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ÜBER DEN AUTOR

Max Küng wurde am 9. März 1969 in Maisprach (BL) geboren. Vater Otto: Landwirt. Mutter Erna: Hausfrau. Nach einer KV-Ausbildung bei einer Bank und einer Ausbildung zum Computerprogrammierer (Cobol II) folgt eine Anstellung als Debitorenbuchhalter bei einer Druckerei, die kurz danach Insolvenz anmeldet.

Nach diversen Jobs wird er an der Ringier Journalistenschule aufgenommen. 1998 erscheint der erste Artikel für Das Magazin. Daneben ertüftelt er als DJ Soundtracks für Theaterstücke wie etwa für Stefan Bachmanns Merlin am Theater Basel.

Es erscheinen mehrere Bücher von ihm, zuletzt im Herbst 2016 der Roman Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück.

Max Küng lebt in Zürich. Er ist verheiratet, Vater zweier Söhne und er fährt gerne Fahrrad.

ÜBER DAS BUCH

Seit annähernd zwanzig Jahren schreibt Max Küng Woche für Woche seine Kolumnen für Das Magazin, die Wochenendbeilage vier großer Schweizer Tageszeitungen. Seine Kolumnen sind fester Bestandteil eines gelungenen Wochenendes geworden.

Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die Max Küng beschäftigen. Sei es der Kauf von Winterreifen für sein Auto, sei es die glühende Begeisterung einer Tischnachbarin für Thousand-Island-Salatsoße, sei es ein Besuch in der Wohnung, in der einst Max Frischs Beziehung zu Ingeborg Bachmann in die Brüche ging. Die scheinbar banalen Dinge sind in Küngs Kosmos die wahren Sensationen.

Dieser Band versammelt die von ihm persönlich ausgewählten Lieblingskolumnen aus den letzten Jahren.

»Immer wieder denke ich mir: Der Mann mit diesen Worten ist ein Genie. Wirklich.«

»Ich danke dir für die vielen Anregungen, die du mir ins Haus und ins Hirn bringst.«

»Jede Zeile höchst lesenswert. «

»Danke, Herr Küng, dass Sie Woche für Woche schreiben und ich Woche für Woche, spätestens am Samstagabend herzhaft lachen kann.«

Zuschriften von Leserinnen und Lesern

Kein & Aber

Gebrauchsanweisung zur korrekten Handhabung des Buches Die Rettung der Dinge

Zuerst möchte ich mich herzlich für den Kauf dieses Buches bedanken. Ich verspreche Ihnen, dass ich mit meinem Anteil am Verkaufserlös keinen Blödsinn anstellen werde. Ich werde das Geld anständig und wohlüberlegt investieren. Vor allem aber hoffe ich, dass Ihnen das Buch lange Freude bereitet. Damit dem so sein wird, möchte ich Ihnen ein paar Worte zur Anleitung zum richtigen Umgang mit auf den Weg geben. Lassen Sie mich deshalb kurz erklären:

»Früher« ist ein schwieriges Wort. Kolumnisten verwenden es gerne, um damit Texte zu beginnen. Sie können davon ausgehen, dass »früher« funktioniert, denn es ist eine Art Dosenöffner zum Öffnen der Büchse der magischen Geheimnisse der Vergangenheit. Weil doch alle wissen, dass früher alles besser war, schöner, menschlicher. Früher hatte man noch kein Handy, sondern Zeit und Muße. Früher war das Leben beschaulich. Früher musste man die Haustüre nicht abschließen. Früher grüßten sich die Leute auf der Straße. Früher waren die Jugendlichen freundlich. Früher tat einem der Rücken nicht weh. Früher … ach, früher.

Früher zieht immer, denn für viele Menschen scheint das JETZT nicht wirklich zufriedenstellend – und noch schlimmer: Die Zukunft wartet unausweichlich, bedrohlich wie ein finsterer Schläger in einer dunklen Gasse. Also blickt man anstatt in das schwarze Loch namens Zukunft gerne zurück in die bunt schillernde Vergangenheit. Es ist so, wie einen Film zu sehen, den man schon einmal gesehen hat: Man weiß, was geschieht.

Früher, da fing alles an: Die erste fixe Kolumne schrieb ich für Cashual, ein Lifestyleableger der Wirtschaftszeitung Cash aus dem Hause Ringier. Nach wenigen Ausgaben wurde Cashual bereits wieder eingestellt, aber eben: Damals und dort fing alles an. Nicht viel später entstanden meine ersten Kontakte zur Redaktion von Das Magazin, und es war im Jahr 1999, als meine erste Kolumne in der Serie Enzyklopädie des Alltags erschien (sie handelte von der Schönheit der VHS-Kassette, war nostalgischer Natur … es ging also früher schon um früher …). Und am 25. März 2000 erschien die allererste Kolumne unter dem Label Küng, mit dem Titel Winds of Change, und sie handelte von der Vermutung, dass das Programm von Radio DRS 3 (heute Radio SRF 3) junge Menschen in die Drogensucht trieb. Ja, und seither schreibe ich Kolumnen für Das Magazin, Woche für Woche. Ich bin also schon ein Weilchen im Geschäft (siehe dazu auch S. 65: Liebe Hazel Brugger), und es entstanden in diesen Jahren wohl knapp tausend Kolumnen, präzise weiß ich es nicht. Natürlich könnte ich sie zählen, aber ehrlich gesagt, habe ich dazu keine Lust. Lust aber hatte ich, die besten Kolumnen auszusuchen und in dieses Buch zu packen. Es sind Texte, welche zwischen 2009 und heute erschienen sind.

