Wyatt Earp – 169 – Kampf am Toten Paß

Wyatt Earp
– 169–

Kampf am Toten Paß

William Mark

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-835-3

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Nach der schweren Schußverletzung, die jener Mann im Gunfight gegen den berühmten Dodger Marshal Wyatt Earp davongetragen hatte, war er nicht etwa umgefallen, ja nicht einmal in die Knie gegangen.

Es ist nachher sehr viel über diesen Kampf und über diesen Mann gesagt und auch geschrieben worden. In einem dieser Berichte hieß es wörtlich: »Das schwere Geschoß aus dem fünf­undvierziger Buntline Special Colt des Gesetzesmannes traf den Schädel des Schießers und zog eine blutige Furche quer über die linke Wange. Aber der Kopf des Getroffenen rührte sich nicht einmal.« Dem sei Wyatt Earps eigene Aussage hinzugefügt: »Er hat sich tatsächlich nicht gerührt.«

Er war kein sonderlich großer Mann. Er hatte ein hageres gipsartiges Gesicht, in dem zwei dunkle stechende Augen standen, eine spitze Nase und ein scharfer, strichdünner Mund. Er trug einen grauen Anzug, einen grauen Hut und ein graues Kattunhemd, zu dem er eine grünschillernde Samtschleife umgebunden hatte. Seine hochhackigen Stiefeletten waren schwarz und sporenbewehrt. Kriegerisch wirkte der breite Kreuzgurt, den er über seiner Jacke trug, und in jedem der Halfter steckte ein schwerer vierundvierziger Revolver.

Dieser Mann war Bellantine, Hanc Bellantine kam aus Iowa, aus einem Vorort der Stadt Des Moines. Das Leben, das an diesem Frühjahrstag des Jahres 1885 hinter ihm lag, als er in der staubigen Nebraskastadt Prentice dem Marshal Earp mit dem Revolver gegenüberstand, ist düsterer als die Novemberwolken über dem Himmel dieses Landes je sein können.

Nachdem ihn das Geschoß des Marshals so hart abgewiesen hatte, starrte er Wyatt Earp verständnislos an. Wie große dunkle Glaskugeln standen stechende Augen in seinem Gesicht, das jetzt noch kalkiger geworden war.

Endlich nach Sekunden griff er mit der Linken nach einer der Patronen im Gurt, zog sie aus der Schlaufe und schob sie in die leergeschossene Kammer seines Revolvers. Mit einem harten Ruck stieß er die Waffe in den Lederschuh zurück. Dann nahm er mit der Rechten ein weißes Tuch aus seiner Reverstasche und preßte es auf das blutende Gesicht.

Immer noch haftete ein starrer Blick auf der hohen Gestalt des Missouriers, der genau auf der Straßenmitte stand und den rauchenden Revolver noch in der linken Faust hielt.

Urplötzlich, mit einem Ruck, wandte sich Hanc Bellantine um und ging mit dem ihm so typischen hölzernen Schritt an der City Hall vorbei davon.

Der Marshal blickte hinter ihm her. Er hatte nicht das Gefühl, daß der Kampf schon zu Ende wäre.

Und er war es auch noch nicht. Allerdings sollte die zweite Runde erst viel später beginnen.

Bellantine war zwischen einer Häuserenge verschwunden. Er ging über einen leeren Hof. Seine Füße wurden immer schwerer. Plötzlich stolperte er über einen Stein, und er musste sich mit der Rechten an einer Hauswand stützen. Aber der Schießer aus Iowa hatte Nerven wie Schiffstaue. Er griff in eine Pferdetränke und spritzte sich etwas Wasser in das Gesicht.

Da der Gunfight alle Anwohner in die Vorderräume ihrer Häuser gezogen hatte, wo sie einen Blick auf die Mainstreet hatten, war der schmale Weg zwischen den Höfen völlig leer. Ungesehen konnte Bellantine bis zur nächsten Quergasse kommen. Schräg gegenüber sah er ein schmalbrüstiges Haus und darauf hielt er zu.

Die Tür stand zwar offen, aber alles war leer.

McGinnis hatte sich den Gunfight des Marshals Earp gegen Hanc Bellantine ebensowenig wie alle anderen in der Stadt entgehen lassen wollen. Joel McGinni hatte dazu einen Freund aufgesucht, der ein Haus an der Mainstreet hatte.

