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Paul Heyse

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Novelle

Paul Heyse

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-28-0

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Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Vom I­fin­ger, der in grau­er Vor­zeit mit ei­nem ge­wal­ti­gen Erd­sturz die alte Ma­ja ver­schüt­tet und den Ab­hang ge­grün­det hat, auf dem jetzt die Häu­ser und Wein­gär­ten von O­ber­mais ste­hen, geht eine tie­fe Schlucht öst­lich von Meran in das Etsch­tal hin­ab. Der Wild­bach, der sie durch­strömt, ist den größ­ten Teil des Jah­res hin­durch eine küm­mer­li­ches Was­ser, das im Hoch­som­mer zwi­schen Ge­stein und gel­bem Sand vollends ver­siegt, so­dass sein tie­fes Bett so ge­fahr­los zu be­tre­ten ist, wie dro­ben die hoch­ge­schwun­ge­nen höl­zer­nen Brücken. Wenn im Früh­ling der Schnee jäh­lings ins Tau­en kommt, füllt sich auch die Rin­ne der Naif mit ei­nem trü­ben Schwall, in dem kei­ne Fi­sche at­men mö­gen. Wei­ter ins Jahr hin­ein aber, bei star­kem Un­ge­wit­ter, Ha­gel­schlag und Or­kan, scheint sich alle Wut der Ele­men­te in die­ser ein­sa­men Schlucht zu sam­meln. Dann lö­sen sich die zä­hen Erb­mas­sen, mit de­nen das Gra­nit­ge­rip­pe des Ifin­ger um­klei­det ist, in einen dun­kel­brau­nen Schlamm, den die Quel­le der Naif mit Un­ge­stüm fort­wälzt; große Fels­blö­cke, Bäu­me und Ra­sen­stücke fol­gen dem Sturz, mit im­mer wach­sen­dem Ge­tö­se stürmt der Höl­len­brei aus der Enge ins be­wohn­te Tal hin­aus, und über eine Stun­de weit hört man den don­nern­den Fall und spürt das Be­ben der Erde. Wenn es Nachts ge­schieht, wa­chen die Bau­ern weit und breit da­von auf und hor­chen ängst­lich hin­aus. Die Naif kommt! sa­gen sie und be­ten. Die aber zu­nächst woh­nen las­sen es nicht beim Be­ten be­wen­den, stür­zen aus den Bet­ten ins Freie, trei­ben das Vieh aus den Stäl­len und la­den ihre wert­volls­te Habe auf Wa­gen, lan­ge be­vor die zähe Mas­se zum Rand der Ufer hin­auf­ge­schwol­len ist. Denn so­bald nur ein grö­ße­rer Fel­sen oder ein aus­ge­ris­se­ner Baum sich in den Weg schiebt, so staut der Schlamm und wächst als­bald zu ei­nem Ber­ge in die Höhe, hin­ter dem dann die nach­stür­zen­den Mas­sen links und rechts über­flie­ßen und Wein­pflan­zun­gen, Obst­hal­den, Häu­ser und Ge­höf­te un­wi­der­steh­lich ver­wüs­ten.

Von sol­chen Schre­cken muss­te dem ein­sa­men Man­ne, der am schöns­ten Ju­ni­mor­gen die Schlucht hin­un­ter­wan­der­te, et­was zu Ohren ge­kom­men sein. We­nigs­tens war auf sei­nem fins­te­ren al­ten Ge­sicht von dem Frie­den, der ihn um­gab, so we­nig zu ent­de­cken, als ma­che er sich, wäh­rend er in dem halb aus­ge­trock­ne­ten Bett von Stein zu Stein klet­ter­te, je­den Au­gen­blick auf einen tücki­schen Über­fall der Ele­men­te ge­fasst. Auch die Nach­ti­gal­len, die er tiefer in der Schlucht vor Ta­ge­s­an­bruch so süß hat­te schla­gen hö­ren, schie­nen sein In­ne­res nicht be­sänf­tigt zu ha­ben. Er war ganz in gro­be graue Lein­wand ge­klei­det; das tief ge­furch­te Ge­sicht, von weißem, kurz ge­scho­re­nem Haar und Bart um­starrt, be­schat­te­te ein al­ter Stroh­hut, eine klei­ne gel­be Le­der­ta­sche hat­te er um­ge­hängt, in die er dann und wann ein Mi­ne­ral oder eine Ver­stei­ne­rung steck­te, wie sie von der Naif zahl­reich zu Tage ge­spült wer­den. So heiß die Son­ne her­ab­schi­en, war ihm doch kei­ne Er­mü­dung an­zu­mer­ken. Er ging mit ei­nem stra­cken mi­li­tä­ri­schen An­stand, nur den Kopf auf die Brust ge­senkt, und stütz­te sich kaum auf den Ham­mer­stock, mit dem er hie und da an die Fel­sen schlug. Et­was Ver­stei­ner­tes, Ver­wit­ter­tes hat­ten sei­ne Züge; der Blick der ver­bli­che­nen grau­en Au­gen glänz­te wun­der­lich, gleich dem Erz, das man im Ge­stein ver­sprengt fin­det. Nir­gends stand er, um zu ru­hen, oder sich an der stil­len Schön­heit des Tals, dem pracht­vol­len Wuchs der ed­len Kas­ta­ni­en und Nuss­bäu­me zu er­freu­en, oder den Hir­ten­bu­ben nach­zu­se­hen, die ihre Zie­gen und Scha­fe zwi­schen dem üp­pi­gen Gras und Far­ren­kraut die Ab­hän­ge hin­auf wei­den lie­ßen.

