Kurfürstenklinik – 75 – Eine Diva vor dem Ende?

Kurfürstenklinik
– 75–

Eine Diva vor dem Ende?

Ihre schlimmsten Ahnungen scheinen sich zu bestätigen

Nina Kayser-Darius

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-826-1

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»Ich habe gelesen, daß Sie im Augenblick richtig prominente Gäste haben, Frau Wagner«, sagte Dr. Adrian Winter. Er trank an seinem freien Samstag Morgen in der Bar des eleganten Hotels King’s Palace in Berlin-Charlottenburg einen erstklassigen Kaffee – in Gesellschaft von Stefanie Wagner, der Assistentin des Hoteldirektors.

»Was heißt hier: Im Augenblick?« erkundigte sich Stefanie mit gespielter Empörung und strich sich mit einer raschen Bewegung die blonden Locken aus dem Gesicht. »Wir haben fast immer einige Prominente zu Gast, Herr Winter, nicht nur im Augenblick.«

»Natürlich«, erwiderte er lächelnd, »wie konnte ich das nur vergessen? Schließlich arbeiten Sie ja im ersten Haus am Platze.«

Sie lächelte auch. Adrian und sie kannten einander schon recht lange – allerdings sahen sie sich zu ihrem größten Leidwesen nicht besonders häufig. Zwar war sie sicher, daß der attraktive Arzt, der die Notaufnahme der nahe gelegenen Kurfürsten-Klinik leitete, sie sehr gern hatte, doch leider sagte er ihr das nie. Und er machte auch sonst keinerlei Annäherungsversuche. Warum das so war, wußte sie nicht. Sie hätte ihn gern gefragt, aber das erschien ihr denn doch zu kühn. Was hätte sie schon sagen können? »Gefalle ich Ihnen nicht – oder sind Sie immer so schüchtern?« Nein, das war nicht ihr Stil. Und gewollt witzig war in diesem Fall auch nicht das Richtige. Sie konnte einfach nur weiterhin hoffen, daß er seine Schüchternheit – falls diese überhaupt für seine Zurückhaltung verantwortlich war – eines Tages überwand.

»Eben!« erwiderte sie jetzt auf seine Bemerkung hin. »Und darauf bin auch ich sehr stolz, Herr Winter!« Er hatte sie einmal gebeten, den ›Doktor‹ wegzulassen, wenn sie sich unterhielten, und das tat sie nun auch. Es klang weniger offiziell, wenn auch noch immer nicht so privat, wie sie es gern gehabt hätte…

Adrian nickte. Er wußte längst, daß Stefanie Wagner zwar eigentlich ›nur‹ die Assistentin des Direktors war, in Wirklichkeit von den Angestellten des Hauses jedoch als heimliche Chefin angesehen wurde, da sie mindestens für zwei arbeitete und immer ansprechbar war, wenn es irgendwo ein Problem gab. Das konnte man von Direktor Wingensiefen wohl nicht behaupten, der sich zwar immer gern in der Öffentlichkeit feiern ließ, aber unangenehme und mühsame Arbeiten lieber seinen Angestellten überließ.

Stefanie war meistens sogar froh darüber, denn so hatte sie mehr Freiheit. Einen Chef, der ihr dauernd sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte, konnte sie nicht gebrauchen. Sie liebte ihre Arbeit und erledigte sie gern so, wie sie selbst es für richtig hielt.

Jetzt beugte sie sich ein wenig vor und raunte Adrian mit gedämpfter Stimme zu: »Einer von den Prominenten kommt übrigens gerade zur Tür herein! Es ist der Regisseur des Films – David Bruckner.«

In Berlin fanden gerade Dreharbeiten zu einem großen internationalen Spielfilm statt, in dem Charlotta Sibelius die Hauptrolle spielte. Das war eine richtige Sensation, denn sie hatte einige berühmte Schauspielerinnen aus Hollywood ausgestochen, die die Rolle auch gern gehabt hätten. Charlotta Sebelius galt als einer der wenigen deutschen Weltstars – und auch sie wohnte selbstverständlich im King’s Palace.

Man hatte ihr in der Presse respektvoll den Beinamen ›die Diva‹ gegeben, was nicht heißen sollte, daß sie launisch war – denn das war sie nicht. Aber wo immer sie auch erschien, nahm man nur noch sie wahr, so groß war ihre Ausstrahlung, auch wenn sie oft genug versuchte, sich unsichtbar zu machen. Es gelang ihr nie. Und deshalb war sie eben ›die Diva‹.

