Paul Heyse
Die Blinden
Roman
Paul Heyse
Die Blinden
Roman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-40-2
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
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Ihr
Jürgen Schulze
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Am offenen Fenster, das auf den kleinen Blumengarten hinausging, stand die blinde Tochter des Dorfküsters und erquickte sich am Winde, der über ihr heißes Gesicht flog. Die zarte halbwüchsige Gestalt zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem Fenstersims. Die Sonne war schon hinab und die Nachtblumen fingen an zu duften.
Tiefer im Zimmer saß ein blinder Knabe auf einem Schemelchen an dem alten Spinett und spielte unruhige Melodien. Er mochte fünfzehn Jahr alt sein und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen. Wer ihn gehört und gesehen hätte, wie er die großen offenen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach dem Fenster neigte, hätte sein Gebrechen wohl nicht geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungestüm lag in seinen Bewegungen.
Plötzlich brach er ab, mitten in einem geistlichen Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben schien.
Du hast geseufzt, Marlene? fragte er mit umgewandtem Gesicht.
Ich nicht, Clemens. Warum sollt’ ich seufzen? Ich schrak nur zusammen, wie der Wind auf einmal so heftig hereinfuhr.
Du hast doch geseufzt. Meinst du, ich hörte es nicht, wenn ich spiele? Und ich fühl’ es auch bis hierher, wenn du zitterst.
Ja, es ist kalt geworden.
Du betrügst mich nicht. Wenn dir kalt wäre, stündest du nicht am Fenster. Ich weiß aber, warum du seufzest und zitterst. Weil der Arzt morgen kommt und uns mit Nadeln in die Augen stechen will, darum fürchtest du dich. Und er hat doch gesagt, wie bald Alles geschehen sei, und dass es nur tue wie ein Mückenstich. Warst du nicht sonst tapfer und geduldig, und wenn ich als Kind schrie, so oft mir was weh tat, hat dich meine Mutter mir nicht immer zum Muster aufgestellt, obwohl du nur ein Mädchen bist? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Mut zu besinnen, und denkst gar nicht an das Glück, das wir hernach zu hoffen haben?
Sie schüttelte dass Köpfchen und erwiderte: Wie du nur denken kannst, ich fürchtete mich vor dem kurzen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen, kindischen Gedanken, aus denen ich mich nicht herausfinde. – Zeit dem Tage schon, wo der fremde Arzt, den der Herr Baron hat kommen lassen, vom Schloss herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns dann aus dem Garten rief, seit der Stunde schon liegt was auf mir und will nicht weichen. Du warst so in Freuden, dass du nichts gewahr wurdest. Aber wie dein Vater damals zu beten anfing und Gott Dank sagte für diese Gnade, schwieg es ganz still in mir und betete nicht mit. Ich sann in mir herum, wofür ich danken sollte und begriff’s nicht.
So sprach sie mit ruhiger, gefasster Stimme. Der Knabe schlug wieder einige leise Akkorde an. Zwischen den heiser schwirrenden Tönen, wie sie diesen alten Instrumenten eigen sind, klang ferner Gesang heimkehrender Feldarbeiter, ein Gegensatz wie der eines hellen, kräftig erfüllten Lebens zu dem Traumleben dieser blinden Kinder.
Der Knabe schien es zu empfinden. Er stand rasch auf, trat an das Fenster mit sicherem Schritt – denn er kannte dies Zimmer und jedes Gerät darin – und indem er die schönen blonden Locken zurückwarf, sagte er: Du bist wunderlich, Marlene! Die Eltern und Alle im Dorfe wünschen uns Glück. Sollt’ es nun kein Glück sein? Bis mir’s verheißen würde, hab’ ich auch nicht viel danach gefragt. Wir sind blind, sagen sie. Ich verstand nie, was uns fehlen soll. Wenn Besuch zu den Eltern kam, und wir hörten, wie sie mitleidig sagten: Arme Kinder! ward ich zornig und dachte: Was haben sie uns zu bedauern? Aber dass wir anders sind als die Andern, das wußt’ ich wohl. Sie sprachen oft Dinge, die ich nicht verstand, und die doch lieblich sein müssen. Nun wir’s auch wissen sollen, lässt mich die Neugier nicht los Tag und Nacht.