Bellantine fand in einem Küchenschrank eine halbvolle Whiskyflasche, goß sich ein halbes Glas voll und trank es in langsamen Schlucken aus.

Dann goß er sich noch etwas ein und kippte die Flüssigkeit aufs Taschentuch, um es sich auf die Wunde zu pressen.

Jeder andere hätte unter dem beißenden Schmerz zumindest laut aufgestöhnt. Nicht so Hanc Bellantine. Er verzog nicht einmal sein Gesicht.

Es war sonderbar, daß ihn niemand sah, als er die Mainstreet überquerte und drüben in der Verlängerung der Nebengasse verschwand. Wieder passierte er einen Weg zwischen den Höfen und kam bis hinter das Haus der Näherin Jessica Flanders. Da blieb er stehen und lugte durch den Zaun in den Hof.

Da hier alles still war, öffnete er die Pforte und betrat den Hof.

Auf dem Weg zu der kleinen Pforte in der Mauer zum Nachbarhof sah ihn die Frau.

Auch die hübsche Jessica Flanders hatte den grausigen Revolverkampf auf der Mainstreet mit angesehen. Sie war zurückgetaumelt und hatte sich steif vor Schreck gegen die Flurwand gelehnt. Minutenlang hatte sie da gestanden, ohne sich rühren zu können.

Als sie dann nach einer Weile das leise Knarren der Hofpforte hörte, eilte sie durch den Korridor an die Hoftür und blickte hinaus. Zu ihrer Verblüffung sah sie den Revolvermann auf den Nachbarhof zugehen.

Bellantine stieß die kleine Pforte auf, die in den Hof des schottischen Traders McCeeth führte, blieb wieder einen Augenblick stehen und blickte auf die Rückfront des Hauses.

Jessica Flanders war ihm gefolgt. Sie sah, wie er dann weiterging auf den nächsten Hof zu, zu dem die Pforte jedoch verschlossen war.

Die Näherin sah, wie Bellantine ein Messer aus dem Gurt nahm und das primitive Schloß mit ein paar geschickten Griffen sprengte.

Dann riß er die Pforte auf und blickte in den weiten Mietstallhof.

Dort war niemand zu sehen. Die Leute waren alle nebenan im Store des McCeeth.

Bellantine wußte ja nicht, daß der schottische Trader, der eine geheime Schenke hatte, von Wyatt Earp und Doc Holliday soeben wegen zweifachen Mordes festgenommen worden war. Der Marshal hatte den Trader ins Sheriffs Office gebracht.

Bellantine fixierte das gegenüberliegende Stalltor. Dann gab er sich einen Ruck und überquerte mit seinem staksigen, etwas schleppendem Schritt den staubigen Hof, öffnete das Stalltor und verschwand dahinter.

Jessica Flanders lehnte an der Pforte des Traderhofes und wartete.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann erschien der Schießer wieder. Zur Bestürzung Jessicas zog er den schwarzen Hengst Doc Hollidays hinter sich her. Das Tier war aufgesattelt.

Bellantine ließ es allein stehen und ging in den Stall zurück. Gleich darauf kam er mit dem rotbraunen Rauchfuchs des Marshals heraus, der ebenfalls aufgesattelt war. Er koppelte die Zügelleinen der beiden Tiere miteinander und führte sie dann ohne Hast zur Rückfront des Mietstalls, öffnete das kleine Tor, das auf die rückseitige Parallelgasse führte, und verschwand mit den Pferden.

Jessica Flanders hatte ihre kleinen weißen Hände um das schmiedeeiserne Gitter der Pforte gekrampft. Dann riß sie sich los, rannte durch die Höfe an die Pforte und sah von dort in der Gasse den Mann auf Hollidays Rappen davonreiten; Wyatt Earps Rauchfuchs trabte an der Leine nebenher.

Mit brennenden Augen blickte die junge Frau hinter dem Manne her. Dann grub sich plötzlich ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der die hübsche Näherin glaubte, den gutgekleideten Mann aus Iowa lieben zu können. Aber bald hatte sie eingesehen, daß das ein Irrtum war. Das Leben dieses Hanc Bellantine gehörte dem Revolver, seine Ehre war sehr zweifelhaft, und er hatte sich nicht gescheut, gegen den Marshal Earp anzutreten, gegen einen berühmten Mann des Gesetzes. Und jetzt, nachdem er den großen Gunfight verloren hatte, war er auch noch zum Pferdedieb geworden!