Der Regisseur David Bruckner, der nun die Bar betrat, war Amerikaner. Er hatte bereits zwei Filme mit Charlotta gedreht, die beide Welterfolge geworden waren. David Bruckner lobte die Wandlungsfähigkeit der deutschen Schauspielerin in jedem seiner zahlreichen Interviews. Er war ein großer, massiger Mann von zweiundsechzig Jahren mit einem völlig kahlen Schädel und einem gutmütigen Gesicht, in dem vor allem die vergnügt hinter dicken Brillengläsern funkelnden Augen auffielen.

»Ich habe schon Fotos von ihm gesehen«, sagte Adrian, ebenfalls leiser als zuvor. »Er macht einen ziemlich netten Eindruck – ich dachte immer, Prominente müßten sich ständig aufspielen. Aber er sieht aus wie ein normaler Mensch.«

»Das ist er auch«, erwiderte Stefanie voller Überzeugung. »Ganz reizend ist er. Und er spricht fließend deutsch. Ich glaube, er hatte eine deutsche Großmutter.«

Der Regisseur bemerkte Stefanie und winkte ihr unbefangen zu. Sie winkte zurück.

Im selben Augenblick wurde die Tür der Bar aufgestoßen, ein etwa achtjähriger Junge kam hereingestürzt und schrie aufgeregt: »Papa, Papa!« ohne freilich auf den Weg zu achten. So rannte er mit großem Schwung in einen der Kellner, der gerade ein voll beladenes Tablett von der Theke zu den Tischen balancierte und sich in unmittelbarer Nähe von David Bruckner befand. Er versuchte, das Unglück noch abzuwenden, doch es gelang ihm nicht: Das Tablett kippte und fiel. Der heiße Inhalt verschiedner Tassen und Kännchen ergoß sich auf Arme und Brust von David Bruckner, der daraufhin einen lauten Schrei ausstieß, während er zugleich versuchte, sich die nun kochendheiße Kleidung vom Leib zu reißen. Auch der Junge bekam von der heißen Flüssigkeit noch einige Spritzer ab.

Das Durcheinander, das nun entstand, war unbeschreiblich. Der Junge weinte vor Schmerz, vor allem aber wohl vor Schreck und Bestürzung über das, was er angerichtet hatte. Der Kellner schimpfte, einige Gäste schrien – nur Stefanie und Adrian behielten bei alledem die Nerven und auch die Übersicht. Blitzschnell hatten sie sich jeder zwei Flaschen Mineralwasser geschnappt. Adrian leerte seine über dem Jungen, Stefanie schüttete ihr Wasser über David Bruckner aus.

»Oh!« sagte der Regisseur und hörte sofort mit seinen Versuchen auf, sich mit allerlei Verrenkungen seiner heißen Jacke zu entledigen. »Danke, meine Liebe!«

Der Junge jammerte noch immer leise, aber er beruhigte sich allmählich, wenn er auch den Schrecken offensichtlich noch keineswegs überwunden hatte. Adrian sah sich seinen Arm an, auf den der Kaffee gespritzt war, aber der Kleine hatte Glück gehabt. Die Haut war ein wenig gerötet, das war alles. »Wie heißt du?« fragte Adrian.

»Paul. Wo ist mein Papa?«

»Ich weiß es nicht, Paul. Wir sollten ein wenig Salbe auf deinen Arm auftragen – danach tut es bestimmt nicht mehr weh.«

Der Junge nickte schweigend. Auch sonst trat nun auf einmal Stille ein. Alle sahen einander an. Und dann begann David Bruckner aus vollem Halse zu lachen. Er stand da, in der Mitte der eleganten Bar, in einem Chaos aus Scherben und überall verspritztem Kaffee, mit braungeflecktem Hemd und ebensolchem Sakko, er hatte mit Sicherheit Schmerzen von dem brühheißen Kaffee, der sich über ihn ergossen hatte – aber trotzdem lachte er.

Es dauerte nicht lange, bis die Umstehenden einstimmten. Es war ein Unglück gewesen, sicher – aber es war nichts Schlimmes passiert und das Bild, das sich nun bot, war einfach zu komisch.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, sagte Adrian: »Lassen Sie sich bitte von mir untersuchen, Herr Bruckner – ich bin Arzt. Mein Name ist Winter. Dr. Adrian Winter.«

»Untersuchen?« fragte David Bruckner. »Mir fehlt doch nichts!«

»Sie werden Brandwunden haben – allerdings hoffe ich, daß das Wasser von Frau Wagner das Schlimmste verhindert hat.«

Der andere hielt Adrian eine kräftige Riesenpranke hin. »David Bruckner, angenehm, Doktor. Na, wenn Sie meinen, daß es nötig ist, dann machen wir das mit der Untersuchung. Sollen wir in mein Zimmer gehen?« Er grinste. »Obwohl natürlich alle Anwesenden begeistert wären, wenn ich jetzt hier einen Striptease hinlegen würde.«

Adrian lächelte. Der Regisseur benahm sich wirklich wie ein ganz normaler Mann. Wie überaus sympathisch!

