Der Bergpfarrer – 193 – Jahre voller Sehnsucht

Der Bergpfarrer
– 193–

Jahre voller Sehnsucht

Diesmal halten wir das Glück mit beiden Händen fest

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-827-8

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»Hm, das hat mal wieder ganz hervorragend geschmeckt!«, schwärmte Max Trenker, legte Messer und Gabel ab, lehnte sich im Stuhl zurück und rieb sich den Bauch.

Sein Bruder nickte. Die zwei Männer saßen in der Küche des Pfarrhauses zusammen und hatten sich die gekochte Ochsenbrust schmecken lassen, die Sophie Tappert, die Haushälterin des Pfarrers, zubereitet hatte. Dazu waren Petersilienkartoffeln und eine köstliche Meerrettichsoße gereicht worden.

»Ja, Frau Tappert hat sich mal wieder selbst übertroffen.« Auch Sebastian legte sein Besteck zur Seite, und sogleich begann Sophie Tappert abzuräumen, während die beiden Männer sich erhoben und die Küche verließen, jedoch nicht ohne die Haushälterin zuvor noch mit reichlich Lob und Dank für die schmackhafte Mahlzeit zu überschütten.

»Gibt’s eigentlich schon etwas Neues vom Andreas?«, erkundigte Sebastian sich, während er seinen Bruder, der wieder zur Arbeit musste, nach draußen begleitete.

Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. »Die Versicherung behauptet, dass er den Brand selbst gelegt hat, um das Geld zu kassieren, und deshalb­ zahlt s’ natürlich keinen Cent.«

Die Rede war vom Andreas Lessing. Der Bauer, der in der Nähe seinen Hof unterhielt, war eines Nachts wach geworden und hatte Stall und Scheune lichterloh in Flammen stehen sehen. Der finanzielle Schaden war beträchtlich, und nun gab es die Probleme mit der Versicherung, weil die einen Betrug witterte.

»So viel weiß ich auch«, sagte Sebastian. »Die Frage ist nur, wie’s jetzt weitergeht.«

»Es werden Ermittlungen angestellt, und wenn s’ sich bewahrheiten, kommt auf den Andreas natürlich eine Strafanzeige zu. Aber dazu muss erstmal einwandfrei bewiesen werden, dass er auch wirklich der Täter ist. Und das dürft’ net allzu einfach werden. Andererseits wird die Versicherung weiterhin keinen noch so kleinen Betrag zahlen, solange auch nur der Hauch eines Verdachtes gegen den Versicherungsnehmer besteht. In dieser Hinsicht kennen die kein Entgegenkommen.«

Die beiden Männer verließen das Pfarrhaus und gingen den Kiesweg hinunter. »Aber glaubst du denn wirklich an die Geschichte der Versicherung?«, fragte Sebastian und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das net vorstellen. Ich kenn den Andreas jetzt schon so lang. Er hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und hat stets hart für sein Geld gearbeitet. Geschenkt worden ist dem nie was. Und denk mal dran, wie verzweifelt er nach dem Brand war. Das kann doch unmöglich alles gespielt gewesen sein. Nein, nein, das kann ich mir einfach net vorstellen.«

»Ich ja auch nicht«, räumte der Max ein. »Aber das ist halt nur meine persönliche Meinung. Sicher sein kann man sich da nie. Ich hab’ schon Dinge erlebt …« Er sah seinen Bruder an. »Aber lassen wir das, ich muss jetzt wirklich los. Auf der Arbeit ist mal wieder einiges liegen geblieben. Zwei Kollegen sind krank, da wird jede freie Hand gebraucht.«

Die Brüder verabschiedeten sich, und Sebastian blieb noch einen Moment nachdenklich an der frischen Luft stehen. Sehnsüchtig blickte er zur Straße, die aus dem Dorf führte. Dabei dachte er daran, dass er schon lange keine Bergtour mehr unternommen hatte.

Seit frühester Jugend war er in den Bergen unterwegs, und auch als Bergführer hatte er schon gearbeitet. Das war während des Studiums gewesen. Kaum jemand kannte sich droben in den Bergen so gut aus wie er, und aus diesem Grund hatten die Leute ihm den Spitznamen »Bergpfarrer« gegeben.

Seufzend drehte er sich um und kehrte zum Pfarrhaus zurück. Immer wieder musste er an den Lessing-Andreas denken, und er wurde das Gefühl nicht los, dass in diesem Fall seine Hilfe noch gebraucht wurde und eine neue Bergtour somit noch warten musste.

*

Leonie Wieshofer atmete auf, als sie die Ortsgrenze von St. Johann passierte. Sie stoppte ihren Wagen, schaltete den Motor aus und blickte aus dem Fenster.