Als er jetzt her­austrat, wo sich die Schlucht öff­net und man von der ho­hen Brücke über die Wip­fel fort nach Meran hin­un­ter sieht, schi­en er un­schlüs­sig, wel­chen Weg er ein­schla­gen sol­le. Da sah er zur Lin­ken, wo eine Al­lee von Maul­beer­bäu­men zu al­ter­tüm­li­chen Zin­nen­mau­ern und dem of­fe­nen Hof­tor ei­nes der vie­len Her­ren­sch­lös­ser führt, die über die­se Ab­hän­ge ver­streut sind, einen klei­nen ele­gant ge­klei­de­ten jun­gen Mann ge­ra­de­wegs sich ihm nä­hern, und un­will­kür­lich mach­te er Rechtsum und schritt, als habe er we­der Zeit noch Lust, den Kom­men­den zu er­war­ten, die ge­pflas­ter­te Stra­ße hin­un­ter, un­mu­tig zwi­schen den Zäh­nen mur­rend. Als er den An­dern hin­ter sich ru­fen hör­te, bog er ei­lig in einen Sei­ten­weg, durch den die Bau­ern eine Quel­le zur Wie­sen­wäs­se­rung ge­lei­tet hat­ten. Hier wird er mich wohl in Ruhe las­sen, brumm­te er, in­dem er mit den schwe­ren Na­gel­schu­hen mit­ten durch das hel­le Was­ser schritt. Aber er täusch­te sich. – Sie lau­fen vor mir da­von, aber es hilft Ih­nen nichts, Herr Oberst, rief der Klei­ne ihm nach. Ich ken­ne Sie ja schon und neh­me Ih­nen nichts übel. Dies­mal müs­sen Sie mich hö­ren, denn Ei­nen Men­schen muss ich ha­ben, ge­gen den ich mich aus­spre­chen kann, und soll­te ich ihm bis in die Etsch nach­lau­fen. Wis­sen Sie, von wem ich kom­me? Nun, das kön­nen Sie sich al­len­falls den­ken, da Sie mich aus dem Schloss­hof tre­ten sa­hen. Aber dass ich die­se Schwel­le zum letz­ten Mal be­schrit­ten habe, das wis­sen Sie noch nicht, und wes­halb ich mir das zu­ge­schwo­ren habe, muss ich Ih­nen jetzt sa­gen, oder ich er­sti­cke dar­an.

Es schi­en al­ler­dings Ge­fahr im Ver­zu­ge zu sein. Das run­de men­schen­freund­li­che Ge­sicht des klei­nen Herrn war über und über rot und zit­ter­te in al­len Fi­bern; er lüf­te­te den schwar­zen Hut und trock­ne­te mit ei­nem fei­nen wei­ßen Ba­tist­tuch die Stirn, ein­mal über das an­de­re seuf­zend, wäh­rend er mit den rund­li­chen, wohl­ge­pfleg­ten Händ­chen Hut und Tuch vor Auf­re­gung kaum zu hal­ten wuss­te. Da­bei merk­te er es gar nicht, dass er mit­ten im Was­ser stand, bis ihm der An­de­re – der ihn wohl um zwei Köp­fe über­rag­te – mit ei­nem kur­z­en rau­en Ton sag­te: Sie wer­den sich den Schnup­fen ho­len, Herr Graf. Auf Tanz­stie­fel sind die­se Bau­ern­we­ge nicht ein­ge­rich­tet.