Und nun sollte ich endlich dem Titel dieses Vorworts gerecht werden, mit dem Gerede von früher aufhören und erklären, wie dieses Buch zu handhaben ist.

2.

Früher war ich DJ. Es war in einem Leben, in dem die Wohnungsmiete dreistellig war, es noch keine eigenen Kinder gab und auch sonst wenig Verpflichtungen anstanden. Die Wochen bestanden aus Spaß, Party und wenig Arbeit – das Leben schien eine ins zeitlich Unbestimmte ausgedehnte Pubertät. DJ wurde ich eher aus Zufall, oder besser gesagt: Um meinem Hobby eine soziale Note zu verleihen. Mein Hobby war das Sammeln von Schallplatten. Und je schwieriger eine solche Schallplatte zu beschaffen war, desto begehrenswerter erschien sie mir. Früher konnte man sich die Ware nicht im Internet bestellen, downloaden schon gar nicht, man musste zu den Dingen hinreisen, sie in den Plattenläden in Brüssel oder Berlin aufstöbern. Ja, früher …

Am liebsten legte ich Platten auf, zu denen man nicht tanzen konnte. Western-Filmmusik. Japanische Versionen von Hair. Streicherversionen von Light My Fire. Das war nicht selten Musik, die bloß mir gefiel – was dann und wann ein Problem darstellte. Denn es ließ sich nicht vermeiden, dass man auch an Anlässen auflegte, an denen die Menschen eindeutig das Bedürfnis hatten, zu tanzen. Menschen tanzen gerne. Manchmal habe ich das Gefühl, Tanzen ist eine Art physische Version des Sich-an-früher-Erinnerns. Und wenn einen Tanzwillige erwartungsvoll bis bedrohlich anblicken, dann kann man natürlich schlecht ein Stück aus Pierre Henrys Komposition Variations pour une porte et un soupir spielen, sosehr man es auch mag. Also: Man kann schon, aber nicht gleich. Man muss die Leute zu jenem Punkt hinführen, an dem sie einem vertrauen – respektive abwarten, bis sie so betrunken sind, dass sie zu allem tanzen, eben auch zu knarzenden Türen.

Mit der tanzbaren Musik ist es nämlich so eine Sache, denn einerseits weiß man, was funktioniert, andererseits hat man gewisse Ansprüche, Standards, einen gewissen Stolz auch, nicht die simpelsten, dumpfsten, abgenudeltsten Werkzeuge zu gebrauchen.

Die 80er-Jahre funktionierten damals meistens recht gut, denn sie erinnerten an ein nicht zu fernes Früher. Es war das eigene Früher, nicht das schreckliche Früher der Eltern. Und so wie manche Songs Werkzeuge waren, um das Eis auf dem Tanzboden zu brechen, so gab es andere Platten mit anderen Funktionen.

Eine Scheibe aus den 80ern, welche ich oft spielte, war Just Can’t Get Enough von Depeche Mode aus dem musikalisch recht fruchtbaren Jahr 1981. Die Normalversion dieses Songs dauert 3 Minuten und 41 Sekunden. Das ist für einen Hitsong eine gute Länge, auf jeden Fall nicht zu kurz. Songs sind ja ähnlich wie Bücher. Es kommt auf die richtige Länge an. Zu kurz: Schlecht, denn die Leute haben das Gefühl, um etwas betrogen zu werden, nicht genug für ihr gutes Geld zu bekommen. Zu lang: Auch schlecht, denn die Leute haben Angst vor der Unbewältigbarkeit einer zu schweren Aufgabe. (Bei Büchern gilt scheinbar: Alles unter 400 Seiten ist gerade noch in Ordnung, perfekt übrigens sind 365 Seiten.)

Nun aber gab es von Just Can’t Get Enough auch eine Maxisingle-Version von knapp neun Minuten Spieldauer. Neun Minuten ist für einen Song sehr lange, mag er noch so super sein. Neun Minuten sind aber sehr praktisch für den DJ, der es in dieser Zeit auf die Toilette und zurück schaffen kann. Just Can’t Get Enough war also meine Toilettengangplatte. Jedoch verbunden mit Folgen: Ich kann diesen Song seither nicht mehr hören, ohne den Drang zu spüren, auf die Toilette zu gehen, auch wenn gar kein echtes physisches Bedürfnis danach vorhanden ist. Und so gut er auch sein mag, die Aussage seines Titels ist falsch: Meine Ohren haben ihn mindestens einmal zu oft gehört. Und so ist es mit allen Dingen, die einem lieb sind. Man muss sorgfältig und sachte mit ihnen umgehen.

Was ich damit sagen möchte: Lesen Sie dieses Kolumnenbuch nicht allzu hoch dosiert, sondern maßvoll. Lesen Sie höchstens zwei Kolumnen am Stück. Kolumnen sind nicht dazu geeignet, in großer Menge konsumiert zu werden. Und tun Sie es an einem schönen Ort.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.

Max Küng

PS: Ich bin übrigens tendenziell gegen früher. Ich bin für heute. Und noch mehr bin ich für morgen. Auch wenn früher tatsächlich alles besser gewesen ist, also: war. Manchmal lese ich eine alte Kolumne, lese Wort für Wort, Satz für Satz, lächle, und bald nässen Tränen der Rührung das Papier, den Schreibtisch, den Fußboden – und ich denke: »Früher … da konnte ich noch … so schön schreiben.« Dann folgt Pantomimisches: Zum Himmel emporgereckte Hände mit gekrümmten Fingern, Zuckungen, leises Wimmern eventuell noch.

