmten sich auf dem Gipfel von Mount Saint Helena regelmäßig schneeweiße Wolken, als wäre der Berg ein Vulkan, aus dem unaufhörlich Dämpfe quollen.

Fanny ließ den Zigarettenstummel zu Boden fallen und trat ihn mit dem Absatz sorgfältig aus. In dieser knochentrockenen Gegend musste man aufpassen, dass nicht der kleinste Funke eine Feuersbrunst entfachte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, mochte es auf fünf Uhr zugehen, und eigentlich war es höchste Zeit, dass sie sich um ihren Sohn kümmerte. Seit dem späten Vormittag trieb Lloyd sich irgendwo in der Mine herum, mit Chuchu, der verzogenen Promenadenmischung aus einem Setter und einem Spaniel. Normalerweise blieb dieses Schoßhündchen treu ergeben an Louis’ Seite, besonders wenn dieser im Halbschatten des Schmiedeofens unter der knorrigen Madrona döste und die Stille genoss, oder wenn er in der mit Heu ausstaffierten Schlafkoje halb aufrecht saß und über Stunden hinweg schrieb. Dann streckte sich Chuchu auf Louis’ Beinen aus und verharrte reglos, bis das ermüdende Bleistiftkratzen verstummte.

Ob Lloyd wieder in einem der düsteren Schächte steckte? Einer befand sich oben auf der Plattform und führte tief ins Innere des Berges. Ein kühler, feuchter Wind wehte darin, ideal, um leicht verderbliche Lebensmittel zu lagern. Womöglich kundschaftete er jedoch den zweiten Tunnel aus, der am Fuß des schmalen Canyon lag, und der nur durch einen steil abfallenden Pfad zu erreichen war.

»Lloyd!»

Fannys Stimme hallte von der Felswand wider. Sie hatte den Eindruck, dass der Schall ihren Ruf weit hinunter ins Tal trug. Bestimmt würde man sie sogar im Toll House hören, wo ihre nächsten Nachbarn hausten, alles Lungenkranke, die das niedrige Holzhaus am Fuße des Berges als eine Art »Klein-Davos» betrachteten und in der Einöde auf ihre Genesung warteten. Abwechslung bot einzig die Postkutsche, die gelegentlich dort Station machte. Sie rief noch einmal, aber es blieb still. Wo steckte der Junge bloß? Lloyd war ein Herumtreiber, verspielt und eigenbrötlerisch. Eine Geisterstadt, geheimnisvolle Schächte, eine urwüchsige Natur, in der Grizzlys, Kojoten und Braunbären hausten, waren das passende Ambiente, um die Fantasie eines Zwölfjährigen zu entfesseln. Er brauchte keine anderen Kinder, Spielkameraden im passenden Alter hatte er ohnehin keine. Bis zum heutigen Tag hatte er nur unregelmäßig die Schule besucht. Drei Winter lang, als sie in Paris waren. Die Sommermonate hindurch war er der École primaire jedoch ferngeblieben, weil sie die ländliche Frische in Grez-sur-Loing den stickigen Straßen und Häusern von St. Germain vorgezogen hatten. Auch als sie wieder zurück in East Oakland waren, wurden Schulbesuche immer wieder unterbrochen. Lloyd konnte nichts dafür, wenn er ein in sich gekehrtes Kind war, unerzogen, wild, verträumt. Fanny hatte die Kinder ihrem Vater entrissen und war vor fünf Jahren nach Frankreich geflohen – aus Vernachlässigung, aus Trostlosigkeit und einer nicht zu unterdrückenden Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Es war eindeutig ihre Schuld, wenn der Junge mehr ein Vagabund als ein strebsamer Schuljunge war.

»Lloyd!»

Fanny überlegte, ob sie wirklich den steilen Pfad nehmen sollte, um den Jungen zu suchen. Offensichtlich war er außer Rufweite ihres Felsenhorstes. Möglicherweise reagierte er nicht sofort, weil er mit dem Namen nichts anzufangen wusste. Er war noch nicht daran gewöhnt, ihn auf sich zu beziehen. Ob es richtig war, was sie getan hatte? Samuel Lloyd Osbourne, so lautete sein Taufname. Er hörte auf Sam, genau wie sein Vater. Sam – der Name steckte ihr wie eine faule Frucht im Mund. Sie verzog das Gesicht, unfähig laut zu rufen und ihn damit auszuspucken. Zu viele Erinnerungen wühlte er auf, die sie lieber in sich vergrub. Doch jedes Mal, wenn sie wieder auftauchten, trat sie in eine Arena widerstreitender Gefühle: Da war dieser blonde, hoch gewachsene, kräftige Mann mit den strahlenden Augen, unbekümmert, offenherzig und charmant. Und dieser nagende Schmerz, diese Eifersucht mit dem Rattenschwanz an Wutanfällen, schlaflosen Nächten und zermürbenden Zweifeln. Anfangs war Sam noch sehr vorsichtig gewesen, doch schon bald hatte er sich keine Mühe mehr gegeben, die vielen Geliebten vor ihr geheim zu halten. Etwas Ausweichendes in seinem Blick, ein fremder Geruch, eine gewisse Fahrigkeit und seine ungewohnten Wünsche, wenn sie sich liebten. Fanny legte die Hand auf die Brust, auf die Stelle, wo ihr Herz plötzlich schneller schlug. Es versetzte ihr immer noch einen Stich, wenn sie sich vorstellte, wie diese Weiber sich unter ihm geräkelt und lustvoll gestöhnt hatten und ihm bei alledem noch den gleich lautenden Namen ihres Sohnes ins Ohr seufzten. Schluss. Vorbei. Weg mit dem Namen. Sie hatte den zweiten an die Stelle des ersten gerückt und Sam damit nicht nur als Wort getilgt. Die Erinnerungen an Sam würden lückenhafter werden, sie waren es bereits jetzt schon.