Mir war’s wohl, so wie es war, sagte Marlene traurig. Ich war so fröhlich und hätte all mein Lebtag so fröhlich sein mögen. Nun kommt es wohl anders. Hast du nicht die Leute klagen hören, die Welt sei voll Not und Sorgen? Und kannten wir die Sorge?
Weil wir die Welt nicht kannten; und ich will sie kennen, auf alle Gefahr. Ich ließ mir das auch gefallen, so mit dir hinzudämmern und faul sein zu dürfen. Aber nicht immer; und ich will nichts voraus haben vor denen, die es sich sauer werden lassen. Manches Mal, wenn mein Vater uns Geschichte lehrte und von Helden und wackeren Taten erzählte, fragt’ ich ihn, ob die großen Männer auch blind gewesen. Aber wer was Rechtes getan hatte, der konnte sehen. Da hab’ ich mich oft tagelang mit Gedanken geplagt. Dann, wenn ich wieder Musik machte und gar Orgel spielen durfte, an deines Vaters Stelle, vergaß ich meinen Unmut. Wie oft aber dacht’ ich auch: Sollst du immer Orgel spielen und die tausend Schritt weit im Dorf umher gehn, und außer dem Dorf kennt dich kein Mensch und nennt dich keiner, wenn du gestorben bist? Siehst du, seit nun der Arzt im Schlosse ist, hoffe ich, dass ich noch ein ganzer Mann werden kann! Und dann gehe ich in die Welt, und jede Straße, die mir ansteht, und habe Keinem was nachzufragen.
Auch mir nicht, Clemens!
Sie sagte das ohne Klage und Vorwurf. Aber der Knabe erwiderte heftig: Höre, Marlene! Sprich nicht so Zeugs, was ich nicht leiden kann. Meinst du, ich würde dich allein zu Hause lassen und mich so fortstehlen in die Fremde? Traust du mir’s zu?
Ich weiß wohl, wie es geht. Wenn die Bursche im Dorf zur Stadt müssen oder auf Wanderschaft, da geht Keins mit, auch nicht die eigene Schwester. Und hier sogar, wenn sie noch unerwachsen sind, laufen die Knaben von den Mädchen weg, gehn in den Wald mit ihresgleichen und necken die Mädchen, wo sie ihnen begegnen. Bisher, da ließen sie dich mit mir zusammen, und wir spielten und lernten mit einander. Du warst blind wie ich; was wolltest du bei den andern Jungen? Aber wenn du sehen kannst und du wolltest bei mir im Haus sitzen, würden sie dir nachspotten, wie sie’s Jedem tun, der’s nicht mit ihnen hält. Und dann – dann gehst du gar fort auf lange Zeit, und ich hatte mich so ganz an dich gewöhnt!
Sie hatte die letzten Worte mit Mühe herausgebracht; da übermannte sie die Angst und sie schluchzte laut. Clemens zog sie fest an sich, streichelte ihr die Wangen und sagte dringend: Du sollst nicht weinen! Ich will nicht von dir gehen, nie, nie! und eh ich das täte, will ich lieber blind sein und Alles vergessen. Ich will nicht von dir, wenn dich’s weinen macht. Komm, sei ruhig, sei froh! Du darfst dich nicht erhitzen, hat der Arzt gesagt, weil es den Augen nicht gut ist. Liebe, liebe Marlene!
Er drückte sie fest in den Arm und küsste sie, was er nie zuvor getan. Draußen rief seine Mutter vom nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und fort Weinende zu einem Lehnstuhle an der Wand, ließ sie darauf niedersitzen und ging eilig hinaus.
Kurz darauf schritt ein würdiges Paar den Schlossberg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewaltige Gestalt in aller Kraft und Majestät eines Apostels, der Küster, ein schlichtgewachsener Mann von demütiger Haltung, dessen Haar schon weiß wurde. Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden, den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen, der auf die Einladung des Barons aus der Stadt herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder zu prüfen und eine Operation zu versuchen. Nun hat