Aber auch HEUTE wird MORGEN FRÜHER sein. So gesehen, spielt es keine große Rolle.

Kugeln kugeln

3. Januar 2009

Wir waren zwei Väter. Wir waren zwei Mütter. Wir waren zwei Kinder. Und wir alle waren gut eingepackt, als wir das kleine Haus unterhalb der großen Berge verließen und Wolken ausstießen, als wir in die Kälte gingen mit steifen Bewegungen, so als wären wir dampfbetriebene Roboter.

Bald waren wir dort und bald an der Arbeit. Wir rollten eine Kugel aus Schnee. Die Kugel wurde zu einer größeren Kugel, die mit jeder Umdrehung, ganz flugs, noch größer wurde und schwerer, und es knarzte laut, als ob die Kugel ächzte.

Das ist das Schönste am Schnee: die Geräusche. Die, die es gibt, und die, die der Schnee schluckt wie ein Schalldämpfer in gewichtiger Manier. Einst ging ich im Schnee, ein Auto in Ketten fuhr vorbei mit dumpfem, prasselndem Rasseln, und ich dachte: So etwas Schönes habe ich noch nie gehört. Bis jemand in Moonboots vorbeiknirschte, mit styroporenem Stöhnen.

Zwei Väter und zwei Kinder rollen weiße Kugeln zur Größe von Planeten. Die Mütter stehen mit verschränkten Armen im Hintergrund. Sie reden. Mütter haben viel zu reden. Die eine trampelt langsam auf der Stelle, tritt Schnee. Sie müsste diese silberfarbenen Thermo-Einlegesohlen in ihren Schuhen haben, denke ich, die, die die NASA entwickelt hat. »Keine kalte Nase dank der NASA«, denke ich, und dass man immer gerne großmäulig sagt, die Raumfahrt sei zu nichts nütze, dabei hat sie doch diese silberfarbenen Thermosohlen hervorgebracht. Das ist schon recht viel. Wir sollten dankbarer sein, dass dafür jemand zum Mond geflogen ist.

Ich musste die Jacke ausziehen. Kugeln kugeln ist ganz schön anstrengend. Wir wuchteten die eine Kugel auf die andere Kugel und obendrauf nochmals eine Kugel, in die wir eine Karotte steckten, zwei Marroni als Augen, ein Ast ließ den aus menschlicher Sicht problematisch proportionierten kalten Kerl grinsen, und vor Freude klatschten die Kinder in die behandschuhten Hände, und die Mütter nickten anerkennend mit noch immer verschränkten Armen, und die Väter waren sehr stolz. Als uns allen die Kälte in die Knie kroch, da ließen wir den Schneemann lächelnd zurück. Wir hatten ihn auf einem Kinderspielplatz gebaut, der zugedeckt war mit einer dicken Decke aus Kristallen der letzten Nacht. Wir hatten ihn vor einer Schaukel aufgebaut. Es sollte so aussehen, als schaukle der Schneemann. Es sah aber nicht so aus.

In der Nacht schneite es nur ein paar Zentimeter, und als wir am nächsten Tag den Schneemann besuchen wollten, kamen wir an unserem auf dem Parkplatz stehenden Auto vorbei. Jemand hatte etwas mit dem Finger in den Neuschnee auf der Heckscheibe geschrieben. »Stronz«, stand da.

Wir gingen weiter, und wir sahen: Vom Schneemann war nicht viel übrig geblieben. Er war nach den Regeln der Kunst massakriert worden. Verdammte Dorfjugend im Drogenwahn! Die Kinder fragten, wo denn der lustig lachende Schneemann geblieben war. Die Mütter sagten dasselbe wie die Väter: dass er weggegangen war, wohl in den Wald hinein, von wo er aber schon bald zurückkehre, doch, doch, sicher, bestimmt. Die Kinder fragten: Warum?

Ich hob die Karotte vom Boden auf, rieb den Schnee von ihr ab und steckte sie in die Tasche, so wie ein korrupter Polizist in einem mittelmäßigen Krimi einen Beweis einsackt. Eine Marroni blieb verschwunden. Die andere trat ich mit der Stiefelspitze tief in den weichen, weißen Grund.

Dann nahm ich Anlauf, und mit lautem Brüllen rannte ich auf einen nicht zu mächtigen Baum zu, rammte meine Seite in den Stamm, der von meiner Wucht kaum erzitterte, aber der Schnee fiel von den kahlen Ästen, an denen im Sommer dicke, wespenumschwärmte Birnen hängen, fiel und fiel und wollte gar nicht mehr aufhören, bis ich unter dem Weiß begraben war und verschwunden, taub, stumm und blind.

98 Wörter

10. Januar 2009

Du musst dein Leben ändern.« Ich las den Satz erneut und blickte dann aus dem Fenster des Cafés hinaus, wo auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau mit frecher Frisur eben versuchte, mit ihrem ziemlich großen Auto in eine ziemlich enge Parklücke zu kommen, und dabei von zwei rauchenden und lachenden Bauarbeitern beobachtet wurde, die sich auf ihre Schaufeln stützten. Ich war voller Bewunderung für die beiden, weil ich zuvor schon sah, dass beide rauchen konnten, ohne ihre Hände zu benutzen.

Die Zigaretten klebten zwischen ihren Lippen, als sie redeten. Ich hatte dies auch schon versucht, doch nie schaffte ich es, dass der Rauch nicht in meine Augen stieg, sie tränen ließ und ich jammernd den jämmerlichen Versuch in Coolness verrecken ließ.