Lloyds Vorbote schoss im Zickzack über die Steinhaufen, die sich wie eine Mauerfestung am Rand der Plattform türmten. Fanny hatte längst das Rascheln im trockenen Unterholz gehört und wusste, dass Chuchu durchs Gestrüpp hastete, die Nase dicht über dem steinigen Boden. Sie ging auf die Knie, versuchte, den an ihr hochspringenden Hund zu fassen, krallte die Finger in sein struppiges Fell und reckte den Hals, um zu verhindern, dass er ihr Gesicht ableckte.

»Aus!«, presste sie unter Lachen hervor. »Platz! Braves Hundchen.«

Chuchu fegte im Liegen mit dem Schwanz über die Holzbretter, es klang wie Peitschenhiebe, und wirbelte dabei den Staub auf, der sich über die Jahre hier abgelegt hatte. Fanny hielt schützend die Hand vor die Augen und sprang schnell auf.

»Wo hast du denn dein kleines Herrchen gelassen?«

»Fanny?«

Sie fuhr herum. Louis’ Stimme klang immer noch schwach. Eigentlich fehlte es ihr an Kraft, um größere Strecken zu überwinden, aber es war ganz gleich, in welchem Winkel des Hauses Fanny sich gerade aufhielt, ob sie kochte, nähte, stickte, im Garten die Erde umgrub, ob sie las oder einfach nur ihren Gedanken nachhing – sie hörte Louis immer. Er musste ihren Namen nur hauchen, und sie war bereits alarmiert. Als wären all die anderen Dinge nur Ablenkungen und ihre eigentliche Beschäftigung bestünde darin, zu warten, bis er wieder nach ihr verlangte. Unzählige Male, Tag und Nacht. Seine Stimme versetzte sie in Aufruhr, und jedes Mal versuchte Fanny ihre Erregung einzudämmen, indem sie bereits an ihrem Klang im Voraus zu erkennen hoffte, was sie erwartete. Aber ganz gleich, ob ein gewisser Schwung in ihr lag, der Anlass zur Beruhigung bot, oder ob sie jene befürchtete Zittrigkeit zu erkennen gab – sie ließ augenblicklich alles stehen und liegen und eilte in sein Zimmer, als würde er dort, bleich zwischen den weißen Bettlaken liegend, sie an einer unsichtbaren Schnur zu sich heranziehen.

Chuchu sprang immer wieder dazwischen, als Fanny sich möglichst rasch eine Spur zwischen den verstreut liegenden Steinen und dem wuchernden Unkraut hindurch bahnte. Es war mühselig, die Plattform zu überqueren, ständig bohrten sich spitze Steinbrocken durch die Ledersohle, oder man knickte um. Hier musste unbedingt noch etwas passieren. Der ganze Bauschutt musste weggefegt werden, damit sie sich ausstrecken konnten, um ein Sonnenbad zu nehmen. Deshalb waren sie doch überhaupt hier. Louis sollte die trockene Bergluft einatmen und mit bloßem Oberkörper die elende Krankheit ausschwitzen. Damit er tagsüber nicht immer auf dem Boden hocken musste, würde sie ihm morgen früh aus den herumliegenden Hölzern rasch einen Hocker zimmern. Dann könnte er bequem an dem zersplitterten Tisch sitzen und im Schatten der Madronabäume lesen und schreiben. Sie hatte auch damals in der Silbermine in Austin für die kleine Familie sämtliche Möbel geschreinert. Sam war so stolz auf sie gewesen, denn unter all den Glücksrittern besaß er das behaglichste Heim, sodass die ausgehungerten Schatzsucher ihre müden Füße am liebsten unter seinem Tisch ausstreckten und sich von Fanny bekochen ließen. Von Louis brauchte sie nicht zu erwarten, dass er selbst zu Hammer und Nägeln griff mit seinen zwei linken Händen. Wenn er früh am Morgen Holz spaltete, schlug er sich garantiert auf die Finger, wenn er für sie alle zum Frühstück Porridge kochte, brannte dieser im Topf an. Besser, wenn sie sich um derlei Dinge kümmerte, und er sich rein auf die Kopfarbeit beschränkte.

Aufwärts war es bedeutend leichter, an der ausgefransten Felswand hinauf auf die Holzplanke zu steigen, um in die Hütte zu gelangen. Als sie den quietschenden Türverschlag öffnete, und Chuchu sich voreilig durch den schmalen Spalt zwängte, konnte sie Louis in dem Halbdunkel nicht gleich erkennen. Er hatte sich in die Ecke gedrängt, die am weitesten von ihrem Lager entfernt war. Chuchu lief auf ihn zu und sprang freudig bellend an seinen Beinen hoch. Entgegen seiner sonst herzlichen Begrüßung, schüttelte Louis das Tier wie ein lästiges Anhängsel von sich.