Ein wehmütiges Lächeln umspielte die feinen Lippen der Frau, die vor einigen Wochen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Lange war es her, seit sie den Ort verlassen hatte, und doch waren die Erinnerungen an die Zeit ihres Lebens, die sie hier verbracht hatte, nie verblasst.

Das war kein Wunder, immerhin war sie in diesem kleinen liebenswerten Dorf aufgewachsen, und seine Kindheit und Jugend vergaß man schließlich nie. Aber auch die Jahre danach hatte sie hier verbracht, bevor sie eines Tages den Entschluss gefasst hatte, fortzugehen und in der Großstadt einen Neuanfang zu wagen.

Bei dem Gedanken daran huschte ein dunkler Zug über ihr makelloses Gesicht.

Es waren die Träume einer großen Karriere gewesen, die sie in die Fremde geführt hatten, und was das anging, hatten sich all ihre Träume auch erfüllt. Ja, Leonie hatte alles geschafft, was sie sich vorgenommen hatte: Beruflich sehr erfolgreich und dadurch entsprechend wohlhabend, lebte sie nun ein Leben im Luxus. Doch glücklich war sie dennoch nicht, denn für den Erfolg hatte sie etwas aufgegeben, was wirklich wichtig im Leben war.

Das war auch der Grund, weshalb sie nun in ihre Heimat zurückkehrte. Sie musste sich über einiges klar werden. Darüber, was Glück wirklich bedeutete.

Denn sie war sich da überhaupt nicht mehr sicher.

Automatisch wanderten ihre Gedanken zu einem Mann, an den sie beinahe jeden Tag in den letzten fünfzehn Jahren gedacht hatte, ohne ihn jemals wiedergesehen zu haben.

Ob der Andreas mich überhaupt wiedererkennt? fragte sie sich. Ich weiß ja gar nix über ihn. Vielleicht will er mich ja auch gar net wiedersehen. Womöglich ist er längst verheiratet und hat einen ganzen Stall voller Kinder.

Bei dem Gedanken daran legte sich erneut ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Sie ließ den Motor wieder an und fuhr weiter. Ihr Ziel war eine kleine Pension, von der sie gar nicht wusste, ob es sie überhaupt noch gab. Falls nicht, würde sie sich anderweitig umschauen müssen, denn das Wichtigste war, dass sie zunächst eine Unterkunft fand.

Als sie damals St. Johann verließ, war Leonie gerade einmal Anfang Zwanzig gewesen. Ein Jahr zuvor waren ihre Eltern, die eben diese Pension geführt hatten, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Andere Verwandte hatte Leonie nicht mehr, und zu jener Zeit hatte sie sich zu fragen begonnen, ob es wirklich dieses Leben hier war, das sie sich für ihre Zukunft vorstellte.

Einige Monate später hatte sie die Pension verkauft und war mit dem Kapital nach München gegangen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.

Dafür hatte sie alles hinter sich gelassen – und das Herz eines Mannes gebrochen.

Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn in dem Moment erreichte sie die Pension, die also immer noch existierte. Unwillkürlich fragte Leonie sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie das Gästehaus nicht verkauft, sondern weitergeführt hätte.

Seufzend stellte sie ihren Wagen vor dem Gebäude ab und stieg aus. Vor der Tür des Hauses verharrte sie einen Moment, wie um sich auf das, was nun folgte, innerlich vorzubereiten. Und in gewisser Weise traf es das auch sehr gut, denn Leonie war klar, dass das Betreten der Pension einer Rückkehr in die Vergangenheit gleichkam.

Noch einmal atmete sie tief durch, dann öffnete sie die Tür.

*

Das Lied, das aus dem Autoradio erklang, war fröhlich und animierte zum Mitsingen, doch Andreas Lessing nahm es kaum wahr. Mit den Gedanken war er ganz woanders, und ihm stand auch nicht der Sinn nach Fröhlichkeit.

Stattdessen drohte die Verzweiflung ihn zu übermannen, und das nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen.

Seit der verhängnisvollen Nacht, in der ein Brand fast alles zerstört hatte, wofür er in den letzten Jahren gelebt und schwer gearbeitet hatte, stellte sich ihm immer wieder die Frage, wie es nun weitergehen sollte.

Er kam gerade aus der Stadt, wo er noch einmal mit der Versicherung gesprochen und ihr seine Lage geschildert hatte. Und die sah alles andere als rosig aus: Ohne das Geld der Versicherung war er aufgeschmissen. Das Vieh, das er vor den Flammen hatte retten können, war vorübergehend in einem anderen Teil seines Hofs untergebracht, aber dies konnte keine Lösung auf Dauer sein. Außerdem mussten Geräte neu angeschafft werden, die bei dem Brand zerstört worden waren, und auch der Neuaufbau der Scheune konnte nicht ewig warten.