Es gibt Dinge, die kann man. Und es gibt Dinge, die kann man nicht. Man findet beides besser schnell heraus und sich dann damit ab.

»Du musst dein Leben ändern.« Ich kannte den Satz. Es sind die letzten sechs eines insgesamt 98 Wörter umfassenden Gedichtes von Rilke. Aber ich hatte keine Ahnung, wer diesen Satz in mein Notizbuch geschrieben hatte. Die Schrift kam mir gänzlich unbekannt vor, so ungelenk und krakelig, wie von kranker Hand – es sah ganz so aus, als seien dies die letzten Worte von jemandem, geschrieben in einem Flugzeug, kurz bevor es nach tausend Metern im freien Fall auf der Oberfläche des Meeres aufschlägt, um dann langsam, langsam, still und zerborsten in tausend Teile Stück für Stück auf den Grund zu sinken, nochmals fünfhundert Faden tiefer. Nur: In dem Fall hätte niemand geschrieben: »Du musst dein Leben ändern«, sondern eher »oje«. Ich konnte mich nicht erinnern, diesen Satz selber geschrieben zu haben. Aber wer sonst hätte es tun sollen? Rilke selbst wohl kaum. Vor Jahren fand ich einmal ein Notizbuch. Damals arbeitete ich an einem Theater in einer anderen Stadt und führte ein anderes Leben. Ich war jung, und – wie es junge Menschen an sich haben – dumm: Ich dachte, dass das Theater etwas sein könnte, was sich zu tun lohnt. Wem das Notizbuch gehörte, wusste ich nicht. Ich fand es während einer langweiligen Probe zu Shakespeares Sturm im stillen Dunkel des Zuschauerraumes zwischen zwei gepolsterten Klappstühlen. In dem Notizbuch stieß ich im Schein meiner Taschenlampe auf einen Satz, es war der letzte vor vielen, vielen noch unbeschriebenen karierten Seiten: »Herausfinden, was ich wirklich will im Leben.« Ich musste laut auflachen. Ein junges Lachen in einem dunklen, leeren Theatersaal. Was für ein Idiot, dachte ich. Schreibt in das Buch: »Herausfinden, was ich wirklich will im Leben.« Ich lachte, damals.

»Du musst dein Leben ändern.« Die Frau mit dem dicken Auto hatte echte Mühe mit der engen Lücke und die Bauarbeiter großen Spaß an dem kleinen Spektakel. Sie klatschten Beifall. Die Frau ließ sich nicht beirren und drehte am Lenkrad hin und her, als ringe sie mit einem wilden Tier. Wenn sie so weiterrang, dann würde das Tier bald tot sein.

Sowenig ich mich daran erinnern mochte, diesen Satz geschrieben zu haben, so sehr war ich von seiner Richtigkeit überzeugt. Ja, ich musste mein Leben ändern. Ich nahm meinen Stift und schrieb auf die nächste Seite: »Wie ich mein Leben ändern könnte:« Dann legte ich den Stift wieder ab und dachte nach. Ich dachte sehr lange nach. Ein Psychiater sagte einmal, dass man Dinge 800-mal anders machen muss, bevor man sie wirklich anders macht – sein Verhalten zu ändern, ist ein Unterfangen, ähnlich schwierig, wie einen Bierdeckel zu essen, ohne dabei mit Flüssigkeit nachzuspülen.

Als ich nochmals aus dem Fenster blickte, da waren die Bauarbeiter wieder an der Arbeit, und der Wagen stand geparkt in der Lücke, leer und verschlossen. Ich griff in meine Manteltasche, zählte Münzen ab, legte sie auf den Tisch, stand auf und ging.

14. Januar 2017

Liebe Langeweile

Du bist so altmodisch wie ein Gehstock, eine Pfeife, ein Monokel. Niemand mag dich. Niemand will dich. Niemand braucht dich. Du bist so was von gestern, das totale Auslaufmodell. Denn du bist eine Nervensäge, weil: Du machst das Vergehen der Zeit spürbar. Deshalb bist du so unerträglich, so unheimlich, so unaushaltbar: Wir fühlen, dass da irgendwo am Ende der Zeit unser eigenes Ende wartet. Es ist, als erführen wir dank dir einen mit Verwesung parfümierten hauchigen Duft einer Wahrheit, von der wir lieber nichts wissen möchten. Horror: Du zwingst uns zum Nachdenken über unser Leben. Und deshalb suchen wir immerzu einen Zeitvertreib, um dich aus der Welt zu schaffen. Was für ein Wort: Zeitvertreib. Als gälte es, die Zeit zu vertreiben wie einen räudigen Hund.

Die letzten zehn Jahre waren echt hart für dich, liebe Langeweile, denn das iPhone und andere Gerätschaften gingen dir an den Kragen, das Eingemachte, die Eier. Es steht schlecht um dich. Du bist vom Aussterben bedroht. Ja, du gehörst schleunigst auf die Rote Liste der gefährdeten Arten.

Ich muss gestehen, liebe Langeweile, auch ich habe dich in letzter Zeit schlecht behandelt, vernachlässigt und mit allen Mitteln bekämpft, ziemlich erfolgreich gar, und es wurde immer schlimmer, vor allem wegen eines Spiels namens Carcassonne. Kennst du es? Eigentlich ist Carcassonne ein klassisches Legespiel für zwei bis fünf Spieler, welches in einer großen Kartonschachtel daherkommt und für das man idealerweise einen großen Tisch als Spielfläche verwenden sollte. Es ist ein sehr erfolgreiches Spiel übrigens, mehrfach prämiert, millionenfach verkauft. Ich muss gestehen: Ich kannte es nicht. Aber du weißt, wie das ist: Plötzlich hat man Kinder, und Kinder schleppen so manches mit ins Haus, dreckige Stiefel, ungekämmte Worte, Grippeviren in all ihren fantastischen Erscheinungsformen oder – ganz schlimm – Freizeit. Und mit Letzterem einhergehend kommen dann auch Dinge wie eben Carcassonne. Nun, es dauerte bloß Minuten, und schon war ich süchtig danach, denn es kommt meiner natürlichen Veranlagung sehr entgegen: Man kann es auch spielen, ohne viel nachzudenken.