Sie ha­ben Recht, Ver­ehr­tes­ter. Ge­hen wir eine Stre­cke wei­ter, bis es noch ein­sa­mer wird, dass ich Ih­nen un­ge­stört er­zäh­len kann.

Bin gar nicht be­gie­rig, gab der Alte zur Ant­wort. Die Un­ga­rin wird Ih­nen einen Korb ge­ge­ben ha­ben. Nun gut, so wis­sen Sie, wor­an Sie sind; sie hat­ten es schon längst wis­sen kön­nen. Dan­ken Sie Ihrem Schick­sal, dass Sie die Hexe los ge­wor­den sind, eh es zu spät war.

Lie­ber Freund, er­wi­der­te der Klei­ne in ei­nem stil­len, weh­mü­ti­gen Ton, Sie sind ein Men­schen­ken­ner, Sie ha­ben die ge­fähr­li­che Frau nur ein­mal und nur von Fer­ne ge­se­hen und sie gleich durch­schaut. Aber Sie soll­ten mit den Schwä­chen der Men­schen Nach­sicht ha­ben, je mehr Sie sie er­ken­nen. Die­ses Weib, das Ih­nen im­mer an­ti­pa­thisch war, hat­te eine Macht über mich –

Ich bit­te Sie, un­ter­brach ihn der Alte, ver­scho­nen Sie mich mit Ihren Ge­füh­len, von de­nen Sie mich schon mehr als hin­rei­chend un­ter­hal­ten ha­ben. Sie wis­sen, dass ich bei ge­wis­sen Ge­sprä­chen leicht die Ge­duld ver­lie­re.

Kann ich es Ih­nen ver­den­ken? rief der Klei­ne. Ist mir nicht selbst, so lang ich in die­sen Fes­seln lag, mehr als ein­mal zu Mut ge­we­sen, als müs­se ich aus der Haut fah­ren? Heu­te Hoff­nung, mor­gen die hel­le De­s­pe­ra­ti­on; heu­te ein Lamm ge­gen mich, ein sanf­tes, lenk­sa­mes, in­ni­ges Ge­schöpf, mor­gen die zün­geln­de Schlan­ge des Pa­ra­die­ses. Ich bin ein arg­lo­ser Mensch, das wis­sen Sie. Ich konn­te Ihre Ma­xi­me, im­mer das Schlimms­te zu den­ken, nie­mals ver­ste­hen. Aber so viel war denn auch mir klar ge­wor­den, dass sie ein Spiel mit mir trieb, und ich war­te­te nur auf eine herz­haf­te Stun­de, um ein für alle Mal ein Ende zu ma­chen und da­von zu lau­fen. Da kommt sie – den­ken Sie sich – ges­tern auf ih­rem schön ge­schirr­ten Maul­tier vor mei­nem Hau­se vor­bei­ge­rit­ten, ih­ren Be­dien­ten hin­ter sich, der in ei­nem Korb am Sat­tel eine große Men­ge Al­pen­ro­sen ver­wahrt. Ich sit­ze eben auf mei­ner Al­ta­ne vorm Haus, rau­che und den­ke an nichts Ar­ges. Und sie, so­bald sie mich er­blickt, Halt ge­macht, vom Tier her­un­ter, dem La­kai­en ge­winkt, dass er die Blu­men ihr nach­brin­gen soll, und nun mit dem hol­des­ten Lä­cheln die Trep­pe her­auf zu mir, dass Al­les drü­ben ans Fens­ter stürzt und ich selbst wie eine Bild­säu­le ste­he. Sie aber, schön wie eine Al­pen­fee, et­was er­hitzt vom Rei­ten, die Lo­cken halb lose un­term Hut, gibt mir mit ei­ner spitz­bü­bi­schen Ver­trau­lich­keit die Hand, nimmt Platz mir ge­gen­über, schüt­tet die Ro­sen auf mei­nen Tisch und macht mir nun halb la­chend, halb böse die zärt­lichs­ten Vor­wür­fe, dass ich sie so lan­ge ver­nach­läs­sigt hät­te. – Wer­den Sie mich aus­la­chen, wenn ich Ih­nen sage, dass ich Narr ge­nug war zu glau­ben, ich sei es ihr schon der Leu­te we­gen schul­dig, nach die­ser Sze­ne heu­te förm­lich um ihre Hand zu wer­ben? Aber Sie la­chen ja gar nicht! O, wenn ich nur Ihre Ge­duld er­mü­den und Ih­nen die gan­ze Ko­mö­die von heu­te Mor­gen, von der schmun­zeln­den Kam­mer­kat­ze an bis zu ih­rem Vet­ter, dem Baron, der plötz­lich so ganz wie be­stellt dazu kam, er­zäh­len woll­te, Sie wür­den schon la­chen, dass Ih­nen die Trä­nen in den Bart lau­fen soll­ten.