Für all das brauchte Andreas Geld, denn erst, wenn alles wieder aufgebaut und ersetzt war, konnte das Leben auf dem Hof wie gewohnt weitergehen. Und das musste es, wollte Andreas seinen Lebensunterhalt weitersichern.

Wütend hieb er mit der Faust aufs Lenkrad. All die Jahre über hatte er jeden Monat stets pünktlich die hohen Versicherungsbeiträge bezahlt, und jetzt, wo er auf die

Leistung der Versicherung angewiesen war, weigerte man sich dort, ihm zu helfen!

Die Feuerwehr hatte festgestellt, dass der Brand vorsätzlich gelegt worden war, und nun glaubte die Versicherung, dass er der Täter war. Angeblich hatte er selbst den Brand gelegt, um sich die Versicherungsleistung zu erschleichen – so ein Unsinn!

Andreas fand es ungeheuerlich, dass man ihn verdächtigte, etwas Derartiges getan zu haben. Zeit seines Lebens war er ein ehrlicher, rechtschaffender Mann gewesen, der sich jeden Cent durch eigene Hände Arbeit schwer verdient hatte.

Überhaupt fragte er sich, ob der Feuerwehr da nicht ein Fehler unterlaufen war. Brandstifter hatten in der Gegend seit er denken konnte nicht ihr Unwesen getrieben, und wer sollte auch ein Interesse daran haben, ausgerechnet seinen kleinen Hof niederzubrennen? Schließlich hatte er keine Feinde, kam mit allen gut zurecht und …

Andreas stockte. Oder sollte vielleicht …?

Nein! Er schüttelte den Kopf. Das konnte er sich absolut nicht vorstellen. Zu derartigen Mitteln griff doch heute niemand mehr, der …

Ein lautes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken zuckte Andreas zusammen. Ohne dass er es bemerkt hatte, war die Ampel, an der er eben gehalten hatte, von rot auf grün umgesprungen, und ein offenbar recht ungeduldiger Autofahrer hinter ihm hatte ihn nun durch lautes Hupen darauf aufmerksam gemacht.

Andreas nickte kurz in den Rückspiegel und fuhr weiter, lenkte seinen Wagen jedoch nach ein paar Metern rechts an den Straßenrand und stoppte.

Er brauchte jetzt einfach einen Moment, um in Ruhe nachzudenken. Er befand sich inzwischen wieder in St. Johann und überlegte, ob er kurz zum Pfarrhaus gehen sollte, um Sebastian Trenker einen Besuch abzustatten. Vielleicht wusste der Bergpfarrer ja einen Rat, was der Andreas in dieser verzwickten Lage noch unternehmen konnte. Andererseits hatte er keine Ahnung, ob der Sebastian Trenker überhaupt …

Erstaunt blickte Andreas auf, als er aus der Pension am Ende der Straße eine Frau treten sah.

Sie war schlank, gut gekleidet, hatte blondes, gelocktes Haar, und obwohl Andreas ihr Gesicht nur für den Bruchteil einer Sekunde sehen konnte, weil sie nun in einen Wagen stieg, erkannte er die Frau doch sofort.

Leonie …

Zumindest glaubte Andreas das im ersten Moment, aber nach kurzem Nachdenken schüttelte er den Kopf.

Nein, das konnte sie unmöglich sein. Was sollte sie hier in St. Johann wollen? Nach so langer Zeit?

Hatte er sich also getäuscht? Wahrscheinlich schon, schließlich hatte er ihr Gesicht auch nur ganz kurz gesehen.

Und doch war ihm sofort die Leonie in den Sinn gekommen. Was, wenn er sich doch nicht getäuscht hatte?

Mit einem Kopfschütteln zwang er sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Seinen Gedanken, bei Pfarrer Trenker vorbeizuschauen, zerschlug er wieder. Dafür war jetzt nicht der richtige Moment. Andreas wollte jetzt nur noch eines: Zurück zu seinem Hof, um dort in aller Ruhe über seine Zukunft nachzudenken.

*

Als Leonie vorhin die Pension betreten hatte, war es ihr wie eine Reise in die Vergangenheit vorgekommen. Einiges hatte sich hier verändert, vieles aber erinnerte sie noch an die Zeit, als ihre Eltern dort Fremdenzimmer vermietet hatten.

Die jetzigen Inhaber kannte sie nicht. Es waren nicht mehr die, denen sie die Pension verkauft hatte, sondern jüngere Leute, die aber auch sehr nett zu sein schienen. Leonie hatte ein Zimmer für unbestimmte Zeit gemietet und auch gleich ihr Gepäck ins Haus gebracht.

Dann war sie wieder in ihren Wagen gestiegen und davongefahren.

Jetzt, nicht einmal zehn Minuten später, erreichte sie den Lessing-Hof, der sich gleich hinter der Ortsgrenze befand und den sie trotz der langen Zeit, die sie nicht mehr hier gewesen war, problemlos gefunden hatte.