Stefanie war unterdessen an der Hausapotheke gewesen und überreichte Adrian ein recht umfangreiches Paket: »Brandsalbe und Verbände«, sagte sie. »Können Sie das gebrauchen?«

»Mit Sicherheit«, sagte Adrian und verarztete zuerst den geröteten Arm des Jungen. Dann sagte er: »So, Paul, nun hilft dir Frau Wagner bestimmt, deinen Papa zu suchen.«

»Klar mache ich das«, sagte Stefanie. »Komm, Paul, wir rufen gleich mal bei euch auf dem Zimmer an. Dein Papa war gar nicht hier in der Bar.« Sie wandte sich noch einmal an Adrian: »Ist sein Arm in Ordnung?«

»Ich denke schon, es waren nur ein paar Spritzer, die er abbekommen hat. Der Schrecken war wohl größer als die Verletzung. Bei Herrn Bruckner allerdings bin ich nicht so sicher. Kommen Sie, Herr Bruckner, je eher wir Ihre Wunden behandeln, desto besser. Bis später, Frau Wagner.«

»Bis später«, sagte Stefanie. Mit Paul an der Hand ging sie zum Telefon, während die anderen Angestellten bereits damit begannen, die Bar wieder in ihren üblichen gepflegten Zustand zurückzuversetzen.

*

»Und Sie schreiben ausschließlich Gedichte?« fragte Charlotta Sebelius. »Haben Sie nie daran gedacht, auch einmal einen Roman zu schreiben?« Sie stand an diesem Samstag Morgen mit Peter Falkenberg auf der Dachterrasse des King’s Palace, die berühmt für ihren großartigen Ausblick über Berlin war. Es war ein schöner Tag mit klarem Wetter: Die Sonne schien, kein Wölkchen trübte den blauen Himmel.

Die berühmte Schauspielerin und der junge, noch unbekannte Dichter hatten sich auf dieser Dachterrasse kennengelernt: Peter konnte es sich nicht leisten, in einem Luxushotel zu wohnen – außerdem war er Berliner, seine kleine Wohnung lag ganz in der Nähe. Aber er liebte den Blick von hier oben und kam deshalb öfter hierher. Um diese Jahreszeit und während des Vormittags hatte man die Dachterrasse des King’s Palace noch recht häufig für sich allein, die meisten Gäste zogen es vor, im dahinter liegenden Café zu sitzen, denn auch von dort war der Ausblick schön.

Irgendwann vor ein paar Wochen war Peter eines Abends gekommen und hatte die Terrasse nicht für sich allein gehabt. Charlotta hatte da gestanden, wo er sonst immer stand. Sie waren schnell miteinander ins Gespräch gekommen – seitdem trafen sie sich oft hier oben, ohne daß die Pressefotografen sie belästigten. Charlotta zumindest wußte ganz genau, daß sie das der überaus tüchtigen Stefanie Wagner zu verdanken hatten, die es irgendwie schaffte, gute Beziehungen zur Presse zu pflegen und die Privatsphäre ihrer Gäste dennoch zu schützen.

Zuerst war Peter befangen gewesen Charlotta gegenüber, doch das hatte sich bald gelegt. Sie war ein Weltstar, aber sie benahm sich nicht wie einer. Sie unterhielt sich gern mit ihm, und sie war aufrichtig an seiner Arbeit interessiert. Es dauerte nicht lange, bis er hoffnungslos verliebt in sie war. Als er sie jetzt betrachtete, stellte er wieder einmal fest, daß er sie in Wirklichkeit noch schöner fand als auf der Leinwand. Ihr Gesicht wurde geprägt durch ihre Augen und den ausdrucksvollen Mund. Die Haare waren blond und dicht, im Augenblick fielen sie ihr locker und natürlich auf die Schultern. Am liebsten hätte er sie immer angesehen, doch vermutete er, daß ihr das bald auf die Nerven gegangen wäre. Schließlich wurde sie ohnehin ständig angestarrt, wenn sie irgendwo erschien.