Der Alte sah mit ei­nem ver­bis­se­nen Schwei­gen vor sich nie­der, und eine Wei­le gin­gen sie durch die schö­nen stil­len Kas­ta­ni­en­schat­ten ne­ben ein­an­der hin, Je­der in sei­nen Ge­dan­ken. Der Klei­ne aber, der trotz sei­ner be­hag­li­chen Fi­gur in be­stän­di­ger Leb­haf­tig­keit sich bald links bald rechts wand­te, den Hut ab­nahm und wie­der auf­setz­te und mit dem Ta­schen­tuch von sei­nem fei­nen schwar­zen Rock je­des Stäub­chen ab­wisch­te, hielt es of­fen­bar nicht län­ger aus vor in­ne­rer Un­ru­he und sag­te:

Ja, mein Ver­ehr­ter, es ist ein Wink des Him­mels, dass ich hier Ihre Be­kannt­schaft ge­macht und mich durch Ihre schrof­fe, ab­weh­ren­de Art nicht habe ein­schüch­tern las­sen, Sie im­mer wie­der aus Ih­rer men­schen­feind­li­chen Ver­ein­sa­mung auf­zu­stö­ren. Sie sol­len mich jetzt in Ihre Zucht neh­men, mir die un­se­li­ge Emp­find­sam­keit und Gut­her­zig­keit sys­te­ma­tisch aus­trei­ben, die mich trotz so vie­ler Er­fah­run­gen im­mer von neu­em den bit­ters­ten Täu­schun­gen aus­setzt. Ich habe nun lan­ge ge­nug ge­dacht, die ideals­te An­sicht der Welt und der Ge­sell­schaft, wenn sie auch nicht die rich­tigs­te wäre, sei doch die wohl­tä­tigs­te zu un­se­rer See­len­ru­he. Nun neh­men Sie mich zum Schü­ler an in Ih­rer Kunst, das Schwar­ze im­mer vor dem Wei­ßen, in je­der Son­ne die Fle­cken, in je­dem Lä­cheln die alte Gleiß­ne­rei der Höl­le zu se­hen. Ma­chen Sie einen wet­ter­hal­ti­gen, hieb- und stich­fes­ten Men­schen­has­ser aus mir, und ich will es Ih­nen ewig dan­ken.

Der Alte gab einen Ton von sich zwi­schen Hus­ten und La­chen. Er stand einen Au­gen­blick still, sah den Klei­nen von oben bis un­ten an und sag­te dann tro­cken: Und das Lehr­geld, Herr Graf? Den­ken Sie, das sei schon be­zahlt? Die paar Trop­fen Schweiß, die Sie um eine Ko­ket­te ver­gos­sen ha­ben? Sie wis­sen nicht, was Sie re­den.

Oh, stöhn­te der An­de­re, trei­ben Sie nur Ihren Spott mit mir; das kann mich nur in mei­ner Über­zeu­gung be­stär­ken, dass ich bei den Men­schen hin­fort nichts zu su­chen habe, da selbst Sie mich nicht ver­ste­hen. Auch das wer­de ich ent­beh­ren ler­nen und in Zu­kunft mei­nen Frie­den nur da su­chen, wo er ein­zig und al­lein un­term Mon­de zu fin­den ist, und wo auch Sie ihn ge­fun­den ha­ben: in der Na­tur!