Das Problem jedoch: Um es zu spielen, benötigt man eben andere Menschen und einen Tisch. Schwierig, diesen in den Bus zu bekommen. Oder in den Zug. Oder durch die Drehtür ins Café. Blöd, immer so ein Möbel mit sich rumzuschleppen und Freunde obendrein. Also habe ich mir halt einfach die App auf mein iPhone runtergeladen. Tja. Und seither hocke ich, wo auch immer, mit geneigtem Haupt da. Man könnte meinen, ich bete, in Demut versunken, aber ich bete nicht, sondern baue Burgen, lege Wege, leite Flüsse dorthin, wo sie mein künstlicher Gegner nicht will, besetze Gebiete, gewinne, verliere, beginne neu. Als ich gestern ins Bett wollte, was sagte ich zu mir selbst? »Hey, bloß noch eine Partie.« Heute Morgen, die Augenlider noch klebrig versiegelt von der Schwere der Nacht? »Nur eine vor dem Kaffee.« Als ich den Schlüssel ins Bürotürschloss einführte? »Eine Partie, dann gehts mit der Arbeit gleich los.«

Ja, liebe Langeweile, du bist mir echt abhandengekommen. Und das stimmt mich traurig, denn ich vermisse dich. Ja. Sehr sogar. Weil: Ich brauche dich. Du bist wichtig. In dir werden die Ideen geboren. »Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen.« Walter Benjamin hat das gesagt, oder? Das wäre ein super Spruch für deinen Grabstein. Aber so weit ist es nun doch noch nicht ganz, oder? Nicht, wenn es nach mir geht. Ich will dich zurück.

Ich weiß: Um dich auszuhalten, braucht es eine mächtige Portion Zuversicht, Mut und Nervenstärke. All dies möchte ich aufbringen, denn du bist meine liebe Freundin, der ich viel zu verdanken habe. Und deshalb werde ich deine Feindin killen, die Carcassonne-App von meinem iPhone löschen. Und dann: Langeweile! Ich freue mich auf dich. Vorher aber ein einziges Spielchen noch. Zum Abschied. Ganz sicher nur eines! Versprochen. Jetzt. Schnell, schnell.

Viele Grüße! Max

PS: Song zum Thema (passt zwar nur bedingt, dafür ist der Videoclip von Sofia Coppola schön langweilig): I Just Don’t Know What To Do With Myself in der Version von The White Stripes, Album Elephant, 2003.

Haare (nicht das Musical)

16. Januar 2010

Sie sagte: »Es war ärgerlich. Der Abfluss meines Lavabos im Bad war verstopft. Lange benutzte ich einfach das andere Lavabo. Ich hab ja zwei Becken in meinem Bad, aber irgendwann musste ich das Problem angehen. Zuerst versuchte ich mit allem, was sich anbot, um den Abfluss wieder freizubekommen. Ich nahm chinesische Essstäbchen und stocherte wie wild, aber es funktionierte nicht. Dann rammte ich eine Fonduegabel rein, als wolle ich jemanden erstechen, als wäre ich Sharon Stone in Basic Instinct. Dann griff ich zum Staubsauger und wollte das Dreckloch aussaugen. Doch nichts half. Also ging ich in die Drogerie, um zu holen, was mir helfen würde. Die Frau dort war sehr nett. Sie lächelte. Ich sagte ihr, ich hätte eine Verstopfung, sie sagte: ›Kein Problem, das kommt vor.‹ Ich sagte, es sei wirklich eine hartnäckige Verstopfung, sie dauere nun schon eine Weile, und die Sache sei mittlerweile etwas unangenehm, ja gruselig gar. Das Loch sei so richtig verstopft. Ich hätte es mit allem versucht, mit dem Finger, mit Essstäbchen, mit der Fonduegabel, mit dem Staubsauger gar, aber nichts habe geholfen.

›Wissen Sie‹, sagte ich mit gesenkter Stimme, ›als ich letzthin Freunde zu Besuch hatte, da beklagten die sich.‹ Es rieche nicht gut, sagten sie, es stinke. ›Ich will ja nicht meine Freunde wegen einer Verstopfung verlieren! Und es hat Haare drin. Haare! Gott weiß, wessen Haare dies wohl sind. Die von Krishna wohl nicht.‹ Nun ja, das mit Krishna sagte ich nicht wirklich. Aber ich sagte, dass sie mir helfen müsse, unbedingt. Diese Verstopfung raube mir den letzten Nerv.

Irgendwann lächelte die Frau ein bisschen weniger, und irgendwann lächelte sie gar nicht mehr. Ihr Gesicht war wie eine Blüte im Zeitraffer in einer dieser TV-Dokumentationen, die am frühen Nachmittag im Fernsehen laufen, die Blumenpracht der Savanne oder so.