»Was ist los?«, fragte Fanny. Sie machte einige Schritte auf Louis zu.

»Still!«, raunte er und hielt sie mit der ausgestreckten Hand auf Abstand. »Hörst du das?«

»Was?«

»Das Geräusch.«

»Welches Geräusch?« Fanny wusste genau, was er meinte.

»Da rasselt doch was ... da, jetzt wieder.«

Chuchu fing an zu knurren, rührte sich jedoch nicht von Louis’ Seite.

»Wo denn?«

Fanny tat so, als hörte sie nichts, stattdessen schob sie – von Louis unbemerkt – ihren Rock mitsamt den diversen Schichten an Unterröcken hoch und tastete nach dem kühlen Metall in Höhe ihres Strumpfbandes.

»Da, zwischen dem Heu.«

Louis zeigte auf ihr Schlaflager, das sie sich auf dem Boden mit reichlich Heu aufgeschüttet und mit Baumwolllaken bedeckt hatten. Fanny ging langsam darauf zu, suchte währenddessen mit dem Zeigefinger nach dem Abzug und legte die restlichen Finger um den Knauf.

»Hör doch! Es wird lauter. Vorsichtig, Fanny!«

Mit der freien Hand bedeutete sie ihm, dass er in der Ecke stehen bleiben und sich nicht rühren solle. Dann schob sie behutsam die linke Schuhspitze vor und raschelte mit dem Heu. Im selben Moment, als sich etwas Ziegelrotes zusammenrollte und ein züngelnder Kopf emporschoss, zog Fanny blitzschnell die Pistole und drückte ab. Die Schlange wurde zur Seite geschleudert, Blut und Fleischfetzen spritzten über die weißen Laken, und Chuchu brach in ein hysterisches Gekläff aus. Fanny ließ den Colt sinken, aus dessen kurzem Lauf noch beißender Rauch entwich, und wandte sich zu Louis.

»Willst du sie sehen?«, fragte sie und winkte ihn zu sich heran. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und spähte zwischen zwei Fingern zum Tatort hinüber. Fanny lächelte. »Na, komm schon. Es ist eine rote Diamant-Klapperschlange.«

Chuchu schnupperte verhalten an dem kopflosen Tier, schließlich – mutig geworden durch dessen Leblosigkeit – schnappte er wütend nach dem Kadaver.

»Es wimmelt hier vor Schlangen«, sagte Fanny.

Louis hüstelte. »Hast du das gewusst?«

Fanny nickte, lief auf ihn zu und schlang die Arme um seinen langen, dünnen Hals. Er zog sie dicht zu sich heran und küsste sie. Dafür musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen und er sich zu ihr hinunterbeugen. Ihre Körper hätten nicht unterschiedlicher sein können. Sie war nach drei Geburten fülliger und weicher geworden, er nach ausschweifendem Lebensstil, unvernünftigen Reiseabenteuern und ernsthafter Krankheit knochiger und durchscheinender.

»Meine Tigerlily ist also eine Pistolenheldin!«, sagte Louis und schob Fanny an den Schultern von sich, um sie anzusehen. »Seit wann trägst du einen Colt im Mieder?«

»Seit wir hier sind. In East Oakland hab ich ihn nicht gebraucht.«

Louis’ Augen leuchteten. »Ich wusste nicht, dass die Gegend hier so gefährlich ist.«

»Ist sie auch nicht«, entgegnete Fanny und löste sich von ihm. »Da hab ich schon an ganz anderen Orten gelebt.« Fanny griff Chuchu am Halsband, entriss ihm den malträtierten Schlangenkörper und ließ ihn vor Louis’ Gesicht baumeln. »Ich könnte eine Suppe daraus kochen, was meinst du?«

Louis drehte angewidert den Kopf zur Seite, dann wandte er sich ihr wieder mit einem herausfordernden Blick zu.

»Irgendwo hab ich mal gelesen, dass alles im Leben zweimal geschieht: das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce.«

Fanny sah ihn verständnislos an. »Und was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, dass wir unsere Flitterwochen nicht zufällig in dieser verlassenen Silbermine verbringen«, sagte Louis, griff Fanny erneut um die Taille und zog sie zu sich heran.

Sie stand steif an Louis gelehnt, die Hände abwehrend auf seine Arme gestützt und vermied es, auch nur flüchtig seinen suchenden Blick zu streifen. Er hatte die Angewohnheit, den anderen mit seinen wachsamen Augen – sie waren in dem schmalen Gesicht tatsächlich von auffallender Größe – förmlich an die Wand zu nageln, damit ihm im Gespräch nicht die kleinste Regung, nicht die leiseste Andeutung einer veränderten Gemütsverfassung entging. Louis war ein Meister der Konversation. Mochte die Unterhaltung selbst die größten Nebensächlichkeiten zum Gegenstand haben, das hohe Maß an Aufmerksamkeit, das er ohne Unterschied allen seinen Gesprächspartnern entgegenbrachte, war überaus schmeichelnd, sodass man gar nicht anders konnte, als sich auf seine lebhafte Anteilnahme einzulassen. Fanny ahnte jedoch, in welche Richtung Louis ihre augenblickliche Unterhaltung lenkte und ging innerlich wie äußerlich auf Abwehr.