Jessica Flanders blickte nachdenklich vor sich hin. Sie sah nicht die kleine schwarze Katze, die sich behaglich vor ihren Füßen in der Sonne räkelte. Sie sah überhaupt nichts mehr.

Der Marshal ist drüben im Sheriffs Office, ich muß es ihm sagen! hämmerte es im Hirn des Mädchens.

Aber kann ich einen Mann verraten, den ich einmal zu lieben glaubte?

Verraten? War es denn Verrat, einen Pferdedieb aufzuhalten? Hatte dieser Mann nicht auch sie verraten? Hatte er ihre Freundschaft nicht nur deshalb gesucht, weil er ihr Geld haben wollte, weil er bei ihr, die ein geselliges Haus führte, Leute kennenlernen wollte, durch die er zu Geld kam, und zwar zu Revolvergeld?!

Zorn stieg in der Brust der Frau auf.

Und plötzlich glaubte sie eine schnarrende, heisere Stimme sagen zu hören: »Es gibt kein schlimmeres Raubtier, als eine liebende Frau, die sich betrogen fühlt.«

So hatte Hanc Bellantine selbst gesagt. Der Mann, der mit den Pferden der beiden Männer aus Dodge City jetzt längst den Stadtrand hinter sich gebracht haben mußte. Er hatte diese Worte gesagt, und jetzt erst vermochte sie ihren Sinn voll zu begreifen. Schon damals also hatte er gewußt, daß er sie eines Tages sitzen lassen werde, weil ihm sein wildes Leben mit dem Revolver wichtiger war. Er hatte sie gar nicht geliebt, sondern es nur auf ihr Geld abgesehen. Und jetzt, wo alles schiefgegangen war, floh er mit den Pferden des berühmten Gesetzesmannes Wyatt Earp und des Doc Holliday!

Jessica Flanders stieß sich von der Pforte ab, ging langsam mit gesenktem Kopf auf den Hof, überquerte die Mainstreet und hielt auf das Sheriffs Office zu.

*

Wyatt Earp rannte nach Empfang der Hiobsbotschaft mit weiten Sätzen vom Vorbau über die Straße auf den Mietstall zu. Doc Holliday folgte ihm nur sehr langsam.

Der Missourier hatte die Stalltür aufgerissen und starrte auf die leeren Boxen. Langsam wandte er sich um, kam in den Hof zurück und sah den Spieler zwischen den Türpfosten stehen.

»Sie sind tatsächlich weg.«

»Natürlich«, entgegnete Holliday, während er sein goldenes Etui aus der Tasche nahm, es aufspringen ließ und feststellte, daß es noch immer leer war. »Zounds, ich muß mir irgendwo Zigaretten besorgen.«

Der Marshal hatte ihn erreicht und blieb neben ihm stehen.

»Was jetzt? Wo sollen wir hier in diesem Nest so schnelle Gäule herbekommen, daß wir unsere eigenen Pferde einholen können?«

»Das frage ich mich auch«, versetzte der Spieler. »Wir haben leider nicht Zeit genug, zur Morland-Ranch hinauszureiten, um uns dort welche zu leihen.«

Das war nun nicht so, daß man eine kleine Leihgebühr für das Pferd zu entrichten hatte. Das wurde im Westen andres gehandhabt. Wer sich ein Pferd lieh, mußte dafür den Preis bezahlen, den es etwa wert war. Wenn man das Tier zurückbrachte, dann wurde von dieser Summe eine Leihgebühr abgezogen, das übrige zurückgezahlt. Wenn jemand, wie es nicht selten vorkam, das Pferd nicht zurückbringen konnte, hatte er es mit dem Mietpreis gewissermaßen bezahlt. Es brauchte ja nicht immer Böswilligkeit zu sein, wenn ein ›Mieter‹ sein Pferd nicht mehr zurückbrachte; Wyatt Earp und Doc Holliday sollten jetzt auch in die Lage kommen, daß sie diese Pferde nicht mehr zurückbringen konnten.

Doc Holliday bekam einen braunen Wallach und der Marshal einen hellen Fuchs. Ebenso wie die Pferde waren auch die Sättel nicht gerade besonders gut.

Wyatt wußte, in welcher Gasse Jessica Flanders den Schießer beobachtet hatte, ritt in ihr entlang und dann durch eine breite Querstraße an das Nordende der Stadt, wo die Straße nach Nordwesten führte.