Ich sagte ihr noch, ich wolle aber um Himmels willen nichts Chemisches, denn ich sei für natürliche Lösungen. Ich wolle nicht, dass die Fische zu Schaden kämen. ›Vielleicht‹, sagte ich, ›gibt es etwas Mechanisches? So was wie einen Stöpsel?‹ Die Frau nickte und verschwand hinter einem Vorhang. Ich schaute mich um und sah ihren Kollegen im weißen Kittel, der mich doch relativ komisch anstarrte. Sein Mund stand offen. Ich schwöre, sein verdammter Mund stand offen, und der Mann starrte mich an, während er so tat, als tippe er etwas in einen Computer.

Die Frau kam mit einer ziemlich großen Schachtel zurück. Sie öffnete sie, packte Dinge aus und fing an zu erklären. Zuerst dachte ich, es sei so etwas wie ein sehr komischer iPod, was sie da vor mir auslegte. Aber es war kein komischer iPod. Es war ein Einlauf. Ein Klistier. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte, hörte nichts, bloß das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Ich schaute zu Boden und ging einfach. Und ich wusste dann zwei Dinge sehr genau: erstens den Unterschied zwischen einer Drogerie und einer Apotheke, dem bunten Stern und dem grünen Kreuz; und zweitens, dass ich mich in dieser Apotheke nie mehr werde blicken lassen können.« Dies erzählte sie.

Dann schwieg sie.

Ich sagte nichts, aber ich dachte: einen Orden für den, der einst alle Missverständnisse erfand. Einen Orden und einen Toast.

Schöne Wörter, die mit »A« beginnen

17. Januar 2009

Abdrosselung; abbimsen; Accrochage; Achsschenkelbolzen; Achtflach; Agar-Agar; Aküsprache; Alles-inklusive-Urlaub; Alpingendarmerie; Ameisenhaufen; Analysand; Andergeschwisterkind; Anlageberater; Anranzer; Antifouling; Antimachiavell; Apostelkuchen; Après-Ski-Kleidung; Äquatorialguineerin; Äquilibrist; Are; Armesünderglocke; Arschbombe; Aspik; aufgagen; Ausdehnungskoeffizient; ausixen; Auspuffflamme; Autocoat; Axolotl; azorisch.

In einer besseren Gegend

17. Januar 2009

Stronzo.« Genau. Ich würde »Stronzo« in den Staub der Heckscheibe schreiben, stünde der Wagen vor der Villa am Hügel, dort wo er letztes Mal stand mit laufendem Motor, und ich davor, das Herz schnell schlagend und mit rotem Kopf. Nun ja, ich wusste nicht, ob mein Kopf rot war. Es fühlte sich jedenfalls so an, an jenem Tag, in jener Minute, dort.

Es war eine Weile her, aber es fiel mir wieder ein, als ich an der Straße vorbeispazierte, deren Namen ich nicht kannte und an der renovierte Villen stehen, in denen niemand mehr lebt. Es hängen Messingtafeln an den Eingängen, graviert mit langen Namen, die nicht Menschen gehören, sondern Firmen, Gesellschaften, Räuberbanden. Ich ging damals die steile, enge Straße hoch, die Gravität zog an meinen Knochen.

Ein Wagen schoss in meinem Rücken heran, er kam aus dem Nichts, fuhr so dicht an mir vorbei, dass mir flau wurde im Magen und mein Mantelsaum flatterte. Das Auto bremste brüsk und hielt vor einer der Villen am Hügel. Ein dicker Mann kletterte aus dem hohen eckigen Geländewagen, ohne den Motor abzustellen, öffnete den Kofferraum und verschwand zur Hälfte darin. Als ich bei ihm war, schlug mein Puls schnell, hoch beschleunigt vom Schreck, der mir in die Knochen fuhr.

»Entschuldigen Sie«, rief ich. Wie gesagt: Ich wusste nicht, ob mein Gesicht rot war. Sein Gesicht war rot, und es war fett, und mittendrin klebte ein Schnauzer unter einer dicken, grobporigen Nase, die ihm wie eine überreife insektenzerfressene Birne im Gesicht hing. »Was?«, fragte er. »Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt«, sagte ich, »aber Sie sind mir eben fast über die Füße gefahren.« Der Mann schaute mich einen Moment an. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte erneut: »Was?« Die Kombination von Mensch und Maschine bringt zuweilen prächtige Exemplare der Widerlichkeit hervor.

Ich sagte, in Ermangelung einer guten Antwort auf seine kurze Frage, was ich bereits gesagt hatte: »Sie sind mir eben fast über die Füße gefahren.« Der Mann erwiderte: »Haben Sie so große Füße?«

Es fiel mir nichts ein, was ich darauf hätte sagen können. Er wendete seine kurzen Arme wieder dem Inneren des Hinterteils seines Wagens zu. Ich blieb noch kurz stehen, dann ging ich weiter, enttäuscht von mir selbst, dass mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können – ihm aber schon.

Man hat nie parat, was man parat haben sollte. Schlagfertigkeit sollte ein Schulfach sein. Ich würde sofort in den Buchladen gehen und Das große Buch der richtigen Worte zur richtigen Zeit kaufen. Ich würde einen Schlagfertig-in-12-Tagen-Intensivkurs belegen.

Später würden mir Antworten einfallen. Eine fiel mir ein, als ich an einem Schuhgeschäft vorbeispazierte, in dem ich einst Schuhe kaufte, die mir zwei Nummern zu klein waren. Ich hätte sagen sollen: »Ja. Ich habe große Füße. Und einer von den beiden steckt bald in Ihrem Hinterteil.« Aber damals fiel mir das nicht ein.