»Du liest zu viel.«

»Mit ertraglosen Silberminen bist du doch bestens vertraut, meine kleine Glücksritterin.« Obwohl Fanny unter der Berührung seiner Hände immer sperriger wurde, entließ er sie nicht aus der Umarmung und zog sie stattdessen noch näher zu sich heran. »Du duftest nach Lagerfeuer, nach wilden Salbeibüschen, nach endloser Wüste und gefährlichen Abenteuern.«

Fanny verdrehte die Augen. Louis ließ sie los und fing sogleich an, mit den frei gewordenen Händen ausladende Gesten zu beschreiben. Auch das war eine Angewohnheit von ihm, die sie je nach Stimmung erheiterte, tolerierte oder schlichtweg nervte. Er neigte zu Hibbeligkeit, gebärdete sich häufig übernervös und völlig überdreht, brach unvermittelt in lautes Gelächter aus, das man – war er erst einmal in Fahrt – kaum zu stoppen vermochte. Auch jetzt war er wieder drauf und dran, sich auf einer Welle der Begeisterung davontragen zu lassen, wozu ihm seine Gedanken und Wortschöpfungen den Anstoß gaben.

»Meine Fanny, geborene Frances Matilda Vandegrift«, hob er theatralisch an, »kaltblütig und unerschrocken mit der kleinen Belle in der Hand, einzige Frau inmitten raubeiniger Glücksritter auf der Suche nach Gold.«

»Silber«, korrigierte ihn Fanny, die das blutige Laken zusammenrollte und mit dem Fuß das beschmutzte Heu zur Seite schob. »Außerdem habe nicht ich nach Silber gesucht, sondern Sam. Ich habe mich lediglich um das Kind gekümmert und den Haushalt geführt.«

»Und dabei blutrünstigen Indianern die Stirn geboten und die Familie vor dem tödlichen Übergriff bewahrt«, ergänzte Louis, griff nach Fannys Hand, die sie ihm jedoch geschickt mit dem Aufwickeln des Lakens entzog. »Du hast im Nirgendwo der Sierra Nevada deine erste Ehe in einer Silbermine begonnen und stehst im Begriff, auch die zweite auf gleiche Weise zu beginnen. Warum?«

Fanny lief zum offenen Fenster und schmiss das Laken auf die Plattform hinunter. »Warum?« Sie warf einen flüchtigen Seitenblick auf Louis und überlegte, wie sie einen Bogen um die Frage machen konnte. »Da gibt es kein Warum. Wir sind hier, weil die Luft klar und trocken ist und du wieder gesund werden musst, bevor wir nach Edinburgh aufbrechen. Wer weiß, wie dir das feuchte Klima in Schottland bekommt, wenn du noch nicht mal die milde Luft in San Francisco verträgst.«

Sie sah ihm an, dass ihre Antwort ihn keineswegs zufriedenstellte. Er wollte auf etwas anderes hinaus und sie wusste worauf. Sie hatte sich selbst bereits mehrfach gefragt, warum um alles in der Welt sie Louis überhaupt in diese gottverlassene Silbermine gebracht hatte, in der keinerlei Komfort ihre Flitterwochen versüßte, in der jeder Handgriff mühsam war und die Organisation des Alltags einzig und allein auf ihr lastete. Natürlich, Louis liebte das Abenteuer, das Abseitige, immer wieder stürzte er sich kopflos in gefährliche Unternehmungen. Von der notdürftigen Hütte einmal abgesehen – was war das hier anderes als ein Leben in freier Natur? Silverado Square – allein der rauchige Name mochte in Louis exotische Bilder heraufbeschwören, bestehend aus rauchenden Colts, paffenden Frauenzimmern und saufenden Kerlen, die nach Schweiß und Kautabak stanken. Er betrachtete das hier sicherlich als ein letztes Wildwest-Abenteuer, bevor es endgültig zurück in das zivilisierte Europa ging; für sie besaß der Ort jedoch eine ganz andere Bedeutung von eher symbolischer Tragweite.

Keine Frage, Louis lag mit seinen Vermutungen ganz richtig: Silverado Square war Absicht und kein Zufall. Fanny baute auf eine ganz bewusste Wiederholung mit der Hoffnung, dass ihr ein glücklicherer Neuanfang gelingen möge. Noch einmal alles auf Anfang, so hoffte sie wenigstens. Aber darüber wollte sie mit Louis nicht sprechen. Was wusste er schon von der Ehe mit ihren bitteren Enttäuschungen, was von dem frostigen Schweigen und der eisigen Kälte, die sich wie ein zersetzendes Schimmelgeflecht zwischen den einstigen Vertrauten einnistete? Mit seinen gerade einmal dreißig Jahren war Louis noch ein Grünschnabel – wenngleich ein sehr liebenswerter und äußerst talentierter. Besser, wenn er am eigenen Leib erfuhr, was das Leben an Höhenflügen und Ernüchterungen bereithielt.

»Gib’s zu, Fanny«, platzte er in ihre Gedanken. »Das mit Sam war die Tragödie und mit mir ...«, er brach in jenes schwer zu bändigende Lachen aus, »das wird die Farce.« Die letzten Worte konnte man in dem wilden Gelächter nur schwer verstehen.