Er warf sich mit die­sen Wor­ten am Wege nie­der, auf ei­nem Gras­fleck, hin­ter dem ein klei­nes Mäu­er­chen von roh auf­ge­schich­te­ten Stei­nen einen Re­ben­gar­ten be­grenz­te. Ge­gen­über am Wege stan­den hohe Nuss­bäu­me, durch de­ren Laub man aus eine alte, in Efeu ganz ver­steck­te Schloss­mau­er sah, die einen brei­ten Schat­ten warf und die küh­le, trau­li­che Ab­ge­schie­den­heit des Or­tes noch ein­la­den­der mach­te.

Der Alte blieb vor dem Gra­fen ste­hen und sah mit ei­nem un­heim­li­chen Zug von bit­te­rem Mit­lei­den zu ihm her­nie­der, wie ein hung­ri­ger Bett­ler zu ei­nem ge­putz­ten Kin­de, das ihm klagt, es habe sein Spiel­zeug zer­bro­chen.

Frie­den? wie­der­hol­te er, Frie­den? und in der Na­tur wol­len Sie ihn su­chen? Su­chen Sie ihn, wo Sie wol­len, in Ta­ge­löh­ner-Ar­beit, im Beicht­stuhl, in der Fla­sche – nur nicht in der Na­tur. Sie müss­ten sich denn gleich zu An­fang da­hin wen­den, wo­hin ich erst ge­kom­men bin, nach­dem ich bei al­lem Le­ben­di­gen ver­ge­bens an­ge­klopft habe, zu den Stei­nen. Aber das mei­nen Sie ja gar nicht. Ihre »Na­tur«, die Sie ein­schlä­fern und über Ihre klei­nen Mi­se­ren be­täu­ben soll, ist ja nichts wei­ter als eine Opern­de­ko­ra­ti­on, ein paar Stroh­dä­cher im Grü­nen, die un­ter­ge­hen­de Son­ne im Hin­ter­grund und dazu Hir­ten­flö­ten und blö­ken­de Läm­mer und das Rau­schen ei­nes Ba­ches, in dem Sie Fo­rel­len für Ihre Ta­fel fi­schen mö­gen. Und wenn Sie mit Ku­lis­sen und Or­che­s­ter im Rei­nen sind, se­hen Sie sich doch wie­der ei­lig nach ei­ner Pri­ma­don­na um, die Ih­nen Ihren viel­be­lob­ten Frie­den, will sa­gen die Lan­ge­wei­le, ver­trei­ben möch­te. Sie sind noch in den Drei­ßi­gern, reich, ver­wöhnt, und von viel zu fet­ter Con­sti­tu­ti­on, um den Frie­den da zu su­chen, wo er al­lein zu fin­den ist, und wo ihn hei­li­ge Män­ner wirk­lich ge­fun­den ha­ben sol­len.

Das wäre?

In der Wüs­te.

In der Wüs­te? Fast möch­te ich la­chen, wenn mir sonst da­nach zu Mut wäre. Nein, Ver­ehr­tes­ter, das ist nicht Ihr Ernst. Wä­ren Sie sonst nicht längst da­hin auf­ge­bro­chen, um den Scha­kals und Ka­me­len Ihr Evan­ge­li­um vom Men­schen­hass zu pre­di­gen, statt dass Sie sich noch im­mer in die­sen leid­lich kul­ti­vier­ten Ge­gen­den auf­hal­ten?

Sie spre­chen, wie Sie’s ver­ste­hen, sag­te der Alte fins­ter. Wo ich lebe, Jahr aus, Jahr ein zwi­schen Fel­sen und Glet­schern, nur ein­mal ei­nem Senn­hir­ten die Zeit bie­tend, wenn mich hun­gert, und im Win­ter in ei­nem Holz­sta­del ein­ge­schneit, möch­te es Ih­nen Wüs­te ge­nug dün­ken. Auch bin ich in die­se Tä­ler nur hin­ab­ge­stie­gen, um zu se­hen, ob die wei­che­re Luft mir etwa die Rheu­ma­tis­men aus den Glie­dern zie­hen will, mit de­nen man dro­ben im Hoch­ge­bir­ge übel dar­an ist. Sonst hät­te mich nichts hier her­un­ter ge­lockt. Es ist mir zu voll hier, al­ler­lei ga­lo­nier­ter Men­schen­pö­bel verdirbt die Luft, auch ist man Wel­sch­land schon nä­her, als mir lieb ist, und lan­ge treib’ ich’s hier nicht mehr; nur die große Stein­samm­lung in der Naifschlucht ist al­len­falls der Mühe wert.