Ich ging also zu jener Villa. Es stand kein Wagen davor, der auf die Beschreibung des Gefährtes der Erinnerung von Häuptling Kraternase gepasst hätte. Ich schaute an dem Haus hoch. Es sah wunderschön aus. Dann holte ich einen Zettel aus meiner Tasche, einen billigen Kugelschreiber, auf dem verschnörkelt der Name eines mittelmäßigen Hotels steht, schrieb auf den Zettel in wackeliger Schrift »STRONZO!«, suchte mir den Briefkasten mit dem längsten Firmennamenwurm drauf und warf den Zettel in den Schlitz.

Mein Lachen war noch zu hören, als ich bereits um drei Ecken verschwunden war.

Lady Chatterleys Ledersattelriemen

23. Januar 2010

Frauen, so sagt man, sind klüger als Männer. Sie können besser Auto fahren, Gefühle zeigen, Geld verwalten, Kopfrechnen. Sie haben mehr Selbstvertrauen und sind multitaskingfähiger. Und sie verfügen über einen weitaus ausgeprägteren Geschmacks- und Geruchssinn, verglichen mit den Frauen, sind wir Männer auf diesem Gebiet grunzende Tiere. So denkt auch ein befreundeter Architekt, der nicht nur gerne sehr hohe Häuser baut, sondern auch ein feuriger und fanatischer Bordeaux-Liebhaber ist, der über einen bombig bestückten Weinkeller verfügt. Er ist tief überzeugt von der totalen weiblichen Charakterisierungs-Überlegenheit. Das wusste ich, als wir ihn in Basel besuchten, und weil ich dies wusste, büffelte ich noch etwas Vokabular, um ausdrücken zu können, was ich später empfinden würde: »Ligusterhecke« prägte ich mir ein, und »Bienenwachs« und »großer Atem«. Tief würde ich meine Nase in das weite Glas tauchen und dann verkünden: »Ah, Lebkuchen, Datteln, ungeheuer maskulin und fleischig, aber auch mit einem Hauch von Lady Chatterleys Ledersattelriemen.«

Dekantiert warteten auf dem Sideboard des Architekten nebst Weinen zur Vor- und zur Nachspeise zwei Flaschen für den Hauptgang. Es waren zwei unterschiedliche Jahrgänge aus dem Hause Château Cheval Blanc. Ich verzog mich gleich auf die Toilette, zückte mein iPhone und ging online, um mir Informationen zu beschaffen. »Der Wein von Cheval Blanc wird als einer der exotischsten und zugleich profundesten Bordeaux-Weine angesehen. Er ist gekennzeichnet von einer eleganten Zurückhaltung, bei voller Präsenz aller Elemente hervorragenden Rotweines, Fruchtaromen, Tannine, Textur, langer Nachhall, Ausgewogenheit.« Das las ich, und ich merkte es mir. Dann las ich leider auch: Der Cheval Blanc kostet locker tausend Schweizer Franken pro Flasche. Schweiß trat auf meine Stirn.

Wir aßen. Wir tranken. Und dann gelangten wir zur ersten Flasche Cheval Blanc, von dessen verschnörkelter Schrift auf dem Etikett mir schon schwindlig wurde. Dann zur zweiten. Der Gastgeber schenkte ein und fragte meine Frau direkt: »Und was findest du? Wie verhält sich nun der 1982er im Vergleich zum 1990er?« Ich hüstelte, um das Geräusch zu übertönen, das aus dem Kopf meiner Frau zu kommen schien. Es klang wie das Scheppern einer kaputten Computerharddisk. Sie dachte nach. Sie nahm nochmals einen Schluck, schloss die Augen, verschob die Flüssigkeit in ihrem Mund wie Zahnspülwasser. Der Gastgeber schaute neugierig. Die Ohren am Tisch wurden größer und größer. Dann setzte meine Frau an, etwas zu sagen, und es klang eher wie eine Frage denn wie eine Antwort. Sie sagte: »Ähm … er ist … äh … weniger sauer?«

Als wir nach Hause fuhren, da wusste ich, dass wir nie wieder von des Architekten Bordeaux in Basel trinken würden. Und so war es auch.

Es gibt eine Theorie. Diese Theorie besagt, dass Frauen gar nicht besser schmecken und riechen als die Männer, sondern bloß besser verbalisieren können, was sie schmecken oder riechen. Ihnen fallen die Wörter leichter und schneller ein. Aber auch diese Theorie halte ich für ganz und gar falsch. Und ich glaube, behaupten zu dürfen, dass ich weiß, wovon ich spreche.

Das hätte eine super Kolumne werden können

31. Januar 2015

Das Ritual des Zähneputzens ist eine langweilige Angelegenheit, eine öde Pflicht. Aber wie es stumpfsinnigen Dingen oft eigen ist: Man kann dabei sehr gut nachdenken. Weil wir nichts denken müssen, denkt es sich so gut, wie von allein und nicht zu viel; und so ging es mir auch kürzlich.

Während die feinen Borsten am Kopf der Schallzahnbürste mit 42000 Bewegungen pro Minute über die archaische Landschaft meines Gebisses gepeitscht wurden und die kleinsten Überbleibsel einer Pizza Fantasia aus den Schründen, Spalten und auch jener tiefen Senke fegten, wo einst der Zahn stand, der die Wurzelbehandlung nicht überlebt hat, da fiel mir etwas ein. Ein Gedanke, ich weiß nicht, woher er kam, aus welcher Richtung, er war einfach plötzlich da, aus dem Nichts, so wie man beim Wandern durch einen Wald auf eine Lichtung tritt und nichts erwartet, und plötzlich steht dort, den Kopf hebend, einen anblickend: eine Wildsau.