»O Louis!« Fanny musste ebenfalls lachen, nahm sein Gesicht in die Hände und blickte ihm fest in die Augen. »Sam war weiß Gott keine Tragödie ... und du wirst auch keine Farce.«

»Und was war es dann mit Sam?«

Fanny ließ die Arme sinken. »Der ganz normale Verlauf einer langjährigen Ehe. Ein großartiger Start mit heftigem Herzrasen, jede Menge Tränen und Gemeinheiten und zu guter Letzt ein schales Finale.«

»Entschuldige, Fanny. Aber nicht jede Frau hat die Stirn, das Scheitern ihrer Ehe mit einer Scheidung zu besiegeln. Außerdem wäre es Sams gutes Recht gewesen, dir den Jungen wegzunehmen«, wandte Louis ein.

»Das stimmt. Wenn du so willst«, sagte sie nachdenklich, »dann war das mit Sam mehr ein Dilemma als eine Tragödie. Ich hatte die Wahl, frustriert mit meinem Stickrahmen in Oakland zu sitzen und über meinen schrecklichen Irrtum zu brüten, während mein Gatte in San Francisco jedem Weiberrock hinterhersteigt und sich sinnlos betrinkt, oder die Koffer zu packen und mein Leben in die Hand zu nehmen ... und das von Lloyd. Ach, Louis! Im Grunde hat Sam unser Wohnzimmer mit einem Saloon verwechselt, und er ist nichts anderes als ein großspuriges amerikanisches Trampeltier.«

Louis lachte. »Du übertreibst. Trotzdem ...« Er wurde mit einem Mal ernst. »Ob ich dir jemals so ein aufregendes Leben bieten kann? Du bindest dich an jemanden, der nicht mal für sich selbst sorgen kann. Schau mich an: Ich bin nicht viel mehr als eine Mischung aus Husten und Knochen.«

Fanny sah ihn erschrocken an. »Was redest du da?«

»Mein Reich ist das Bettdeckenland, was kann man da schon groß erleben? ... Außer Schreiben vielleicht.« Seine Stimme hatte jeglichen Schwung verloren.

»Aber Louis!«, rief Fanny bestürzt. Sie berührte die zarte Haut seiner eingefallenen Wange. »Dich wieder aufzupäppeln – das wird mein größtes Abenteuer, glaub mir. Es ist leichter, einem dürren Wüstenboden Gemüse zu entlocken, als deinem ausgemergelten Körper Leben.« Sie stockte.

Louis setzte ein gequältes Lächeln auf und sagt dann matt: »Mein halbes Leben hab ich zwischen Bettlaken verbracht. Ich hab es so satt! Zu ertrinken oder erschossen zu werden, vom Pferd zu stürzen – ja selbst gehenkt zu werden, alles ist besser, als dieses vor sich hinsiechen.« Louis’ Mund verzog sich zu einem schmalen Strich.

»Wie du sprichst!«, entsetzte sich Fanny. »Wer redet hier von Siechtum? Du warst krank, ja. Die Reise, die Anspannung der letzten Monate – natürlich, es war einfach zu viel. Aber jetzt bin ich für dich da!« Wieder nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. »Jetzt kümmere ich mich um dich ... Du wirst gesund!«, setzte sie mit beschwörender Stimme fort. Fanny atmete tief durch. Lag es nicht in ihren Händen, es zumindest teilweise wahr zu machen? Nichts hinderte sie daran, es noch einmal zu versuchen und wirklich mit einem Mann glücklich zu werden. Einem Mann, der krank war, der sie brauchte, einem Mann der Künstler und kein Goldsucher war, einem Mann, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um sie zu gewinnen. Sie würde es noch einmal versuchen, aber ganz sicher nicht als Farce.

Abschied in Oakland, 1880

Fanny saß an ihrem Sekretär im Obergeschoss des kleinen Hauses in Oakland und nagte nervös auf dem Füllfederhalter herum. Sie starrte auf die wenigen Worte, die sie bislang zu Papier gebracht hatte, und lehnte sich seufzend auf dem Stuhl zurück. Wie um alles in der Welt sollte sie ihre Schwiegermutter nur anreden? »Liebe Margaret« oder doch besser das höflich distanzierte »Verehrte Mrs. Stevenson«? Oder sollte sie die neue familiäre Beziehung gleich beim Namen nennen und vertraulich »Meine liebe Schwiegermama« schreiben? Um sie herum lagen bereits etliche zusammengeknüllte Blätter auf dem Boden, allesamt Fehlversuche, die sie zunehmend verärgerten. Einmal hatte sie sich verschrieben, ein anderes Mal war Tinte aufs Papier gekleckst, dann wieder empfand sie ihre Wortwahl als unangemessen oder zu gestelzt. Auch jetzt war sie drauf und dran, den Bogen wütend zu einem Papierball zusammenzudrücken und hinter sich zu werfen. Dieser Brief, den sie an Louis’ Mutter zu schreiben gedachte, war das Erste, was Margaret Stevenson von ihrer neuen Schwiegertochter zu Gesicht bekommen würde. Es musste ihr unbedingt gelingen, mit einer tadellosen Handschrift, einem sauberen Briefbogen und einer korrekt gewählten Ausdrucksweise sogleich den besten Eindruck zu hinterlassen. Fanny gab sich keinerlei Selbsttäuschungen hin. Sie war ganz sicher nicht die reizende junge Frau, die sich Margaret Stevenson als Gefährtin für ihren einzigen Sohn erträumte, und die sie freudig wie eine Tochter in ihr Herz schließen würde. Fanny musste grinsen. Eine Tochter in der Blüte ihres Lebens, die selbst schon dreifache Mutter und zudem noch zehn Jahre älter als der Ehemann war! Sie legte den Füllfederhalter zur Seite und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zögerte jedoch einen Moment, sie anzuzünden.