Der Graf hat­te nur noch zer­streut zu­ge­hört und sei­nen eig­nen Plä­nen nach­ge­son­nen. Las­sen Sie mich nur ma­chen, sag­te er jetzt. Ich wer­de mich in Lein­wand ste­cken, wie Sie, und mei­ne Tage un­ter Pflan­zen, In­sek­ten und Stei­nen hin­brin­gen, hier in die­ser pracht­vol­len Wild­nis, un­ter gu­ten, zu­frie­de­nen, ehr­li­chen Men­schen, die ihr Herz in der Hand tra­gen und als bie­de­re Nach­barn ein­an­der hel­fen. Oder wär’ es denn so un­ge­reimt, wenn ich mir einen Bau­ern­hof mit Wein­berg und Mais­feld kauf­te, ein paar hohe Kas­ta­ni­en über mei­nem Dach, im Stall schö­ne Rin­der, in mei­nem Gar­ten Ro­sen, Pfir­si­che und Man­del­bäu­me? Nur dass ich nie eine Hand mehr zu drücken brau­che, die sich mit köl­ni­schem Was­ser wäscht, und –

Ste­hen Sie auf, Graf, ste­hen Sie auf! Se­hen Sie die Tie­re denn nicht, die an Ih­nen hin­auf­krie­chen? rief der Oberst mit ei­nem has­ti­gen ver­stör­ten Blick.

Der Graf sprang auf, lach­te aber, als er sich den Rock ab­schüt­tel­te. Nun wahr­lich, sag­te er, ich dach­te, ich hät­te mich in ein Skor­pi­ons­nest ge­setzt, und es sind nur Amei­sen. Für einen Na­tur­for­scher sind Sie ängst­li­cher, als ich dach­te, mein Lie­ber.

Der Alte hat­te sich ab­ge­wandt, um die Röte zu ver­ber­gen, die sei­ne ver­wit­ter­ten Züge plötz­lich über­flog. Ich has­se sie! mur­mel­te er. Sonst bin ich so ziem­lich auf Du und Du mit Al­lem, was da kriecht und schleicht. Kom­men Sie weg von hier; es wird heiß.

In­dem er dies sag­te, schüt­tel­te er sich, als ob ihn ein fros­ti­ger Schau­der pack­te, und der Graf folg­te ihm, ach­sel­zu­ckend, da er jetzt einen schma­len Weg be­trat, der dicht an der ho­hen Schloss­mau­er un­ter Fei­gen­ge­strüpp und ein­zel­nen Weinre­ben hin­lief. Ein klei­ner Gra­ben trenn­te die Wan­de­rer von der brei­te­ren Stra­ße. Da stand der wun­der­li­che Alte plötz­lich wie­der still und sah in das kla­re, ge­räusch­lo­se Was­ser hin­ab, das trä­ge un­ter den Brom­beer­ran­ken und wil­dem Hop­fen ab­floss.

Was ha­ben Sie ent­deckt? frag­te der An­de­re.

Ein Stück Frie­den in der Na­tur, sag­te der Alte ernst­haft. Se­hen Sie dort den schwar­zen Wurm am Grun­de? Eine elen­de nack­te Schne­cke ist hin­ein­ge­fal­len, und der lau­ern­de Bursch, der Pfer­de-Igel dort, hat sie be­hän­de um­klam­mert und wühlt sich in ih­ren hilflo­sen feis­ten Rücken ein. Se­hen Sie doch, wie das ge­mar­ter­te Tier sich win­det!

Ab­scheu­lich! Ge­ben Sie mir Ihren Stock, dass ich sie aus ein­an­der brin­ge. Noch wird das Op­fer zu ret­ten sein.

Mei­nen Stock? Dass ich ein Narr wäre, ihn zu ei­nem Nar­ren­streich her­zu­lei­hen!

Herr Oberst!

Sind Sie be­lei­digt? Nach Be­lie­ben. Aber den­ken Sie erst nach, ob Sie auch ein Recht ha­ben, hier den Groß­mü­ti­gen zu spie­len auf frem­de Kos­ten. Wenn ein Erz­en­gel bei ei­ner Fleisch­hau­er­bu­de vor­bei­gin­ge und dem Metz­ger, der eben einen Och­sen schla­gen will, aus ed­ler Em­pö­rung mit sei­nem Flam­menschwert die Hand zer­schmet­ter­te, was wür­den Sie dazu sa­gen? Oder wol­len Sie es über­neh­men, alle Pfer­de-Igel in die­sen Grä­ben aus eig­nem Blut mit Früh­stück zu ver­sor­gen, da­mit Sie nur das We­ge­la­gern las­sen und lie­ber eine Ret­tungs­an­stalt für ver­un­glück­te Schne­cken stif­ten?