Diesem Gedanken folgte – wie ein Frischling der Wildsaumutter – ein zweiter, nämlich: »Dieser Gedanke, den ich eben hatte, der war großartig. Der Gedanke ist eine grandiose Idee für eine Kolumne! Darauf folgender Ruhm und Reichtum nicht ausgeschlossen.« Wie immer, wenn man großartige Gedanken hat, werden Glücksgefühle ausgeschüttet. Die sonst eher wenig motivierten Arbeiter im chemischen Betrieb in meinem Gehirn kippten dann auch wie verrückt kübelweise rosarote Farbe in die Nervenbahnen.

Als ich die Zähne fertig geputzt hatte, ging ich, von diesem Glücksgefühl angefeuert, hastig in die Küche, setzte mich an den Küchentisch, schlug mein Notizbuch auf, schraubte die Kappe vom Kaweco-Sport-Füller und wollte die Idee niederschreiben. Aber: Da war keine Idee mehr. Die harte Feder aus Stahl lag mit ihrer Spitze schon auf dem fein karierten Papier, die Tinte floss heraus, das Papier sog sie begierig auf, aber die Hand ruhte, denn: Es gab nichts zu schreiben. Die Idee, die geniale, gloriose, grandiose Idee: Sie war verschwunden. Nichts davon war noch da, bloß ein immer größer werdender Tintenfleck in meinem Notizbuch und die Erinnerung daran, dass da etwas gewesen war. Ein Echo des glücklichen Gefühls, das ich gespürt hatte, als mir der Gedanke gekommen war. Ganz so, wie die Wärme eines menschlichen Körpers in einem Bett noch vorhanden ist, aus dem er eben geschlüpft ist, morgens, wenn der Mensch schon im Bad unter der Dusche steht.

Dabei wäre es eine super Kolumne geworden. Da war ich mir sicher. Ich schüttelte den Kopf und ein paar andere Körperteile, in der Hoffnung, die Idee habe sich irgendwo verhakelt, sei irgendwo stecken geblieben, so wie die Kugel eines Flipperkastens hinter einer Rampe. Ich dachte, die Sache brauche bloß einen kleinen Schubser, aber: Tilt – sie war verloren, weg.

Und ich frage mich: Wohin gehen die Gedanken und Ideen, die man vergisst? Kommen sie in ein »Land der vergessenen Gedanken« und hocken dann dort in einer Bar und blasen Trübsal? Bestellen sich noch einen Whisky, und der eine vergessene Gedanke sagt zum anderen: »Was hätten wir leisten können, wären wir nicht vergessen gegangen? Wir hätten die Welt retten können! Hätte der Idiot mich doch etwas schneller notiert.« Und der andere sagt: »Halt die Klappe.«

Oder warten sie auf einen neuen Einsatz? Warten sie darauf, dass aus einem Lautsprecher eine Stimme ertönt: »Gedanke 2492 bitte zur Einsatzzentrale! Gedanke 2492 bitte sofort zur Einsatzzentrale!«

Ich klappte das Notizbuch zu, ging schlafen, träumte nichts – und am nächsten Tag verlor ich keinen Gedanken mehr an den verlorengegangenen Gedanken.

Jazzy Classic Zen

2. Februar 2013

Der aktuelle Film der Regisseurin Kathryn Bigelow ist ziemlich verstörend. Der erste Teil von Zero Dark Thirty ist geprägt von der naturalistischen Darstellung der Folterung eines Mannes namens Ammar durch einen CIA-Agenten namens Dan. Nebst Fesselungen und Dauerbeschallung mittels Heavy Metal kommt vor allem die Methode namens Waterboarding großzügig zum Einsatz, das simulierte Ertränken eines Menschen, für das es gar nicht viel braucht, bloß ein paar starke Arme, ein Tuch für über den Kopf und einen Eimer Wasser. Als ich einem Freund davon erzählte, fragte er: »Wer hats erfunden?« Ich wusste es nicht. »Waterboarding ist eine französische Spezialität«, sagte er, »die haben das im Algerienkrieg im großen Stil praktiziert. Deswegen kommen auch in zwei Filmen von Jean-Luc Godard Waterboarding-Szenen vor, 1963 in Le Petit Soldat und 1965 in Pierrot le Fou.« »Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Die Franzosen haben doch das Liebemachen erfunden, Autos mit Luftfederung und den Croque-Monsieur! Außerdem: Wenn die Franzosen Waterboarding erfunden hätten, dann hieße es heute doch ›torture par l’eau‹. Die Franzosen hassen doch englische Begriffe. Allerdings klingt ›torture par l’eau‹ sehr nach ›Wasserschildkröte‹, was zu furchtbaren Verwechslungen führen könnte, vor allem in chinesischen Restaurants.«

Später, im Büro, kroch ich in meinen Computer und fand heraus, dass ich recht hatte: Auch die Spanier setzten schon Waterboarding ein, während der Inquisition und als Exportschlager in ihren Kolonien in Südostasien.

8. Symphonie in C-DurAuf der Suche nach der verlorenen Zeit

Bei »Classic« von Alcatel-Lucent aber, da schnellt meine Hand Roger-Federer-mäßig hervor, zack!, schon ist der Hörer am Ohr, und ich höre mich bellen: »Küng. Beschwerdeabteilung Redaktion Das Magazin, Ihr Anruf ist uns wichtig! Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Franzosen also mögen zwar das Waterboarding nicht erfunden haben – dafür haben sie uns »Classic« geschenkt: heute bereits ein Klassiker der Weißen Folter.