Vor gut einer Woche hatten sie Silverado Square verlassen. Zwei Monate in freier Natur, in denen Louis nichts anderes zu tun gehabt hatte, als zu schreiben, die gesunde Bergluft einzuatmen und sich von ihr verwöhnen zu lassen. Als er heute Morgen die erste Fähre rüber nach San Francisco genommen hatte, um Fahrscheine für ihre baldige Zugreise nach New York zu besorgen, wirkte er so vital und gesund wie schon lange nicht mehr. Fanny hatte sich an ihn geschmiegt und verzückt dem Klopfen des lebenshungrigen Herzens in seiner knochigen Brust gelauscht. Davon musste sie ihrer Schwiegermutter schreiben, wie überaus erfolgreich sie ihren geliebten Louis wieder aufgepäppelt hatte, wie sie diesem Klappergestell tatsächlich ein Paar Pfunde auf die Rippen und ein zartes Rosa auf die Wangen gezaubert hatte. Fanny zündete die Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, legte sie in den Aschenbecher und griff erneut zum Füller. Während sie schrieb, stieg der Rauch auf und zog kräuselnd an ihrem konzentrierten Gesicht vorbei.

»Der Doktor besteht darauf, dass einzig und allein meine Pflege Louis das Leben gerettet hat, was ich natürlich nicht wirklich glauben kann. Schließlich habe ich mich lediglich an die Anweisungen des Arztes gehalten und hätte ohne seinen Rat gar nicht gewusst, wie ich mich um Louis kümmern sollte. Aber natürlich freue ich mich sehr über sein Lob!«

Fanny hob den Kopf und überflog die geschriebenen Zeilen. Ein wohl dosierter Stolz bei gleichzeitiger Bescheidenheit, das kam sicher gut an. Sie beugte sich wieder übers Papier:

»Sich um Louis zu kümmern ist, wie Sie selbst sicher zur Genüge erfahren haben, als würde man eine Forelle angeln. Man muss genau spüren, wann man die Leine auswirft und sich in der allergrößten Geduld üben, ehe man das scheue Fischchen behutsam an Land zieht. Allmählich bin ich zu einer Expertin im Umgang mit Ihrem überaus liebenswerten Sohn geworden.«

Mit einem versteckten Kompliment das Mutterherz beglücken und sich als hingebungsvolle Ehefrau zur Komplizin machen – das musste doch funktionieren! Fanny stand auf und rückte den Stuhl nach hinten. Bei dem plötzlichen Geräusch fuhr Chuchu hoch. Er hatte unter dem Schreibtisch gelegen und vor sich hingedöst. Nur gelegentlich hatte er träge den Kopf gehoben, wenn mal wieder ein zerknülltes Papier auf dem Boden landete. Fanny streichelte über sein Fell, lief um den Sekretär herum und stellte sich ans offene Fenster, von wo aus sie einen schönen Blick hinunter in den Garten hatte.

Wie fröhlich Louis ihr heute Morgen beim Abschied vom Tor aus zugewunken hatte. Keine Frage, er war wieder bei Kräften. Trotzdem – die Krankheit hatte Verwüstungen an seinem Körper hinterlassen, die ihrer Schwiegermutter nicht entgehen würden. Nur noch wenige Wochen, dann würde sie ihren Sohn wieder in die Arme schließen und über seine Schultern hinweg einen vorwurfsvollen Blick auf die Schwiegertochter werfen. Es stimmte ja auch – er bot immer noch ein recht dürftiges Bild, wenn er so dastand und die Kleidung wie ein labbriger Sack an den Gliedern herunterhing. Ganz sicher würde die besorgte Mutter ihr die Schuld an dem bescheidenen Zustand ihres Sohnes geben, wenngleich sie auch kein deutliches Wort darüber verlieren würde. Wie Louis Fanny versichert hatte, war Margaret viel zu edelmütig und gesellschaftlich versiert, als dass sie sich durch üble Schimpftiraden als geschmacklos und plump bloßstellte. Aber Fanny war selbst Mutter und wusste nur zu genau, wie diese empfinden. Für alles, was den Schützlingen Schädliches widerfuhr, gab es einen Schuldigen. Und in ehrlichen und nachdenklichen Minuten hatte sich Fanny selbst schon unzählige Male gefragt, ob ihr nicht tatsächlich ein Großteil der Verantwortung an Louis’ Verfassung zukam.