Er lach­te hei­ser auf, wäh­rend der An­de­re den Kopf noch ge­senkt hat­te und ins Was­ser starr­te. Ich gebe es Ih­nen zu, sag­te er klein­laut: den ewi­gen Kriegs­zu­stand Al­ler ge­gen Alle in der Na­tur kön­nen wir nicht ab­stel­len, und der Blick in das stil­le Mord­ge­wühl da un­ten – denn ich sehe jetzt noch mehr Wür­ger und Op­fer – macht ei­nem das Herz schau­dern, das einen Au­gen­blick hier aus­zu­ru­hen dach­te. Fast be­wun­de­re ich nun die Leu­te, die den Mut ha­ben, sich in die­se un­heim­li­chen Rei­che ein Le­ben lang zu ver­sen­ken. Aber die Rebe ächzt nicht, wenn man sie be­schnei­det, noch das Korn, wenn man es drischt, und die Leu­te, die Tag für Tag die zu­frie­de­ne, üp­pi­ge, stil­le Frucht um sich her­um rei­fen se­hen, müs­sen end­lich einen Frie­den ge­win­nen, von dem man in der so­ge­nann­ten großen Welt, die die klei­ne hei­ßen soll­te, nichts ahnt. Ha­ben Sie sich die Ge­sich­ter des Vol­kes in die­ser Ge­gend an­ge­se­hen? Aber nein, Sie se­hen ja weg, wenn Ih­nen ein Men­schen­ge­sicht be­geg­net.

Ich habe ein Recht dazu, sag­te der Alte dumpf. Dann ging er so rasch vor­wärts, dass der Klei­ne ihm mit Mühe fol­gen konn­te und das Ge­spräch fal­len ließ. Nicht lan­ge, so bo­gen sie um einen run­den Turm, der aus der ver­fal­le­nen Mau­er vor­sprang, und sa­hen nun, dass die hohe Schloss­rui­ne im Vier­eck auf­rag­te; denn eine neue Mau­er mit ver­fal­le­nen Fens­tern führ­te zu ei­nem drit­ten Turm, der noch üp­pi­ger vom Efeu um­klei­det war. In viel ge­teil­ten, hand­brei­ten Stäm­men hat­te er sich hin­auf­ge­zo­gen und sei­ne Klam­mern tief in die Stein­fu­gen ein­ge­drängt, im­mer dich­ter nach oben zu sich be­lau­bend, bis er das spit­ze Dach wie eine di­cke grü­ne Hau­be ganz um­wu­chert und an der einen Sei­te so­gar, ei­nem Helm­busch ähn­lich, einen bu­schi­gen frei­en Trieb hin­aus­ge­schickt hat­te. Nicht min­der reich be­deck­te er Mau­ern und Fens­ter, und hie und da sah der Bau wie eine rie­si­ge, wohl­be­schnit­te­ne Efeu­he­cke aus, in de­ren sechs Schuh di­cken Wän­den man re­gel­mä­ßi­ge vier­e­cki­ge Öff­nun­gen an­ge­bracht hät­te. Der Ort war ge­gen Wind und Son­nen­brand treff­lich ge­schützt, die Nuss­bäu­me stan­den wie Wäch­ter rings um das un­ge­heu­re Vier­eck, über­all rie­sel­ten die Was­ser von den hö­her ge­le­ge­nen Wie­sen her­ab nahe ge­nug vor­bei, um die Luft zu durch­feuch­ten. Nun erst, als die Wan­de­rer um den drit­ten Turm bo­gen, sa­hen sie ein Tor in dem öden Bau sich öff­nen, von grau­en Qua­dern über­wölbt, aber mit Bret­tern ver­schla­gen, in de­nen eine manns­ho­he Öff­nung ge­las­sen war, ohne Tür und Git­ter. Ein paar große schwar­ze Schwei­ne stürz­ten, als sie sich nä­her­ten, aus dem Turm her­aus und lie­fen grun­zend an den Stein­wall vor, mit dem ihr Re­vier un­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­