Die Gefährten blieben eine Weile auf der Straße. Nach etwa zwei Meilen kam ihnen ein Fuhrwerk entgegen. Auf dem Kutschbock saß eine hagere Frau mit faltigem Gesicht und müden Augen. Es war eine Tradersfrau, die in der Umgebung Töpfe und dergleichen verkaufte, seit ihr Mann wegen eines Rückenleidens die Fahrerei hatte aufgeben müssen.

Wyatt erkundigte sich bei ihr nach dem Reiter mit einem zweiten Pferd an der Leine.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Nein, wenn er auf der Straße nach Pullman gewesen wäre, müßte ich ihn gesehen haben.«

Die beiden machten sofort kehrt und ritten an den Stadtrand zurück.

»Er wird doch nicht nach Cherry geritten sein?« meinte der Marshal.

»Weshalb nicht? Für ihn spielt es doch keine Rolle, wohin er unsere Gäule schleppt.«

Auf den zehn Meilen, die Prentice und Cherry voneinander trennten, kamen die beiden Westmänner mit den Tieren, die sie in Prentice gemietet hatten, nicht gerade schnell vom Fleck. Sie brauchten für diese verhältnismäßig kurze Strecke mehr als die doppelte Zeit, die sie mit ihren eigenen Pferden benötigt hätten.

Endlich tauchten die Häuser der Stadt vor ihnen auf. Prentice war etwas kleiner als Cherry, wirkte aber sauberer, vielleicht weil es noch nicht ganz so alt war.

Der Sheriff, den der Marshal sofort aufsuchte, erklärte, daß er den Reiter nicht gesehen habe. Aber er ging sofort mit Wyatt Earp an den Ortsausgang zu einem Schäfer, der dort – verpönt wie alle Schäfer im Westen – etwas abseits von den anderen Häusern lebte, um sich bei ihm nach dem Reiter und dem zweiten Pferd zu erkundigen.

Aber auch der Schäfer hatte ihn nicht gesehen.

Inzwischen hatte sich Doc Holliday am anderen Ende der Stadt erkundigt und von einem Jungen erfahren, daß ein Mann auf einem schwarzen Pferd und mit einem Rauchfuchs an der Zügelleine nach Südwesten aus der Stadt geritten wäre.

»Dann muß er den Midway genommen haben«, erklärte der Sheriff. »Das hat er ganz raffiniert gemacht, denn das ist eine ziemlich einsame Straße.«

Es war gar nicht sehr einfach, in dem unübersichtlichen Gelände des mittleren Nebraska die Spur des Banditen zu finden. Der Boden war hier von trockenem Steppengras bezogen und nicht selten sogar steinig, so daß sich ein Hufabdruck kaum je hielt. Dennoch fand der große Fährtenleser aus Dodge City die Spur Bellantines.

Die beiden, die noch in Cherry gehofft hatten, den Mann in unmittelbarer Nähe der Stadt stellen zu können, mußten diesen Traum bald begraben. Es stellte sich heraus, daß Hanc Bellantine südwestwärts auf die große Eisenbahnlinie Seneca-Alliance zugeritten war.

Das Cherry-County war so einsam, daß sie auf einer Strecke von dreißig Meilen keinem einzigen Reiter oder Wagen begegneten. Die Fährte verlor sich immer wieder, aber Wyatt Earp blieb auf geradem Kurs nach Südwesten, traf ab und zu die Spur und wußte bald, daß Bellantine südöstlich am Crump Lake vorbei geritten war und nun auf die Bahnlinie zuhielt.

»Wenn er in dieser Richtung bleibt, kommen wir nach Hyannis.«

Der Georgier nickte. »Wenn wir da ankommen, ist die Sonne längst untergegangen.«

Nicht nur die Sonne war untergegangen, das Licht des Tages hatte längst dem Dunkel der Nacht Platz gemacht, als sie in der Ferne die Häuser von Hyannis schattenhaft vor sich auftauchen sahen.

Wieder lagen einundvierzig Meilen hinter ihnen. Mit den zehn Meilen, die sie von Prentice nach Cherry geritten waren, hatten sie heute einundfünfzig Meilen zurückgelegt. Normalerweise war das keine bedeutende Strecke für die beiden zähen Reiter, aber für die beiden Mietpferde war es hart und anstrengend.

»Wollen hoffen, daß wir den Burschen hier finden«, meinte der Marshal, als sie in die dunklen Straßen einritten.