Sie hatte ihm das Telegramm nach Edinburgh geschickt, ein Jahr nachdem sie auf Geheiß ihres Ehemanns Frankreich verlassen und ihr ungeliebtes Hausfrauendasein in Oakland wieder aufgenommen hatte. Vor allem Louis hatte sich mit der Trennung nicht abfinden wollen und inständig gehofft, dass sie in Oakland die Scheidung vorantreiben würde. Nicht einen Brief hatte er ihr geschickt, ausgerechnet er, der jeden noch so belanglosen Gedanken zu Papier brachte und stets das Bedürfnis hatte, sich anderen mitzuteilen. Es war ein Schweigen gewesen, das nichts anderes bedeutete als: »Ein Wort und ich werde bei dir sein!« Sie hätte wissen müssen, welche Lawine jene zehn Wörter auslösen würden, die sie Louis in einem schwachen Moment geschickt hatte. Nicht ein Wort davon, dass er sofort kommen solle. Keine Bitte, kein Flehen, keine Aufforderung. Sie hatte ihn lediglich wissen lassen, wie krank sie war, wie verzweifelt. Sie hatte unter einer hochgradigen Erschöpfung gelitten, die sich in Ohnmachtsanfällen, Hör- und Sehstörungen, Bewusstseinstrübungen und tiefer Niedergeschlagenheit äußerte. Bisweilen waren auch hysterische Anfälle aufgetreten, die einmal zum furiosen Abschneiden des hüftlangen Zopfs geführt hatten. Mit ihrem wirren Lockenkopf hatte sie auf Sam offenbar den Eindruck einer Verrückten gemacht, denn er konnte in ihrem Verhalten nichts anderes erkennen, als dass sie wahnsinnig geworden sein musste. Eine Irre, die nicht mehr in der Lage war, für die Kinder zu sorgen, die dringend eine Luftveränderung in dem südlich von San Francisco gelegenen Küstenort Monterey brauchte.

Nein, eine konkrete Aufforderung an Louis war ihr Telegramm nicht gewesen, und doch hatte er es als einen Lockruf oder einen Hilfeschrei gedeutet und alles stehen und liegen gelassen, um die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen. In zehn Tagen hatte er den Atlantik überquert und anschließend mit dem Zug dicht gedrängt mit unzähligen Passagieren die weiten Ebenen und Berge Amerikas passiert, gehungert, gefroren und geschwitzt. Vier Wochen nach Erhalt der telegrafischen Botschaft hatte er vor ihrer Haustür in Monterey gestanden. Sein Anblick war fürchterlich gewesen: Das war nicht mehr der lebenslustige Bohemien, den sie in Frankreich zurückgelassen hatte, sondern ein körperliches Wrack, das dringender Pflege bedurfte. Dennoch hatte er eine Freude ausgestrahlt, weil die Zeit des Wartens für ihn vorbei war. Endlich war er hier und konnte die überfällige Entscheidung zu seinen Gunsten vorantreiben. Nur sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher gewesen.

Fanny war so tief in Gedanken versunken, dass sie beim Zuschlagen der Gartentür zusammenfuhr. Wie oft hatte sie ihrer Tochter schon gesagt, dass sie nicht immer so mit den Türen knallen sollte! Belle hatte sie oben am Fenster entdeckt und winkte fröhlich zu ihr hoch. Fanny winkte zurück, drehte sich vom Fenster weg, um rasch den angefangenen Brief verschwinden zu lassen und den Papiermüll einzusammeln. Chuchu lief aufgeregt zur Tür und kratzte mit den Vorderpfoten gegen das Holz. Von unten hörte sie Lloyds Freudenschrei. Seit ihrer Hochzeit kam Belle nur noch selten von San Francisco herüber, sodass es bedeutend stiller im Haus geworden war. Kein Gezänk mehr zwischen den Geschwistern, kein Getrampel, wenn Lloyd vor seiner dominanten Schwester flüchtete und durchs Haus tobte. Aber jetzt polterte er die Holztreppe hoch und rief aufgeregt ihren Namen. Fanny ging zur Tür und öffnete sie in dem Moment, als die Kinder bei ihr eintreten wollten.

»Belle ist da!«, rief Lloyd freudestrahlend.

Chuchu bellte aufgeregt und beruhigte sich erst, als Fanny ihn am Halsband neben sich zerrte. Belle schob sich an ihrem Bruder vorbei ins Zimmer und ließ flüchtig ihren Blick über die geöffneten Schubladen und Schränke schweifen.

»Hier wird ja schon eifrig gepackt!«, bemerkte sie, öffnete dabei die Schleife unter ihrem Kinn und nahm den Hut vom Kopf.

Fanny glaubte, eine gewisse Schärfe in Belles Stimme herauszuhören. Sie ging auf ihre Tochter zu und küsste sie auf beide Wangen.

»Du kommst gerade recht.« Fanny deutete auf die Berge von Kleidern, die sich auf dem Sofa türmten und den Korbsessel unter sich begruben. »Schau dir das Durcheinander an. Ich habe keine Ahnung, was ich mitnehmen soll.«

»Belle, ich muss dir unbedingt was zeigen.« Lloyd zerrte am Arm seiner Schwester und wollte, dass sie sich zuerst um ihn kümmerte.

Sie fuhr ihm durchs Haar. »Ich komme gleich, ja? Ach, bevor ich’s vergesse. Ich hab dir was mitgebracht.« Sie nahm ihre Handtasche vom Arm, holte eine winzige Schachtel heraus und gab sie Lloyd.

»Was ist das?«, fragte er überrascht.

»Sieh doch nach.«

Lloyd öffnete behutsam den Deckel und strahlte übers ganze Gesicht. »Der General! Der hat mir in meiner Armee noch gefehlt. Danke Belle!« Er fiel seiner Schwester um den Hals.

Fanny lächelte. In den zwei Monaten in der Silbermine hatte sich der Junge von früh bis spät in freier Natur herumgetrieben. Doch kaum waren sie wieder in der Zivilisation, verschanzte er sich in seinem Zimmer und spielte stundenlang mit seinen Zinnsoldaten. Wie man sich mit solchen Figuren überhaupt beschäftigen konnte, war Fanny ein Rätsel. Auch Louis hatte Spaß daran und focht mit ihrem Sohn ganze Schlachten auf dem Teppich aus.

»Jetzt hast du ja was zu tun und kannst mir Belle eine Weile überlassen. Nimm bitte Chuchu mit.« Und an Belle gewandt sagte sie: »Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen.«

Sobald Lloyd die Tür hinter sich zugezogen hatte, löste sie sich von Belles Arm, fasste sie bei den Schultern und blickte ihr geradewegs ins Gesicht. »Du siehst gut aus. Die Ehe scheint dir zu bekommen.«

Belle schlug die Augen nieder. Entweder weil sie das Thema gegenüber ihrer Mutter unangenehm berührte oder weil Fannys Tonfall eine Spur zu schneidig ausgefallen war. Vermutlich Letzteres, dachte Fanny.

»Wie geht’s Joe?«, fragte sie mit betont friedfertiger Stimme.

Belle musterte Fanny für einen kurzen Moment, als suche sie nach Zeichen über die Stimmungslage ihrer Mutter.

»Gut«, antwortete sie zurückhaltend. »Er hat einen Auftrag für ein Portrait bekommen. Die Bezahlung ist nicht schlecht«, fügte sie hinzu, wobei sie sich Mühe gab, nicht zu enthusiastisch zu klingen.

Fanny schob die Kleider auf dem Sofa zur Seite und ließ sich in die Polster sinken. »Komm, setz dich zu mir. Ist das Kleid neu? Es steht dir jedenfalls ausgezeichnet.« Ihre Augen wanderten über Belles Erscheinung und blieben an ihrer Frisur hängen. »Seit wann trägst du dein Haar aufgesteckt? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hattest du es noch mit einer Schleife zusammengebunden.«

»Ich bin kein Mädchen mehr, Mutter!«, sagte Belle und setzte sich neben Fanny.

Wie gesittet sie sich das Kleid glatt strich, ehe sie Platz nahm, und wie neckisch sich der Puff an ihrem Hinterteil ausnahm. Fanny musste zugeben, dass sich Belle verändert hatte. Sie war zu einer jungen Frau erblüht. Meine Güte, wie schnell das alles gegangen war! Sie sah noch das entzückende Mädchen in langen Spitzenhöschen vor sich, das trällernd durch den Garten hüpfte. Mit diesen wippenden dunklen Locken, die sie von ihr geerbt hatte. Und nun saß sie neben ihr in einem hochgeschlossenen Schottenkleid und einem feinen Tuch um die Schultern, das üppige Haar zu einem strengen Knoten gebändigt. Wie kerzengerade sie sich hielt! Vermutlich hatte sie ihr Korsett besonders eng geschnürt, ihre Taille wirkte nämlich beängstigend schmal, aber so elegant. Fanny blickte unangenehm berührt an sich herunter. Ihre Garderobe musste unbedingt noch aufgebessert werden, bevor sie abreisten.

»Könntest du mir beim Aussortieren behilflich sein?« Fanny deutete auf den Haufen an Kleidern, Spitzenkrägen, Schleifen und Volants neben sich. »Ich glaube, ich habe keine anständige Tournüre mehr. Ob mir mein Korsett überhaupt noch passt?«, fragte sich Fanny, während sie aufstand und zum geöffneten Kleiderschrank hinüberging.

»Sag bloß, du trägst kein Korsett!«, bemerkte Belle und fischte unter dem Kleiderberg ein weinrotes Samtkleid mit weißem, spitzenverziertem Baumwollkragen heraus.

»In einer Silbermine?« Fanny sah Belle entgeistert an. »Aber du hast recht«, räumte sie kleinlaut ein, »in den letzten Monaten hab ich es mit meinem Aufzug nicht so genau genommen.« Sie zog die Tournüre aus dem Schrank, deren Drähte reichlich verbogen aussahen. »Meine Güte! Aber ich hatte auch wirklich andere Sorgen.« Sie dachte kurz an den vergangenen Winter zurück, in der sie tagtäglich die Fähre nach San Francisco genommen hatte, um Louis zu versorgen. Krankenpflege mit einem eng geschnürten Korsett! Allein beim Anblick des Blut spuckenden Louis war ihr schon die Luft weggeblieben.

»Kannst du dich erinnern, wann du dieses Kleid getragen hast?«, fragte Belle. Sie blickte versunken auf das Samtkleid und strich über den sichtbar abgenutzten Stoff.

Fanny wandte sich vom Schrank ab, ging zum Sofa zurück und nahm Belle das Kleid aus der Hand. Sie schmiegte es wie zur Anprobe an sich und überlegte.

»Passen wird es mir jedenfalls nicht mehr«, bemerkte sie, ohne auf Belles Frage einzugehen.

»Du hast es auf der Überfahrt nach Liverpool getragen, weißt du noch?«

»Ja, das weiß ich noch«, antwortete Fanny nachdenklich. »Und nicht nur da. Eigentlich hab ich es die ganze Zeit getragen – in Antwerpen und Paris. Viel Auswahl an Kleidern hatte ich ja nicht.«